Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.02.1995, Az.: 1 TaBV 113/94

Anrufung der Einigungsstelle durch den Unternehmer; Beschwerde des Betriebsrats; Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung ; Einigung über den Sozialplan; Weigerung des Betriebsrats, mit dem Arbeitgeber zu verhandeln; Gerichtliche Bestellung der Einigungsstelle

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
23.02.1995
Aktenzeichen
1 TaBV 113/94
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1995, 16626
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1995:0223.1TABV113.94.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hannover - 08.11.1994 - AZ: 10 BV 18/94

In dem Rechtsstreit
hat die 1. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
aufgrund der Anhörung am 23. Februar 1995
durch
den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Dr. Lipke
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Betriebsrats (Bet. zu 2) gegen den Beschluß des Arbeitsgerichts Hannover vom 08. November 1994 - 10 BV 18/94 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht Niedersachsen P. zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle zur Verhandlung eines Interessenausgleichs und zum Abschluß eines Sozialplanes wegen Stillegung des Betriebs ... bestellt wird.

Tatbestand

1

I.

Die Beteiligten streiten, ob eine Einigungsstelle zur Verhandlung eines Interessenausgleichs und zum Abschluß eines Sozialplans zu errichten ist.

2

Die Arbeitgeberin betreibt bundesweit SB-Warenhäuser, u.a. eine Filiale in angemieteten Räumen ... in ... Diese angemieteten Räume sind frühestens zum 31. Dezember 1996 kündbar. Bis dahin besteht auch eine entsprechende Betreiberverpflichtung.

3

Wegen anhaltender Verluste in der Filiale kam es zwischen der Arbeitgeberin (Bet. zu 1) und dem Betriebsrat (Bet. zu 2) am 16. November 1993 zu einer mit "Interessenausgleich und freiwilliger Sozialplan"überschriebenen Vereinbarung. § 6 dieser Vereinbarung bestimmt:

"Die Geschäftsleitung sagt zu, daß bis zum 30.04.1995 ein Personalbestand von rechnerisch 85 Vollzeitbeschäftigten nicht unterschritten wird."

4

Im Jahr 1994 traf die Arbeitgeberin die Planentscheidung, den Betrieb in ... schnellstmöglich vollständig stillzulegen. Darüber wurde der Betriebsrat am 02. August 1994 unterrichtet. Nachdem am 03. August 1994 eine Betriebsversammlung stattgefunden hatte, bat die Arbeitgeberin den Betriebsrat um Aufnahme von Verhandlungen über die anstehende Betriebsänderung und unterbreitete mit Schreiben vom 08. September 1994 Verhandlungsvorschläge zum Abschluß eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans. Die im September und Oktober 1994 angebotenen Verhandlungstermine wies der Betriebsrat zurück; darunter auch den arbeitgeberseitigen Vorschlag vom 05. Oktober 1994, mit Hilfe des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen einen Vermittlungsversuch zu unternehmen.

5

Mit der am 01. November 1994 beim Arbeitsgericht Hannover eingegangenen Antragsschrift vom 31. Oktober 1994 hat die Arbeitgeberin die Errichtung der Einigungsstelle beantragt.

6

Sie hat die Rechtsauffassung vertreten, der Betriebsrat verweigere grundlos die Aufnahme von Verhandlungen.

7

Die Arbeitgeberin hat beantragt,

  1. 1.

    den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Niedersachsen Herrn B., hilfsweise den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Niedersachsen Herrn H., hilfsweise den Richter am Arbeitsgericht Hannover Herrn P., hilfsweise einen vom Gericht zu bestimmenden Richter zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle für die Verhandlung eines Interessenausgleichs und Sozialplans gemäß § 111 ff. BetrVG zu bestellen;

  2. 2.

    die Zahl der von jeder Seite zu benennenden Beisitzer auf zwei, hilfsweise drei Beisitzer festzusetzen.

8

Der Betriebsrat hat beantragt,

die Anträge zurückzuweisen.

