Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 04.05.2010, Az.: S 46 AS 141/10 ER
Begriff der zu einer Bedarfsgemeinschaft gehörenden Person i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3c Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II)
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 04.05.2010
- Aktenzeichen
- S 46 AS 141/10 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 34197
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2010:0504.S46AS141.10ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II
- § 7 Abs. 3a SGB III
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 11. März 2010 gegen den Bescheid vom 19. Februar 2010 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellern vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen im Hauptsacheverfahren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 12. März 2010 bis 31. Juli 2010 dem Grunde nach ohne Berücksichtigung des Einkommens von F. zu zahlen. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchenden - (SGB II), wobei streitig ist, ob die Antragstellerin zu 1. in einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft lebt.
Die G. geborene Antragstellerin zu 1. ist die Mutter des am H. geborenen Antragstellers zu 2 ... Der Vater des Kindes ist F ... Aus der Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft vom Februar 2004 ergibt sich, dass die Eltern zu diesem Zeitpunkt nicht zusammenlebten. Die Antragsteller zogen zum 1. Mai 2005 in eine 3-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von 65,45 m2 in die I. (später umbenannt in: J.) in K. ein.
Unter dem 10. November 2005 zeigten die Antragsteller an, dass F. bei ihnen wohne, und beantragten gemeinsam Leistungen. Am 25. Oktober 2005 hatte er einen Einzug zum 22. Oktober 2005 bei der Meldebehörde mitgeteilt.
Die Antragsteller stehen seit 1. Januar 2005 im Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Da Herr F. bis November 2005 Arbeitslosengeld bezog, bewilligte die Antragsgegnerin den Antragstellern und Herrn F. mit Änderungsbescheid vom 3. Januar 2006 Leistungen für die Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 31. Januar 2006.
Mit Veränderungsmitteilung vom 19. Januar 2005 zeigte Herr F. an, dass er zum 18. Januar 2005 die Bedarfsgemeinschaft verlasse und zu den Eheleuten L. in der M. in K. ziehe. Außerdem nahm er zum 23. Januar 2005 eine Tätigkeit bei der N. in O. auf. Dementsprechend meldete er seinen Auszug bei der Meldebehörde am 19. Januar 2006. Daraufhin bewilligte die Antragsgegnerin mit Änderungsbescheide vom 23. Februar 2006 Leistungen nur für die Antragsteller weiter.
Der Außendienst der Antragsgegnerin führte am 10./11. Januar 2007, 8. und 11. Januar 2010 Hausbesuche durch. Insoweit wird auf die Vermerke vom 16. Januar 2007 und 22. Januar 2010 (Bl. 141 f. und 254 ff. Verwaltungsakte) Bezug genommen. Nach dem ersten Hausbesuch zahlte die Antragsgegnerin die Leistungen bis zum 31. Januar 2010 weiter (Bescheid vom 30. Juni 2009).
Nach dem zweiten Hausbesuch ging sie vom Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft aus, forderte die Antragstellerin vergeblich zur Vorlage der Unterlagen über die Einkommensverhältnisse von Herrn F. auf und versagte mit Bescheid vom 19. Februar 2010 die Weitergewährung von Leistungen, da die Antragstellerin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei. Hiergegen legten die Antragsteller mit Schreiben vom 11. März 2010 Widerspruch ein, über den - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden worden ist.
Am 12. März 2010 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Lüneburg einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Sie tragen vor, dass F. ca. 2007 ausgezogen sei und mit einer weiteren Person in einer Wohngemeinschaft lebe. Er kümmere sich um sein Kind, das am Wochenende auch beim Vater schlafe. F. schlafe regelmäßig in seiner Wohnung. Zur Stützung ihres Vorbringens überreichen sie eidesstattlichen Versicherungen der Antragstellerin zu 1. vom 5. und 17. März 2010, des Herrn F. vom 8. und 18. März 2010 und des Herrn P. vom 8. März 2010.
Die Antragsteller beantragen,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihnen Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ohne Herrn F. als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu zahlen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Auffassung, die Ermittlungen lassen nur den Schluss zu, dass eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bestehe.
Die Kammer hat im vorbereitenden Verfahren die Antragstellerin gehört, sowie Herrn F. und Herrn P. als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 30. April 2010 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, die bei der Entscheidung zu Grunde gelegen haben, verwiesen.
II.
