Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 21.06.2007, Az.: L 13 SO 5/07 ER
Tragung von Kosten für Eingliederungsmaßnahmen eines an einer erheblichen intellektuellen Entwicklungsverzögerung und einer infantilen Persönlichkeitsstörung Leidenden; Voraussetzungen für die Feststellung der vorläufigen sachlichen Zuständigkeit eines Trägers der Sozialhilfe nach § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX); Einfluss der selbstständigen Anmietung einer Wohnung durch den betreffenden Hilfesuchenden auf die Annahme der fortbestehenden Zuständigkeit; Sinn und Zweck des § 98 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 21.06.2007
- Aktenzeichen
- L 13 SO 5/07 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 39730
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0621.L13SO5.07ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 21.12.2006 - AZ: S 19 SO 167/06 ER
Rechtsgrundlagen
- § 14 SGB IX
- § 98 Abs. 5 SGB XII
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Grundsätzlich ist § 14 SGB IX als speziellere Regelung vor § 43 SGB I anzuwenden, damit keine Zuständigkeitsstreitigkeiten zulasten des Behinderten ausgetragen werden. Nur wenn die Leistungsträger lediglich über ihre örtliche Zuständigkeit streiten, kommt die Vorschrift über die Regelung von vorläufigen Leistungen nach § 43 SGB I zum Zuge.
- 2.
§ 98 Abs. 5 SGB XII (Leistungen in Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten) setzt voraus, dass es sich bei dem "Wohnen" im Sinne der Vorschrift um eine Wohnung handeln muss, die vom freien Träger der Leistungen organisiert wurde und die nicht der betreffende Hilfesuchende selbstständig angemietet hat.
Tenor:
Die Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 21. Dezember 2006 wird zurückgewiesen.
Der Beigeladene hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Beigeladene und der Beschwerdegegner streiten darüber, wer die Kosten für Eingliederungsmaßnahmen zugunsten des Antragstellers zu tragen hat.
Der im August 1982 geborene Antragsteller leidet an einer erheblichen intellektuellen Entwicklungsverzögerung und einer infantilen Persönlichkeitsstörung. Ab dem Oktober 2002 war er in einer Wohngruppe in I. untergebracht und besuchte die Werkstatt für behinderte Menschen in J ... Nachdem er vorübergehend alleine in einer von seinem Betreuer für ihn angemieteten Wohnung gewohnt hatte, wurde er zum September 2004 stationär in einer Einrichtung der K. der L. aufgenommen und besuchte dort ab dem Januar 2005 die Werkstatt für behinderte Menschen. Der Beschwerdegegner gewährte dem Antragsteller mit Bescheiden vom 10. September 2004 und 10. Juni 2005 Eingliederungshilfe für die stationäre Maßnahme.
Mit Schreiben vom 22. Juni 2006 beantragte der Antragsteller - vertreten durch seine neue Betreuerin - beim Beschwerdegegner die weitere Übernahme von Eingliederungshilfe in Form von ambulanten Hilfen, weil er beabsichtige, entsprechend den Empfehlungen der Mitarbeiter der K. eine eigene Wohnung zu beziehen, von wo aus er die Werkstatt für behinderte Menschen besuchen und ambulante Betreuung im Umfang von 6 Wochenstunden erhalten sollte. Diesen Antrag leitete der Beschwerdegegner mit Schreiben vom 26. Juni 2006 an den Beigeladenen mit dem Bemerken weiter, dass nunmehr nach dem Wechsel von der stationären Einrichtung in eine ambulante Betreuung der Träger der Sozialhilfe für die Leistungen am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Hilfesuchenden sachlich und örtlich zuständig sei. Dies wurde mit Schreiben vom gleichen Tage dem Antragsteller mitgeteilt. Nach einem Vermerk des Gesundheitsamtes des Beigeladenen vom 21. August 2006 wurde der geplante Auszug aus der Wohngruppe der K. und der Übergang in eine ambulante Betreuung in einer eigenen Wohnung im Umfang von bis zu sechs Fachleistungsstunden als geeignet angesehen. Mit Bescheid vom 24. November 2006 hat es der Beigeladene abgelehnt, dem Antragsteller Eingliederungsleistungen zu gewähren. Er vertrat dazu die Ansicht, dass er für die Leistungsgewährung nicht sachlich zuständig sei, sondern aufgrund der Regelung in § 98 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) der Beschwerdegegner nach wie vor zur Leistungsgewährung verpflichtet sei. Dagegen legte der Antragsteller vertreten durch seine Betreuerin mit Schreiben vom 8. Dezember 2006 Widerspruch ein, über den - soweit ersichtlich - bislang noch nicht entschieden worden ist.
Am 12. Dezember 2006 hat sich der Antragsteller an das Sozialgericht (SG) Stade mit der Bitte um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewandt. Er hat geltend gemacht, dass er den von ihm ins Auge gefassten Mietvertrag mit gutem Gewissen erst dann unterschreiben könne, wenn ein Kostenträger für die ihm zu gewährenden Sozialhilfeleistungen feststehe. Der Übergang von der stationären Einrichtung in eine eigene Wohnung mit ambulanter Betreuung sei für ihn sinnvoll und nötig, so dass der Streit der Sozialleistungsträger nicht zu seinen Lasten gehen dürfe.
Nach Anhörung des Antragsgegners und des Beigeladenen hat das SG Stade mit Beschluss vom 21. Dezember 2006 den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die Kosten für das ambulant betreute Wohnen ab Beginn dieser Maßnahme vorläufig zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Beigeladene jedenfalls vorläufig gemäß der Eilzuständigkeitsregelung in § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) zuständig sei. Sinn dieser Vorschrift sei es, möglichst rasch eine Klärung der sachlichen Zuständigkeit aus der Sicht des Hilfesuchenden zu erhalten; allerdings dürfte in der Sache bei einer Hauptsacheentscheidung wohl einiges dafür sprechen, dass der Antragsgegner nach wie vor gem. § 98 Abs. 5 SGB XII der zuständige Leistungsträger sei.
Gegen den ihm am 28. Dezember 2006 zugestellten Beschluss hat der Beigeladene am 24. Januar 2007 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Er macht geltend: Zwar sei der Antragsteller nun auf jeden Fall zum 1. Februar 2007 in die eigene Wohnung umgezogen und erhalte Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), da er im Produktionsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen tätig sei. Indessen habe das SG zu Unrecht die fortbestehende sachliche Zuständigkeit des Antragsgegners für die Eingliederungshilfe verneint, weil der Antragsteller mit dem freien Träger der K. Leistungen in Form einer ambulanten betreuten Wohnmöglichkeit abgemacht habe, so dass die Sonderregelung über die fortbestehende Zuständigkeit nach § 98 Abs. 5 SGB XII eingreife. Dies sei in der Sache auch richtig im angefochtenen Beschluss vom SG erkannt worden, so dass es nicht richtig sei, ihn im Wege der vorläufigen Leistungsgewährung nach § 14 SGB IX zur vorläufigen Leistungsübernahme zu verpflichten.
Der Antragsgegner ist der Beschwerde entgegengetreten und vertritt die Ansicht, die Beschwerde sei schon unzulässig, da der Beigeladene durch den angegriffenen Beschluss des SG nicht beschwert sei. Denn es handele sich lediglich um eine Entscheidung im Eilverfahren. Auch sei es nicht richtig, von seiner fortbestehenden sachlichen Zuständigkeit auszugehen, denn die in der betreffenden Regelung angesprochenen ambulanten betreuten Wohnmöglichkeiten würden voraussetzen, dass die Wohnung vom freien Träger angeboten werde. Das sei hier beim Antragsteller aber gerade nicht der Fall, da er sich die Wohnung selbstständig gesucht habe.
Dem Antragsteller ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beschwerdegegners und des Beigeladenen als Beschwerdeführer ergänzend Bezug genommen; sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners kann nicht davon ausgegangen werden, durch den angefochtenen Beschluss sei der Beschwerdeführer nicht beschwert. Denn auch eine vorläufige Regelung im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann eine Beschwer darstellen. Auch steht der Zulässigkeit der Beschwerde nicht entgegen, dass das SG im Wege der einstweiligen Anordnung den Beigeladenen zur Leistungen verpflichtet hat. Denn nach der Neufassung von § 75 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Art. 9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I Seite 1706, 1809) ist die Möglichkeit geschaffen worden, auch beigeladene Leistungsträger nach dem Sozialgesetzbuch Zweites und Zwölftes Buch zu verurteilen; dies muss nach Ansicht des Senats auch im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Beachtung finden.