9

Er hat die Rechtsmeinung geäußert, aufgrund der Zusage in § 6 der am 16. November 1993 geschlossenen Vereinbarung sei er nicht verpflichtet, sich vor dem 30. April 1995 auf Verhandlungen mit der Arbeitgeberin einzulassen. Er sei nicht bereit, diese Zusage im Verhandlungsweg einvernehmlich zu ändern. Im übrigen fehlten ihm für eine Verhandlung Informationen über die beabsichtigte weitere Nutzung der Betriebsräume. Eine vollständige Einsicht in die§§ 2-5 der vom Hauptmieter,

10

geschlossenen Verträge sei bisher nicht gewährt worden. Die sich aus den Mietverträgen unter Umständen ergebende Möglichkeit eines Betriebsübergangs sei für die Meinungsbildung im Betriebsrat und für die Verhandlungsführung mit der Arbeitgeberin von grundlegender Bedeutung.

11

Das Arbeitsgericht Hannover hat mit Beschluß vom 08. November 1994 dem Antrag stattgegeben und zum Vorsitzenden der Einigungsstelle betreffend die Verhandlung eines Interessenausgleichs und den Abschluß eines Sozialplans wegen Stillegung des Betriebs ... den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Niedersachsen P. hilfsweise für den Fall, daß der bestellte Vorsitzende die Annahme des Amtes schriftlich gegenüber dem Gericht oder den Beteiligten oder einem der Beteiligten ablehnt, den Direktor des Arbeitsgerichts Hannover F., hilfsweise für den Fall, daß auch dieser die Annahme des Amtes wie beschrieben ablehnt, den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Niedersachsen H. und hilfsweise für den Fall, daß auch dieser die Annahme des Amtes ablehnt, den Richter P., Arbeitsgericht Hannover, bestellt. Zugleich hat es die Zahl der noch zu benennenden Beisitzer für jede Seite auf drei festgesetzt. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung wird auf Blatt 38 f. der Akten verwiesen.

12

Gegen den am 10. November 1994 zugestellten erstinstanzlichen Beschluß hat der Betriebsrat am 23. November 1994 Beschwerde eingelegt und diese zugleich begründet.

13

Er hält die vom Arbeitsgericht bestellte Einigungsstelle für offensichtlich unzuständig, da diese nicht in die geltende Betriebsvereinbarung vom 16. November 1993 eingreifen dürfe. Außerdem habe die Arbeitgeberin die vor einem zu verhandelnden Interessenausgleich, ihm gegenüber zu erfüllende umfassende Unterrichtungspflicht zu einer möglichen Fortsetzung des Betriebes durch die Hauptmieterin, ... vernachlässigt. Er habe deshalb - was unstreitig ist - seine diesbezüglichen Unterrichtungsansprüche in einem gesonderten Beschlußverfahren vor dem Arbeitsgericht Hannover - 10 BV 19/94 - eingefordert.

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Er beantragt,

den Beschluß des Arbeitsgerichts Hannover vom 08. November 1994 - 10 BV 18/94 - abzuändern und den Antrag zurückzuweisen.

15

Die Arbeitgeberin beantragt,

die Beschwerde des Betriebsrats zurückzuweisen.

16

Sie trägt vor, es werde eine Schließung des Betriebs zum 30. April 1995 angestrebt. Eine frühere Schließung des Betriebs käme aus ihrer Sicht nur in Abstimmung mit dem Betriebsrat in Betracht. Die unternehmerische Entscheidung, den Betrieb stillzulegen, sei nicht von mietvertraglichen Verpflichtungen abhängig. Im übrigen habe die Vermieterin unterdessen der Beendigung des Mietverhältnisses zum 31. Dezember 1996 zugestimmt. Die Annahme des Betriebsrates, der Betrieb werde durch einen anderen Inhaber fortgesetzt, sei eine reine Spekulation. Insoweit stehe dem Betriebsrat auch kein Mitbestimmungsrecht zu.

17

Was das weitere Vorbringen der Beteiligten angeht, wird auf die Schriftsätze vom 22. November, 16. Dezember 1994, vom 02. Januar, 16. Januar, 25. Januar und 16. Februar 1995 jeweils nebst Anlagen sowie auf das Terminsprotokoll vom 23. Februar 1995 verwiesen.

Gründe

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II.

Die zulässige Beschwerde des Betriebsrates ist nicht begründet.

19

Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Einigungsstelle auf Antrag der Arbeitgeberin errichtet. Der Unternehmer kann die Einigungsstelle anrufen, wenn ein Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung oder eine Einigung über den Sozialplan nicht zustande kommt (§ 112 Abs. 2 Satz 2 BetrVG). Weigert sich der Betriebsrat in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber einzutreten, kann der Arbeitgeber die gerichtliche Bestellung einer Einigungsstelle verlangen, selbst wenn sich der Betriebsrat nicht für ausreichend unterrichtet hält. Die Beschwerde gegen den Beschluß des Arbeitsgerichts Hannover war deshalb zurückzuweisen.

