Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 24.02.2010, Az.: S 48 AS 23/10 ER

Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bei einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
24.02.2010
Aktenzeichen
S 48 AS 23/10 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 34210
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2010:0224.S48AS23.10ER.0A

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 10. Februar 2010 wird teilweise angeordnet, soweit Leistungen über die Zeit vom 7. Januar bis 22. Januar 2010 hinaus und auf mehr als 304,81 EUR abgesenkt wurden. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen im Hauptsacheverfahren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit ab 1. Januar bis 6. Januar 2010 und vom 23. Januar bis 5. März 2010 ungekürzt und für die Zeit vom 7. Januar bis 22. Februar 2010 in Höhe von 304,81 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).

2

Der am 5. April 1988 geborene Antragsteller hat den Realschulabschluss erreicht, er bezog vom 25. September bis 31. Oktober 2006 Arbeitslosengeld II, absolvierte vom 2. November 2006 bis 31. Juli 2007 seinen Zivildienst und begann am 1. Februar 2008 eine Ausbildung zum Altenpfleger. Durch fristlose Kündigung vom 4. Mai 2009 endete das Ausbildungsverhältnis. Vom 11. Mai bis 14. Juni 2009 nahm er an einer Förderung durch die VHS in Lüneburg teil.

3

Vom 15. bis 27. Juni 2009 war der Antragsteller als Produktionshelfer für die C. GmbH Lüneburg, vom 15. Juni bis 31. August 2009 als Altenpflegehelfer im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung und vom 29. September, zunächst befristet bis 13. November 2009, bei D. Deutschland GmbH & Co. KG, Lüneburg, beschäftigt. Das letzte Beschäftigungsverhältnis wurde bis zum 18. Dezember 2009 verlängert. Unter dem 10. Dezember 2009 sprach der Arbeitgeber die fristlose Kündigung wegen unentschuldigten Fehlens aus. Die Bundesagentur für Arbeit, Lüneburg, stellte daraufhin mit Bescheid vom 2. Februar 2010 das Ruhen des Arbeitslosengeldes wegen Eintritts einer Sperrzeit von 12 Wochen bei Arbeitsaufgabe für die Zeit vom 12. Dezember 2009 bis 5. März 2010 fest und bewilligte Leistungen ab 6. März 2010 in Höhe von täglich 12,35 EUR.

4

Auf den am 5. Mai 2009 formlos gestellten Antrag bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller erst im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens - S 75 AS E. ER - mit Bescheid vom 7. September 2009 Leistungen für die Zeit vom 1. Juni 2009 bis 30. November 2009. Auf den Widerspruch änderte sie mit Bescheiden vom 23. September 2009, 26. Oktober 2009 und 1. Dezember 2009 die Bewilligung ab und forderte mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 1. Dezember 2009 wegen der erzielten Einkünfte Leistungen für Oktober und November 2009 zurück. Über den Widerspruch ist - soweit er noch die Anrechnung von Kindergeld für die Monate Mai und Juni betrifft - noch nicht entschieden.

5

Mit Bescheid vom 1. Dezember 2009 senkte die Antragsgegnerin das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Januar bis 31. März 2010 monatlich um 10 v. H. der maßgebenden Regelleistung (35,90 EUR). Zur Begründung führte sie aus, der Antragsteller sei trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen zu dem Meldetermin am 19. November 2009 ohne wichtigen Grund nicht erschienen. Der Akte lässt sich nicht entnehmen, dass dieser Bescheid abgesandt wurde.

6

Am 30. November 2009 beantragte der Antragsteller die Weiterbewilligung von Leistungen. Die Antragsgegnerin forderte unter dem 1. Dezember 2009 und 12. Januar 2010 weitere Unterlagen an.

7

Am 13. Januar 2010 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Lüneburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Er begehrt die Nachzahlung des Kindergeldes für die Monate Juni und Juli 2009 in Höhe von 328,- EUR und die Bewilligung von Leistungen ab 1. Dezember 2009.