Das Begehren der Antragsteller auf Leistungen setzt voraus, dass zum Einen die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Versagungsbescheid vom 19. Februar 2010 gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angeordnet wird, zum Anderen das eine Regelungsanordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG auf Gewährung höherer Leistungen erlassen wird. Der so ausgelegte Antrag ist zulässig und begründet.
Die Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung steht im Ermessen des Gerichts. Dabei sind einerseits das Interesse der Verwaltung an der - sofortigen - Vollziehung der getroffenen Entscheidung und andererseits das Interesse der Antragsteller an der Zahlung des Arbeitslosengeldes II gegeneinander abzuwägen. Bei dieser Abwägung ist auch die Erfolgsaussicht des zu Grunde liegenden Widerspruchs und auf Billigkeitsgesichtspunkte abzustellen (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 86 b Rn 12 i ff.).
Nach der hiernach vorzunehmenden Interessenabwägung kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage besteht Erfolgsaussicht. Die Antragsteller sind ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen. Angaben über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Herrn F. sind zur Entscheidung über die Leistungsansprüche nicht erforderlich. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vermochte die Kammer nicht festzustellen, dass die Antragsteller mit Herrn F. in einer Bedarfsgemeinschaft leben.
Dementsprechend ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Regelungsanordnung begründet.
Nach der genannten Vorschrift kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Anwendung der Vorschrift setzt neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) voraus, dass der Rechtsschutzsuchende mit Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Regelung hat (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass sie einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben, weil F. nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehört.
Zur Bedarfsgemeinschaft gehört gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II als Partner des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen eine Person, die mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung für einander zu tragen und für einander einzustehen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann bereits nicht festgestellt werden, dass die Antragsteller mit Herrn F. einer Wohnung zusammen leben.
Herr F. ist nach übereinstimmenden Angaben der Antragstellerin zu 1. und den gehörten Zeugen F. und P. bereits 2006 wieder aus der Wohnung der Antragsteller ausgezogen.
Die Antragstellerin zu 1. und die Zeugen haben übereinstimmend geschildert, dass die Mutter der Antragstellerin zu 1. Herrn F. das Zimmer in ihrer Wohnung angeboten hat, nachdem sich das Zusammenleben schwierig gestaltete. Es ist nachvollziehbar, dass sie damit die Hoffnung verbunden hat, für ihren Enkel die Möglichkeit aufrecht zu erhalten, seinen Vater regelmäßig zu besuchen.
Das Zusammenleben mit den Eheleuten L. war nach übereinstimmenden Angaben unproblematisch. Für Herrn F. bietet es die Möglichkeit einer günstigen Unterkunft mit "Familienanschluss". Herr P. hat die Unterstützung, die er krankheitsbedingt benötigt.
Übereinstimmend haben die Antragstellerin zu 1. und die Zeugen angegeben, dass F. nicht bei ihr, sondern überwiegend in der Q. schläft. Um die Feststellung zu treffen, Herr F. halte sich überwiegend bei den Antragstellern auf, reichen die von der Antragsgegnerin genannten Indizien nicht aus. Die Antragstellerin zu 1. hat andere, ebenfalls mögliche Gründe genannt, warum sie das Kraftfahrzeug von Herrn F. nutzen darf und er seit mehr als vier Jahren in einer Wohngemeinschaft wohnt. Die Beweisaufnahme rechtfertigt nicht die Feststellung, Herr F. halte sich nicht nur besuchsweise bei den Antragstellern auf.
Wenn aber bereits nicht festgestellt werden kann, dass die Antragsteller mit Herrn F. zusammen wohnen, kann sich die Antragsgegnerin auf die Vermutungsregelung aus § 7 Abs. 3 a SGB III nicht berufen, wonach ein wechselseitiger Wille Verantwortung für einander zu tragen und für einander einzustehen, vermutet wird, wenn die Partner länger als ein Jahr zusammenleben. Das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft, die voraussetzt, dass der Partner mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebt (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II), ist von der Antragsgegnerin nicht glaubhaft gemacht worden.
Da sich die Leistung zum Lebensunterhalt an dem Existenzminimum orientieren, ist den Antragstellern bei der hier streitigen Größenordnung nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Das Gericht hat die Verpflichtung zur Leistungsgewährung auf die Stellung des Rechtsschutzantrages beim Sozialgericht (12. März 2010) beschränkt, weil mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung nur gegenwärtige Nachteile ausgeglichen werden können.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG entsprechend.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde zulässig.
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