20

1.

Die gerichtliche Bildung der Einigungsstelle gemäß §§ 98 Abs. 1 ArbGG, 76 Abs. 2 BetrVG findet statt, wenn Streit über die Person des Vorsitzenden, die Zahl der Beisitzer oder die Zuständigkeit der Einigungsstelle überhaupt besteht. Ein entsprechender Antrag des Arbeitgebers oder des Betriebsrats kann nur dann zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist (§ 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG).

21

Bevor das gerichtliche Bestellungsverfahren eingeleitet wird, sollen die Betriebspartner aber zunächst einen Einigungsversuch ohne Anrufung der Einigungsstelle unternehmen. Ohne einen solchen Versuch fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf gerichtliche Einsetzung einer Einigungsstelle (vgl. Matthes in Germelmann/Matthes/Prütting ArbGG, 2. Aufl. § 98 Rz. 18).

22

Das Verfahren ist insgesamt darauf angelegt, im Bedarfsfalle bei Auftreten von Meinungsverschiedenheiten möglichst rasch eine Einigungsstelle zur Verfügung zu stellen, die umgehend die Regelungsstreitigkeit löst. Nur so läßt sich die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat (§ 2 Abs. 1 BetrVG) für die Zukunft sichern.

23

2.

Entgegen der Rechtsauffassung der Beschwerde kann die Errichtung der Einigungsstelle nicht daran scheitern, daß der Betriebsrat sich bisher nicht ausreichend über die mietrechtlichen Grundlagen und die damit gegebenenfalls zusammenhängenden Möglichkeiten einer Betriebsübernahme unterrichtet sieht.

24

Zwar steht dem Betriebsrat nach § 111 Satz 1 BetrVG eine rechtzeitige und umfassende Unterrichtungüber die geplante Betriebsänderung zu. Dieser Unterrichtungsanspruch des Betriebsrates hindert den Arbeitgeber indessen nicht, unabhängig vom Stand der Unterrichtung, die Einigungsstelle anzurufen und deren gerichtliche Bestellung zu verlangen. Weder § 111 BetrVG noch§ 98 ArbGG läßt sich entnehmen, daß die gerichtliche Bestellung der Einigungsstelle eine erschöpfende Unterrichtung des Betriebsrats in der beteiligungspflichtigen Angelegenheit voraussetzt.

25

Darüber hinaus übersieht die Beschwerde, daß der Betriebsrat in seiner mit dem Arbeitgeber im September und Oktober 1994 geführten Korrespondenz deutlich zu erkennen gegeben hat, daß er grundsätzlich nicht bereit ist, sich auf Verhandlungen vor dem 30. April 1995 einzulassen. Von daher verhält sich der Betriebsrat widersprüchlich, wenn er zum einen zusätzliche Informationen zur Aufnahme von Verhandlungen verlangt, zum anderen aber eine ein vernehmliche Änderung der am 16. November 1993 zu § 6 getroffenen Vereinbarung vor dem 30. April 1995 endgültig ablehnt.

26

Der verhandlungsunwillige Teil kann es nicht in der Hand haben, das Einigungsstellenverfahren zu blockieren. Das würde das in§ 76 Abs. 5 Satz 1 BetrVG normierte Recht beider Betriebspartner, das Verfahren vor der Einigungsstelle von einer Seite her einzuleiten, lähmen und weitgehend entwerten (LAG Baden-Württemberg 16. Oktober 1991, 12 TaBV 10/91 = LAGE § 98 ArbGG Nr. 21 m.w.N.; LAG Berlin 25. Februar 1987, 1 TaBV 1/87 = AuR 1988, 221; erkennende Kammer 04. Oktober 1993, 1 TaBV 32/93; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither BetrVG 17. Aufl. § 76 Rz. 24 a;§ 74 Rz. 3; Däubler/Kittner/Klebe/Schneider BetrVG 4. Aufl. 1994§ 76 Rz. 52). Soweit sich der Betriebsrat über die mietrechtlichen Grundlagen und die Absichten des Hauptmieters zur weiteren Nutzung der Betriebsflächen nicht ausreichend unterrichtet fühlt, kann dies noch im Einigungsstellenverfahren nachgeholt werden (vgl. LAG Frankfurt am Main 12. November 1991, 4 TaBV 148/91 = LAGE§ 76 BetrVG Nr. 39).

27

3.

Der Beschwerde ist auch nicht zu folgen, soweit sie in der Vereinbarung der Beteiligten vom 16. November 1993 eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle bis zum Ablauf des 30. April 1995 erkennt.

28

a)

Es kann in diesem Zusammenhang offen bleiben, ob mit der Zusage der Arbeitgeberin, bis zum 30. April 1995 in der Filiale ... ein Personalbestand von rechnerisch 85 Vollzeitbeschäftigten nicht zu unterschreiten, eine Regelung im Rahmen des Interessenausgleichs oder des als Betriebsvereinbarung abzuschließenden Sozialplans getroffen worden ist. Im Rahmen eines freiwillig geschlossenen Sozialplans wären Kündigungsverbote oder zeitlich befristete Garantien zu Belegschaftsgrößen wohl zulässig (vgl. BAG 17. September 1991, 1 ABR 23/91 = EzA § 112 BetrVG Nr. 58) und durchsetzbar. Gehört § 6 der Vereinbarung vom 16. November 1993 dagegen zum Interessenausgleich, entstünden bei einem Verstoß gegen diese Abmachung nur Ansprüche der betroffenen Arbeitnehmer nach§ 113 Abs. 1 BetrVG (vgl. dazu Molkenbur/Schulte DB 1995, 269). Sind Interessenausgleich und freiwilliger Sozialplan - wie hier - in einer Vereinbarung zusammengefaßt worden, bestehen daher Zweifel, ob sich der Betriebsrat hinsichtlich der arbeitgeberseitigen Zusage auf eine Betriebsvereinbarung berufen kann.

29

b)

Ungeachtet dessen schränkt die Vereinbarung vom 16. November 1993 nur den Gestaltungsspielraum der Einigungsstelle ein, hindert jedoch nicht ihre Einrichtung. Die Einigungsstelle hat in eigener Kompetenz nicht nur ihre Zuständigkeit zu prüfen, sondern auch die Grenzen ihrer Regelungsbefugnis.

30

Selbst wenn die Einigungsstelle der Auffassung sein sollte, daß eine Stillegung des Betriebes mit Rücksicht auf die arbeitgeberseitige Zusage vom 16. November 1993 nicht vor dem 30. April 1995 greifen darf, kann sie sich bereits vorher konstituieren und Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan für spätere Zeiträume führen.

31

Diese Rechtsauffassung steht im Einklang mit einer neueren Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Danach können die Betriebspartner die Regelungen eines Sozialplans bei Wegfall der Geschäftsgrundlage den veränderten tatsächlichen Umständen anpassen. Verweigert der eine Betriebspartner die Anpassung des Sozialplans, obwohl dem anderen Betriebspartner das Festhalten daran mit dem bisherigen Inhalt nach Treu und Glauben nicht mehr zuzumuten ist, so entscheidet die Einigungsstelle verbindlich (BAG 10. August 1994, 10 ABR 61/93 in DB 1995, 480).

32

Daraus wird deutlich, daß selbst für Dauerregelungen eines Sozialplans Abänderungen mit Hilfe der Einigungsstelle möglich sind. Dies gilt dann um so mehr für die vorliegende befristete Zusage der Arbeitgeberin. Schließlich geht es ihr nur darum, mit dem Betriebsrat bereits vor Ablauf der Zusage Verhandlungen in der Einigungsstelle aufzunehmen. Die Einigungsstelle war daher sofort einzurichten.

33

4.

Die personelle Besetzung der Einigungsstelle ist in zweiter Instanz nicht mehr im Streit. Auf gerichtliche Antrage hat der in erster Instanz an erster Stelle bestellte Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht Niedersachsen P. seine Bereitschaft erklärt, den Einigungsstellenvorsitz zu übernehmen. Deshalb bedurfte es keiner Bestellung von ersatzweise einzusetzenden Vorsitzenden für den Fall seiner Ablehnung, die Einigungsstelle zu führen. Dies war im Beschlußtenor klarzustellen.

34

Gegen diese Entscheidung findet gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 ArbGG kein Rechtsmittel statt.