Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 07.01.2010, Az.: S 22 SO 99/08
Zuständigkeit eines Sozialträgers i.R.d. Erstattung von Aufwendungen für eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit eines Leistungsberechtigten außerhalb des Gebiets des Trägers
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 07.01.2010
- Aktenzeichen
- S 22 SO 99/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 13114
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2010:0107.S22SO99.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 98 Abs. 1 S. 1, 3 SGB XII
- § 98 Abs. 2 SGB XII
- § 98 Abs. 5 S. 1 SGB XII
Tenor:
- 1.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte die Gewährung der Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und zur Eingliederungshilfe nach SGB XII der Leistungsberechtigten F. G. H. ab Rechtskraft des Urteils in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen hat.
- 2.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die zugunsten der Leistungsberechtigten rechtmäßig aufgewendeten Kosten für die Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und zur Eingliederungshilfe nach dem SGB XII vom 16. November 2007 bis zur Übernahme der Hilfeleistung zu erstatten hat.
- 3.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreites.
Tatbestand
Der Kläger erstrebt die Übernahme der Aufwendungen für Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII und der Eingliederungshilfe für F. G. H. und die Feststellung, dass die erbrachten Leistungen ab dem 16. November 2007 zu erstatten sind.
Die 1960 geborene F. H. ist dauerhaft voll erwerbsgemindert, mit einem Grad der Behinderung von 80 schwerbehindert, lebte zunächst im Zuständigkeitsbereich des Klägers und wurde bis Ende Oktober 2006 stationär im I. der J. betreut, wobei Kostenträger der Kläger war. Sie lebt seit dem 01. November 2006 in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft K. in L ... Sie mietete zum 16. November 2007 selbst eine Wohnung von der M. im N. in L. an und wurde weiter ambulant betreut. Sie hat monatlich eine Kaltmiete in Höhe von 164,31 Euro zuzüglich Betriebskostenabschläge von 70,19 Euro und Heizkostenabschläge von 38,98 Euro zu entrichten (Bl. 41 bis 50 der Gerichtsakte).
Die Klägerin beantragte bei der Beklagten die Übernahme der Kosten der ambulanten Betreuung und diese leitete den Antrag an den Kläger weiter, welcher die Kosten vorläufig übernahm.
Mit Schreiben vom 20. Dezember 2007 meldete der Kläger bei der Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch an. Mit Schreiben vom 06. Februar 2008 (Bl. A62 bis 63 der Verwaltungsakte) lehnte diese den Antrag ab, da eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit bestehe, so dass der Kläger weiterhin nach § 98 Absatz 5 SGB XII zuständig sei.
Mit Schreiben vom 10. März 2008 (Bl. 28 bis 29 der Verwaltungsakte der Beklagten) forderte der Kläger Erstattung für Aufwendungen der Grundsicherung ab dem 15. November 2007.
Mit Schreiben vom 17. April 2008 (Bl. 35 bis 36 der Verwaltungsakte der Beklagten) lehnte die Beklagte die Erstattung ab.
Der Kläger hat am 03. Juni 2008 Klage erhoben.
Er trägt vor:
Der Kläger habe gemäß § 102 Absatz 1 SGB X einen Kostenerstattungsanspruch, weil er nicht nach § 98 Absatz 5 SGB XII zuständig sei. Denn die ambulant betreute Wohnmöglichkeit werde nicht vom Betreuungsträger angeboten, sondern die Hilfebedürftige habe die Wohnung selbst angemietet. Die Beklagte sei nach § 98 Absatz 1 SGB XII zuständig. Dem Beschluss des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 21. Juni 2007 - L 13 SO 5/07 ER - sei zu folgen.
Der Kläger beantragt,
- 1.
die Beklagte zu verurteilen, die Gewährung der Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und zur Eingliederungshilfe der F. G. H. ab Rechtskraft des Urteils in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen und 2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die zugunsten der Hilfeempfängerin rechtmäßig aufgewendeten Kosten für die Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und zur Eingliederungshilfe vom 16. November 2007 bis zur Übernahme der Hilfeleistung zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor:
Die Wohnung müsse nicht zwingend vom Betreuungsträger vermietet werden.
Die O. hat auf Anfrage der Kammer mit Schriftsatz vom 25. August 2009 mitgeteilt (Bl. 59 der Gerichtsakte), dass der Umzug auf Initiative der Hilfebedürftigen erfolgt, der Vermieter nicht Teil des Hilfekonzeptes sei und die Betreuung 10 Wochenstunden betrage. Hilfebedarf bestehe in den Zielbereichen adäquater Umgang mit Konflikten, Zubereitung von Mahlzeiten, Steuerung von Gefühlen, Äußerung von Bedürfnissen, Nutzen von Freizeit- bzw. Bildungsangeboten und Aufbau eines Bekannten- bzw. Freundeskreises.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte nebst beigezogener Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierauf gemäß § 124 Absatz 2 SGG verzichtet haben.
Die Klage ist zulässig.
Die Klage ist bezüglich des Klageantrages zu 1. als Feststellungsklage zulässig, da die Feststellung der Zuständigkeit eines Leistungsträgers nach § 55 Absatz 1 Nr. 1 SGG einer Leistungsklage ist. Gemäß § 123 SGG ist die Kammer nicht daran gehindert, den Antrag dergestalt auszulegen.
Ein Feststellungsinteresse im Sinne von § 55 a.E. SGG ist zu bejahen, weil es sich um einen Rechtstreit von Behörden handelt und im Übrigen weitergehender Rechtsschutz möglich ist als mit einer Leistungsklage, sofern dies Zeiten nach Rechtskraft des Urteils betrifft (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, § 55, Rd. 19 b und c).
Die Klage ist bezüglich des Klagenantrages zu 2. ebenfalls als Feststellungsklage zulässig (§ 55 Absatz 1 Nr. 1 SGG).
Die Klage ist auch vollumfänglich begründet.
(1)
Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte die Leistungsberechtigte, Frau Mahnke, ab Rechtskraft des Urteils in ihre Zuständigkeit übernimmt, und zwar sowohl bezüglich der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII als auch im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII.
(a)
Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel desSGB XII folgt aus § 98 Absatz 1 Satz 1 SGB XII.
Nach dieser Norm ist für die Sozialhilfe örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten. Nach § 98 Absatz 1 Satz 3 SGB XII bleibt diese Zuständigkeit bis zur Beendigung der Leistung auch dann bestehen, wenn die Leistung außerhalb seines Bereiches erbracht wird.
§ 98 Absatz 2 SGB XII regelt die örtliche Zuständigkeit bei stationären Leistungen.
§ 98 Absatz 5 Satz 1 SGB XII ist für die Leistungen nach diesem Buch, welches Personen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel dieses Buches In Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten erhalten, der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, der vor Eintritt in diese Wohnform zuletzt zuständig war oder gewesen wäre.
Die örtliche Zuständigkeit des Klägers endete am 16. November 2007 mit der Anmietung einer eigenen Wohnung durch die Leistungsberechtigte. Denn ab diesem Zeitpunkt kommt es auf den tatsächlichen Aufenthalt an, welcher im Zuständigkeitsbereich der Beklagten lag.
Bei der Unterbringung in der Wohnung der P. handelt es sich nicht um eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit, welche die weitere Zuständigkeit des Klägers begründen würde.
§ 98 Absatz 5 SGB XII ist vorliegend nicht einschlägig. Der Begriff der betreuten Wohnmöglichkeiten orientiert sich an § 55 Absatz 2 Nr. 6 SGB IX (vgl. Schellhorn/ Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII, § 98, Rd. 101; LPK-SGB XII-Schoch § 98, Rd. 49). Nach dieser Vorschrift ist derjenige Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, der vor Eintritt in die Wohnform zuletzt zuständig war oder gewesen wäre.
Nach dem Beschluss des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 21. Juni 2007 (L 13 SO 5/07 ER) müsse es sich um eine Wohnung handeln, die vom freien Träger der Leistung organisiert wurde. Damit sei nicht zu vereinbaren, dass der Betroffene sich selbst eine Wohnung sucht und anmietet, wenn er dann von Mitarbeitern des freien Trägers zum Zweck der ambulanten Betreuung aufgesucht werde.
Dieser Auffassung sind auch das Sozialgericht Oldenburg mit Beschluss vom 19. Dezember 2005 und das Sozialgericht Lüneburg mit Beschlüssen vom 27. Juni 2006 - S 32 SO 94/06 ER - und 26. Februar 2009 - S 22 SO 10/09 ER - gefolgt.
Das Oberverwaltungsgericht Bremen vertritt diesbezüglich eine andere Rechtsansicht und führt mit Beschluss vom 23. Juni 2006 - 3 B 188/06 - aus, dass Wohnen im Sinne des Gesetzeswortlautes in vielerlei Formen möglich sei, wie zum Beispiel in Wohngruppen, Wohngemeinschaften oder Einzelwohnungen, solange der Leistungsberechtigte eine Wohnbetreuung erfahre. Der Maßnahmeträger müsse nicht zwingend die Wohnung selbst zur Verfügung stellen. Diese Auffassung wird vom Sozialgericht Duisburg mit Beschluss vom 16. März 2006 - S 10 SO 6/06 ER - geteilt.
Dem ist das Sozialgericht Stuttgart mit Beschluss vom 02. Oktober 2006 gefolgt (S 7 SO 6973/06 ER) unter der Betonung des Aspektes, dass in der Wohnmöglichkeit selbst die Betreuung zu erbringen sei.
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg vertritt mit Urteil vom 08. Oktober 2009 - L 15 SO 267/08 - die Auffassung, dass in den Wohngelegenheiten Teilhabeleistungen zum Leben in der Gemeinschaft erbracht werden müssten und lässt offen, ob der Maßnahmeträger auch Vermieter sein müsse.
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin einen Mietvertrag mit einem privaten Vermieter abgeschlossen. Der Maßnahmeträger, der ambulante Betreuung erbringt, ist weder Mietvertragspartei noch organisiert er im Rahmen eines Gesamtkonzeptes das Wohnen der Klägerin. Nach dem vorgelegten Hilfeplankonzept spielt der Aspekt der Wohnsituation keine wesentliche Rolle. Die Klägerin zahlt den Mietzins direkt an den Vermieter, eine Abrechnung über Leistungssätze des Maßnahmeträgers erfolgt gerade nicht. Für die Kammer stellt sich das Bewohnen der Unterkunft nicht als Teil eines organisatorischen Gesamtkonzeptes dar, das weder finanziell noch logistisch in sich abgestimmt ist. Die O. hat auf Anfrage der Kammer mit Schriftsatz vom 25. August 2009 ausdrücklich mitgeteilt, dass der Hilfebedarf lediglich in den Zielbereichen adäquater Umgang mit Konflikten, Zubereitung von Mahlzeiten, Steuerung von Gefühlen, Äußerung von Bedürfnissen, Nutzen von Freizeit- bzw. Bildungsangeboten und Aufbau eines Bekannten- bzw. Freundeskreises bestehe. Der Vermieter sei in das Hilfekonzept nicht eingegliedert.
Selbst wenn man die Rechtsansicht des Oberverwaltungsgerichtes Bremen zugrunde legen würde, führte dies zu einem anderen Ergebnis. Denn nach dem im Rahmen der Sacherhaltsaufklärung gemäß § 20 SGB X ermittelten Konzept des Betreuungsträgers, der nicht als Vermieter auftritt, spielt die Wohnsituation keine Rolle im Rahmen der ambulanten Betreuung. Der Vermieter ist gerade nicht Teil des Hilfekonzeptes.
(b)
Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten für die Gewährung von Grundsicherung folgt aus § 98 Absatz 1 Satz 2 SGB XII.
Nach dieser Norm ist für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der gewöhnliche Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten liegt.
Es kann offenbleiben, ob im Falle des § 98 Absatz 5 SGB XII auch die Zuständigkeit bezüglich der Grundsicherung wegen des Prinzips der einheitlichen Leistungsgewährung übergeht. Denn ein ambulant betreutes Wohnen liegt nicht im Sinne der Norm vor. Somit kommt es auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin an (§ 30 Absatz 3 Satz 2 SGB XII), der unstreitig im Zuständigkeitsbereich der Beklagten liegt.
(2)
Der Kläger kann von der Beklagten beanspruchen, die erbrachten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII und der Eingliederungshilfe zu erstatten, und zwar für die Zeit vom 16. November 2007 bis zur Rechtskraft dieses Urteils, soweit die Leistungen im Übrigen rechtmäßig erbracht worden sind (vgl. § 110 SGB XII). Denn die Beklagte ist örtlich zuständiger Leistungsträger hinsichtlich der erbrachten Leistungen, wie vorstehend bereits festgestellt wurde, weil die Voraussetzungen des § 98 Absatz 1 Satz 1, 2 SGB XII jeweils gegeben sind.
Dem Erstattungsanspruch steht nicht entgegen, dass die Beklagte für die Zeit bis zum 01. November 2008 einen Kostenerstattungsanspruch gegen den Kläger nach § 106 Absatz 3 Satz 1 SGB XII hatte.
Denn der bisherige Leistungsträger, in dessen Bereich der Leistungsberechtigte zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bleibt längstens für die Dauer von zwei Jahren nach Verlassen der stationären Einrichtung zuständig, sofern innerhalb eines Monats nach Entlassung Leistungen der Sozialhilfe erbracht wurden und keine Unterbrechung für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als zwei Monaten vorlag.
Die Leistungsberechtigte verließ am 01. November 2006 die stationäre Einrichtung Q. K., so dass mangels Unterbrechungen ein Kostenerstattungsanspruch der Beklagten nach § 106 Absatz 3 Satz 1 SGB XII bestand.
Die Beklagte hat bislang diesen Kostenerstattungsanspruch - konsequenterweise aus ihrer Rechtsansicht heraus - nicht geltend gemacht. Erst im Falle der Ausübung dieses Gestaltungsrechtes wäre zu prüfen, ob der Kläger den Anspruch durchsetzen könnte (vgl.§ 111 SGB X). Da dieses Gestaltungsrecht jedoch nicht ausgeübt wurde, stellt sich diese Frage im vorliegenden Rechtsstreit nicht und ist daher unerheblich für den Erfolg der Klage.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Absatz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Absatz 1 VwGO entsprechend. Denn das Verfahren ist gemäß § 197a Absatz 3 SGG gerichtskostenpflichtig, da keiner der Beteiligten nach § 183 SGG privilegiert ist.
Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Beklagten nicht der Zulassung, weil hier deren Beschwer oberhalb des für Erstattungsstreitigkeiten geltenden Schwellenwertes von 10.000,- Euro liegt.