8

Mit Bescheid vom 25. Januar 2010 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller für Dezember 2009 529,49 EUR unter Anrechung des Kindergeldes. Mit Bescheid vom 10. Februar 2010 senkte sie das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 7. Januar bis 5. März 2010 auf die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung und bewilligte mit weiterem Bescheid vom 10. Februar 2010 Leistungen für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Mai 2010.

9

Daraufhin trägt der Antragsteller vor, dass er einen Sanktionsbescheid vom 1. Dezember 2009 nicht erhalten habe. Die wegen der fristlosen Kündigung ausgesprochene Sanktion hält er für unbillig, weil das Arbeitsverhältnis nur befristet war und kurze Zeit nach der Kündigung geendet hätte. Für Dezember 2009 seien höhere Leistungen ohne Anrechnung von Kindergeld zu gewähren.

10

Die Antragsgegnerin verweist darauf, dass bzgl. der Kindergeldzahlung Juni/Juli 2009 keine Eilbedürftigkeit bestehe, im Dezember 2009 Kindergeld zu Recht angerechnet wurde, weil nach den Kontoauszügen der Antragsteller am 9. Dezember 2009 Kindergeld erhalten habe. Die Sanktion wegen der Kündigung von D. träte automatisch ein, weil die Agentur für Arbeit eine Sperrzeit für das Arbeitslosengeld ausgesprochen habe.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Neben der Prozessakte haben die den Antragsteller betreffende Verwaltungsakte vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

12

II.

Das Begehren des Antragstellers auf höhere Leistungen setzt voraus, dass zum Einen die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid vom 10. Februar 2010 gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angeordnet wird, zum Anderen das eine Regelungsanordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG auf Gewährung höherer Leistungen erlassen wird. Der so ausgelegte Antrag ist zulässig und teilweise begründet.

13

Der nicht vertretende Antragsteller hat in seinem Schriftsatz vom 19. Februar 2010 ausreichend zum Ausdruck gebracht, dass er mit der Sanktion nicht einverstanden ist. Da die Widerspruchsfrist gemäß § 84 Abs. 2 SGG durch Einlegen bei einem Gericht gewahrt wird (Leitherer in: Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 84 Rn 6), muss hierin ein Widerspruch gesehen werden. Der Widerspruch gegen den Sanktionsbescheid vom 10. Februar 2010 entfaltet gemäß § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung, so dass das Begehren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gerichtet ist. Die Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung steht im Ermessen des Gerichts. Dabei sind einerseits das Interesse der Verwaltung an der - sofortigen - Vollziehung der getroffenen Entscheidung und andererseits das Interesse des Antragstellers an der ungekürzten Zahlung des Arbeitslosengeldes II gegeneinander abzuwägen. Bei dieser Abwägung ist auch die Erfolgsaussicht des zu Grunde liegenden Widerspruchs und auf Billigkeitsgesichtspunkte abzustellen (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 86 b Rn 12 i ff.).

14

Nach der hiernach vorzunehmenden Interessenabwägung kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung teilweise in Betracht. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage besteht zum Teil Erfolgsaussicht.

15

Gemäß § 31 Abs. 5 i.V.m. § 31 Abs. 4 Nr. 3a SGB II wird das Arbeitslosengeld II auf die Leistung nach § 22 SGB II beschränkt, wenn bei einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, dessen Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht oder erloschen ist, weil die Agentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit oder Erlöschen des Anspruchs nach den Vorschriften des Dritten Buches festgestellt hat. Die Absenkung erfordert lediglich, dass die für den Vollzug des SGB III zuständige Stelle den Eintritt einer Sperrzeit festgestellt hat; die Feststellung hat Bindungswirkung. Der Leistungsträger nach dem SGB II hat keine eigene Prüfungskompetenz und ist zu einer Inzidentprüfung der Rechtmäßigkeit weder verpflichtet noch berechtigt (Berlit in: Lehr- und Praxiskommentar, SGB II, § 31 Rn 128). Wenn der Antragsteller sich nicht gegen den Bescheid der Bundesagentur gegen den Eintritt einer Sperrzeit vom 2. Februar 2010 wendet, was er bisher nicht vorgetragen hat, muss die Antragsgegnerin und damit auch das Gericht diese Entscheidung berücksichtigen.