Indessen hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers spricht einiges dafür, dass das SG zutreffend nach § 14 SGB IX die vorläufige sachliche Zuständigkeit des Trägers für den Wohnort des Antragstellers festgestellt hat. Denn es liegt gerade im Sinn dieser Regelung, schnell eine Zuständigkeitsklärung herbeizuführen, die Leistungsgewährung zu veranlassen, damit Zuständigkeitsstreitigkeiten nicht mehr zulasten des Behinderten ausgetragen werden (vgl. BSG, Urteil vom 26.10.2004 - B 7 AL 16/04 R -, FEVS56, 385 (387)), und dann erst später ein Verfahren der Rückabwicklung zwischen den Leistungsträgern vorzunehmen, wenn sich herausstellen sollte, dass der leistende Rehabilitationsträger tatsächlich für die Leistungen nicht zuständig war (vgl. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX). Daher soll regelmäßig § 14 SGB IX als speziellere Regelung vor § 43 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) zur Anwendung kommen. Lediglich dann, wenn beide angegangenen Träger lediglich über ihre örtliche Zuständigkeit streiten, muss die Vorschrift über die Regelung von vorläufigen Leistungen nach § 43 SGB I zum Zuge kommen. Denn sonst würde der Streit um die örtliche Zuständigkeit zu unzumutbaren Verzögerungen bei der Leistung führen, und der zuerst angegangene Rehabilitationsträger würde seiner Kenntnis- und Einflussmöglichkeiten wegen der Ortsnähe des Betreuungs- und Pflegeangebots durch freie Träger zur Steuerung der Notlage verlustig gehen (vgl. dazu auch: OVG Lüneburg, Beschluss vom 23. Juli 2003 - 12 ME 297/93 - in: FEVS 55, 384).
Als selbstständig tragende Erwägung kommt im vorliegenden Fall hinzu, dass nach Ansicht des Senats gegenwärtig Überwiegendes dafür spricht, dass eine fortbestehende Zuständigkeit des Beschwerdegegners im Sinne von § 98 Abs. 5 SGB XII nicht mehr gegeben ist. Nach dieser Vorschrift ist derjenige Träger der Sozialhilfe weiterhin örtlich zuständig, der vor Eintritt in die Wohnform der "ambulanten betreuten Wohnmöglichkeit" für Eingliederungsleistungen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel des SGB XII Leistungen erbracht hat. Der im Gesetz verwandte Begriff der ambulanten betreuten Wohnmöglichkeiten wird aber nicht weiter erläutert; allerdings wird in der Literatur allgemein ausgeführt, dass damit der Gesetzgeber an den ähnlichen Begriff in § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX angeknüpft hat (Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, München 2005, § 98 Rdn. 31). Indessen ist damit für die Frage nichts gewonnen, ob es der Annahme der fortbestehenden Zuständigkeit im Sinne der Vorschrift entgegensteht, dass der betreffende Hilfesuchende eine Wohnung selbstständig angemietet hat. Nach Ansicht des Senats spricht aber schon der Wortlaut der Vorschrift, wonach Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten angesprochen werden, dafür, dass es sich bei dem "Wohnen" im Sinne der Vorschrift um eine Wohnung handeln muss, die vom freien Träger der Leistungen organisiert wurde. Denn die Regelung geht davon aus, dass der freie Träger dem Hilfesuchenden die Möglichkeit zum Wohnen bietet. Damit ist es aber nicht zu vereinbaren, wenn - wie hier - der Hilfesuchende selbstständig eine Wohnung sucht und anmietet, in der er dann von den Mitarbeitern des freien Trägers aufgesucht wird, um ihn - den Antragsteller - ambulant zu betreuen (vgl. auch: Nds. Hinweise zur Sozialhilfe, Stand Juli 2006, Nr. 98.5.1; vgl. zu den Folgen bei der Wahl der Wohnform: Castendiek/Hoffmann, Das Recht der behinderten Menschen, 2. Auflage Baden-Baden 2005, Rdn. 411 ff.).
Dieses Verständnis der Regelung wird durch den Sinn und Zweck der Vorschrift unterstützt, so wie sie der Senat versteht. § 98 Abs. 5 SGB XII ist eine Ausnahmeregelung; auch wurde sie in das Gesetz aufgenommen, um eine gewisse Entlastung derjenigen örtlichen Träger der Sozialhilfe zu ermöglichen, bei denen ambulante betreute Wohnmöglichkeiten von freien Trägern geschaffen wurden. Denn so sinnvoll diese Leistungsform von Eingliederungshilfe ist, so wäre es misslich, wenn diejenigen örtlichen Träger durch zunehmende Kosten stärker belastet würden, in deren Gebiet ein solcher Anbieter von Eingliederungshilfe seinen Sitz hat. In derartigen Ausnahmefällen soll von § 98 Abs. 5 SGB XII an die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers angeknüpft werden, wo sich der Hilfesuchende vor Eintritt in diese Wohnform aufgehalten hat (vgl. dazu auch: SG Oldenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2005 - S 2 SO 256/05 ER - ZfF 2007, 17). Nach Ansicht des Senats wird dadurch auch nicht der Sinn und Zweck der ambulanten betreuten Wohnmöglichkeiten in Frage gestellt, die es für die betreffenden Hilfesuchenden gerade erleichtern soll, einen Übergang von stationärer Betreuung in "weicher" Form zu einem möglichst selbstständigen Leben zu ermöglichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).