16

Die Absenkung tritt gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 2. Halbsatz SGB II mit Beginn der Sperrzeit ein und dauert in der Regel 3 Monate. Damit beginnt die Absenkung entsprechend der Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit am 12. Dezember 2009.

17

Bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, kann der Träger die Absenkung und den Wegfall der Regelleistung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf 6 Wochen verkürzen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin diese Ermessensentscheidung im Sanktionsbescheid vom 10. Februar 2010 sachgerecht getroffen hat. Sie hat nicht den offensichtlichen Umstand in die Ermessenserwägungen eingestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch das vertragswidrige Verhalten um eine Woche vorzeitig beendet wurde (Rechtsgedanke aus § 144 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB III). Außerdem muss bei der Ermessensentscheidung berücksichtigt werden, dass die Ungleichbehandlung durch die Sanktionsverschärfung verfassungsrechtlich bedenklich ist und nur durch die eingefügte Möglichkeit, die Absenkung auf 6 Wochen zu verkürzen, überhaupt gerechtfertigt werden kann (Berlit a.a.O., § 31 Rn 17 m.w.N.). Da der Antragsteller bereits in der Vergangenheit unverschuldet mit der Miete rückständig war, droht bei längerem Entzug des aus der Regelleistung zu tragenden Anteils der Miete, Wohnungslosigkeit. Im Rahmen der Folgenabwägung ist daher für das einstweilige Rechtsschutzverfahren die Sanktion auf 6 Wochen zu verkürzen, also vom 12. Dezember 2009 bis 22. Januar 2010.

18

Ein Sanktionsbescheid vom 1. Dezember 2009 ist mangels Bekanntgabe an den Antragsteller nicht wirksam geworden (§ 37 Abs. 1 SGB X). Angesichts des fehlenden Absendevermerks und der Anhörung, auf die in dem in der Verwaltungsakte vorhandenen Entwurf des Bescheides Bezug genommen wird, ist das Vorbringen des Antragstellers, einen solchen Bescheid nicht erhalten zu haben, nicht von vornherein unglaubwürdig. Im Übrigen wäre der Bescheid jedenfalls rechtswidrig. Der Antragsteller übte im November 2009 eine versicherungspflichtige Beschäftigung aus, wie der Antragsgegnerin bei Erlass bekannt war, so dass offensichtlich war, dass er einen wichtigen Grund hatte, zu dem Meldetermin am 19. November 2009 zwischen 8.00 und 9.00 Uhr nicht zu erscheinen. Zudem hat die Antragsgegnerin gleichzeitig mit Änderungsbescheid vom 1. Dezember 2009 Leistungen für November 2009 ganz aufgehoben, so dass bereits mangels Leistungsbezug keine Obliegenheitsverletzung vorliegen kann.

19

Damit handelt es sich nicht um einen wiederholten Pflichtverstoß, der eine Senkung auch der Kosten der Unterkunft und Heizung rechtfertigen könnte.

20

Dementsprechend war die Antragsgegnerin zur vorläufigen Zahlung der Leistungen, wie im Tenor ausgeführt, zu verpflichten.

21

Dagegen kann die Gewährung höherer Leistungen für die Vergangenheit (vor Antragstellung beim Sozialgericht Lüneburg in Januar 2010) nicht gewährt werden. Der Erlass der gerichtlichen Entscheidung im Eilverfahren ergeht, um eine gegenwärtige Notlage abzuwenden. Die Sicherung des laufenden Unterhalts erfordert indessen nicht die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit. Insoweit ist dem Antragsteller der Abschluss des Widerspruchsverfahrens zuzumuten. Allerdings vermag die Kammer nicht zu erkennen, warum eine Entscheidung in dieser Sache nicht durch kurze Rückfrage bei der Familienkasse zu klären ist, wenn die Nachweise der Nichtzahlung durch die vorgelegten Kontoauszüge nicht ausreichen sollten. Die Frist zur Erhebung der Untätigkeitsklage läuft insoweit am 18. März 2010 ab.

22

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG.