Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.03.2006, Az.: 17 Sa 85/06
Rechtwirksamkeit einer fristgemäßen Kündigung; Beteiligung des Betriebsrats vor Ausspruch der Kündigung; Ausübung eines Restmandats durch den Betriebsrat
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 06.03.2006
- Aktenzeichen
- 17 Sa 85/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 21917
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2006:0306.17SA85.06.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Stade - 04.01.2006 - AZ: 1 Ca 7/05
Rechtsgrundlage
- § 102 BetrVG
Redaktioneller Leitsatz
Im Falle einer Betriebsstilllegung behält der Betriebsrat ein Restmandat. Sind trotz tatsächlicher Stilllegung noch nicht alle Arbeitsverhältnisse rechtlich beendet und einzelne Arbeitnehmer mit Abwicklungsarbeiten beschäftigt, so ist der Betriebsrat vor dem Ausspruch einer Kündigung auch dann nach § 102 BetrVG zu beteiligen, wenn der betroffene Arbeitnehmer keinen Kündigungsschutz genießt.
In dem Rechtsstreit
hat die 17. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 6. März 2006
durch
die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Knauß,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Wenger,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Heuer
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des Beklagten zu 1) gegen das Schluss-Urteil des Arbeitsgerichts Stade vom 04.01.2006 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Rechtwirksamkeit einer fristgemäßen Kündigung des Beklagten vom 25.04.2005.
Der 1946 geborene Kläger war seit dem 01.09.1973 bei der D..., die später von der S...-GmbH übernommen wurde, als Techniker zu einem monatlichen Bruttoentgelt von zuletzt 3.727,00 EUR beschäftigt. Am 01.08.2004 wurde über das Vermögen der S...-GmbH vom Amtsgericht Cuxhaven das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zu 1) zum Insolvenzverwalter bestellt. Am 28.10.2004 beschloss die Gläubigerversammlung eine Betriebsschließung zum 31.12.2004, falls eine Sanierung vorher nicht gelingen sollte. Eine Sanierung scheiterte. Am 30.11.2004 zeigte der Beklagte zu 1) gegenüber dem Insolvenzgericht Masseunzulänglichkeit an, beschloss die Betriebsstillegung und stellte fast alle Arbeitnehmer, u.a. den Kläger, von der Arbeit frei. Es wurden lediglich noch 6 Mitarbeiter für die Abwicklung eines Restauftrages beschäftigt sowie eine Bürokraft und ein Elektriker. Am 16.12.2004 kündigte der Beklagte zu 1) alle Arbeitsverhältnisse zum 31.03.2005, auch das des Klägers. Gegen diese Kündigung wandte sich der Kläger mit seiner am 05.01.2005 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage. Mit Teil-Urteil vom 12.09.2005 stellte das Arbeitsgericht fest, dass die Kündigung des Beklagten zu 1) vom 16.12.2004 unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis nicht zum 31.03.2005 geendet hat. Dieses Teil-Urteil ist rechtskräftig geworden. Während des Laufs des Kündigungsschutzverfahrens sprach der Beklagte zu 1) erneut unter dem 25.04.2005 die zweitinstanzlich noch streitbefangene Kündigung zum 31.07.2005 gegenüber dem Kläger aus. Vor Ausspruch dieser Kündigung fand keine Betriebsratsanhörung statt. Unter dem 26.01.2006, dem Kläger zugegangen am 28.01.2006, sprach der Beklagte zu 1) - nach vorheriger Beteiligung des Betriebsrats - eine weitere Kündigung zum 30.04.2006 aus. Diese letzte Kündigung hat der Kläger nicht angegriffen.
Wegen des streitigen Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug sowie der erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf die Wiedergabe im Tatbestand des angefochtenen Schlussurteils des Arbeitsgerichts Stade vom 04.01.2006 Bezug genommen.
Mit diesem Urteil hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass die Kündigung des Beklagten zu 1) vom 25.04.2005 unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis nicht zum 31.07.2005 beendet hat, die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger zu 15/37 und dem Beklagten zu 1) zu 22/37 auferlegt und den Urteilsstreitwert auf 11.181,00 EUR festgesetzt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, die Kündigung sei wegen fehlender Betriebsratsanhörung gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam. Wegen der rechtlichen Erwägungen im Einzelnen, die das Arbeitsgericht zu seiner Entscheidung haben gelangen lassen, wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 168 d. A.) Bezug genommen.
Gegen dieses ihm am 04.01.2006 zugestellte Schlussurteil hat der Beklagte zu 1) mit einem am 19.01.2006 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt, die er zugleich begründet hat. Die Kammer nimmt auf den Inhalt dieses Schriftsatzes Bezug.
Der Beklagte zu 1) rügt an dem angegriffenen Urteil insbesondere, das Arbeitsgericht habe bei der Annahme eines noch bestehenden Restmandats des bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Betriebsrats den Besonderheiten des zur Beurteilung anstehenden Falls nicht hinreichend Rechnung getragen. Im Streitfall habe es keinen betrieblichen Regelungsbedarf mehr für ein Restmandat gegeben. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung mit Schreiben vom 25.04.2005 sei nicht nur der Betrieb der Insolvenzschuldnerin vollständig eingestellt, sondern auch die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter mit Ausnahme des Klägers und der Mitarbeiterin H... beendet gewesen. Kündigungsschutz für den Kläger habe nicht mehr bestanden. Eine Betriebsratsanhörung sei in dieser Situation eine Förmelei.
Der Beklagte zu 1) beantragt daher,
das Schluss-Urteil des Arbeitsgerichts Stade vom 04.01.2006 abzuändern und die Kündigungsschutzklage des Klägers abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil nach Maßgabe seiner Berufungserwiderungsschrift vom 27.02.2006. Die Kammer nimmt auf den Inhalt dieses Schriftsatzes Bezug.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung ist statthaft, sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt worden und somit insgesamt zulässig (§§ 64, 66 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 3 ZPO).
II.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit zutreffend entschieden. Die Kündigung des Beklagten zu 1) vom 25.04.2005 ist mangels vorheriger Beteiligung des Betriebsrats unwirksam.
1.
Die Kündigung des Klägers hat der Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG bedurft. Nach § 21 b BetrVG behält der Betriebsrat im Fall der Betriebsstilllegung ein nachwirkendes Mandat (Restmandat). Dabei geht das Gesetz davon aus, dass das Restmandat erforderlich ist, weil durch die Stilllegung der Betrieb untergeht. Inhaltlich ist das Restmandat auf die Wahrnehmung der mit der "Stilllegung im Zusammenhang stehenden Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte" beschränkt. Das Restmandat ist somit ein durch den Aufgabenbezug eingeschänktes Abwicklungsmandat. Es weist die Besonderheit auf, dass die Betriebsratsmitglieder ihr Amt ohne Arbeitsverhältnis ausüben und eine Belegschaft repräsentiert wird, die es nicht mehr gibt. Die inhaltliche Beschränkung des Restmandats auf die mit der Betriebsstilllegung "im Zusammenhang stehenden Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte" entspricht dem Zweck der Vorschrift, zu verhindern, dass der Arbeitgeber gerade diese Beteiligungsrechte durch raschen Vollzug der Betriebsstilllegung unterläuft. In funktionalem Zusammenhang mit der Betriebsstilllegung stehen vor allem die Beteiligungsrechte nach § 111 Satz 3 Nr. 1, Satz 1 und 2 und § 112 BetrVG. In Betracht kommen aber auch Beteiligungsrechte bei personellen Einzelmaßnahmen, wie z. B. bei Kündigung oder Versetzung von Arbeitnehmern (vgl. Kreutz/GK - BetrVG, 7. Aufl. 2002, § 1 Anmerkung 7, 11 f.; Thüsing - Richardi, BetrVG, 9. Aufl. 2004, Anmerkung 7 f).
Das Restmandat ist mithin funktional bezogen auf alle mit der Stilllegung im Zusammenhang stehenden betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte und die betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben, die sich daraus ergeben, dass trotz tatsächlicher Stilllegung des Betriebs noch nicht alle Arbeitsverhältnisse rechtlich beendet sind und einzelne Arbeitnehmer mit Abwicklungsarbeiten beschäftigt werden (BAG vom 14.10.1982 - 2 AZR 568/80 - AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969). Danach soll das Restmandat gewährleisten, dass die zur Abwicklung einer Betriebsstilllegung erforderlichen betrieblichen Regelungen tatsächlich noch getroffen werden können. Es setzt seinem Zweck nach einen die Betriebsstilllegung überdauernden Regelungsbedarf voraus (BAG vom 05.10.2000 - 1 AZR 48/00 - AP Nr. 141 zu § 112 BetrVG 1972; BAG vom 12.01.2000 - 7 ABR 61/98 AP Nr. 5 zu § 24 BetrVG 1972 und BAG vom 14.08.2001 - 1 ABR 52/00 - AP Nr. 1 zu § 21 B BetrVG 1972).
2.
Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze war der Betriebsrat im zur Entscheidung stehenden Fall vor Ausspruch der Kündigung nach § 102 BetrVG zu beteiligen.
2.1
Zweck der Beteiligung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG ist zum einen "wegen der einschneidenden Bedeutung der Kündigung für den Arbeitnehmer die verstärkte Einschaltung des Betriebsrats" (Bericht des Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung, zu BT - Drucks. VI/2729, Seite 7). Zum anderen soll auf der kollektiven Ebene sichergestellt werden, dass der Betriebsrat bei allen Maßnahmen eingeschaltet wird, die die personelle Zusammensetzung der Belegschaft betreffen (BAG vom 09.11.1977 - 5 AZR 132/76 - AP Nr. 13 zu Internat. Privatarbeitsrecht). § 102 hat mithin eine kollektive und eine individualrechtliche Schutzfunktion (BAG vom 18.09.1975 - 2 AZR 594/74 - AP Nr. 6 zu § 102 BetrVG 1972). Die vorherige Anhörung des Betriebsrats als striktes Wirksamkeitserfordernis einer Kündigung soll sicherstellen, dass der Arbeitgeber sich vor der Entscheidung für die Kündigung in jedem Falle mit etwaigen Einwendungen des Betriebsrats auseinandersetzt. Der Betriebsrat soll durch seine Stellungnahme zur Kündigungsabsicht des Arbeitgebers seine Meinung dazu kundtun, ob die vom Arbeitgeber mitgeteilten Tatsachen zutreffen und ob sie die Kündigung rechtlich rechtfertigen. Er soll aber auch auf die Willensentscheidung des Arbeitgebers Einfluss nehmen, ob die Kündigungsbefugnis tatsächlich ausgeübt werden soll oder ob es - trotz möglichen Vorliegens eines Kündigungsgrundes - etwa aus sozialen Erwägungen oder Zweckmäßigkeitsgründen richtiger wäre, von einer Kündigung Abstand zu nehmen (BAG vom 19.01.1983 - 7 AZR 514/80 - AP Nr.28 zu § 102 BetrVG 1972). Dieser Zweck der Vorschrift des § 102 BetrVG entfällt aber gerade nicht, bei im Zusammenhang mit einer Betriebsstillegung noch anstehenden Kündigungen von Arbeitsverhältnissen. Soweit daher trotz bereits vollzogener Betriebsstillegung und Beendigung der Arbeitsverhältnisse der Betriebsratsmitglieder noch einzelne Arbeitsverhältnisse abzuwickeln und Kündigungen auszusprechen sind, ist der Betriebsrat im Rahmen seines Restmandats nach § 21 b BetrVG gemäß § 102 BetrVG zu beteiligen. Insofern besteht nach dem Zweck des Restmandats ein die Betriebsstilllegung überdauernder Regelungsbedarf. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer nur deshalb weiter bestanden, weil eine zuvor ausgesprochene Kündigung aus formalen Gründen unwirksam war. Desgleichen kommt es nicht darauf an, dass kein Kündigungsschutz mehr besteht, denn das Beteiligungsrecht des Betriebsrats nach § 102 BetrVG ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG auch dann zu beachten, wenn das Kündigungsschutzgesetz auf den Betrieb keine Anwendung findet oder der Arbeitnehmer in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses gekündigt wird (BAG vom 03.12.1998 - 2 AZR 234/98 - AP Nr. 99 zu § 102 BetrVG 1972).
2.2
Selbst wenn die Kammer zu Gunsten des Beklagten zu 1) davon ausgeht, dass im Streitfall nur noch zwei Arbeitsverhältnisse, nämlich das des Klägers und der Mitarbeiterin H... nicht beendet waren, war mithin vorliegend das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zu wahren. Denn - wie oben ausgeführt - soll der Betriebsrat durch seine Stellungnahme zur Kündigungsabsicht des Arbeitgebers gerade seine Meinung dazu kundtun, ob die vom Arbeitgeber mitgeteilten Tatsachen zutreffen und ob sie die Kündigung rechtlich rechtfertigen. Diese Zwecksetzung ist aber auch im Fall der Betriebsstilllegung gegeben, so lange noch nicht alle Arbeitsverhältnisse beendet sind. Der Betriebsrat soll gerade die Möglichkeit haben, dazu Stellung zu nehmen, ob gegebenenfalls Gründe vorliegen, die es gebieten, von einer Kündigung Abstand zu nehmen oder sie zu einem anderen Zeitpunkt auszusprechen, etwa weil doch noch Restarbeiten anfallen.
3.
Vortrag dazu, dass etwa im Streitfall kein Betriebsrat mehr existierte, der das Restmandat hätte wahrnehmen können, hat der Beklagte zu 1) nicht erbracht. Das Restmandat existiert, solange noch ein mindestens einköpfiger Betriebsrat existiert, der Willens ist, das Restmandat wahrzunehmen (BAG vom 12.01.2000 - 7 ABR 61/98 - AP Nr. 5 zu § 24 BetrVG 1972). Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall offenbar vor, denn für die weitere Kündigung vom 26.01.2006, die der Kläger nicht mehr angegriffen hat, hat der Beklagte zu 1) den Betriebsrat nunmehr beteiligt.
III.
Als unterlegene Partei hat der Beklagte zu 1) die Kosten des Berufungsverfahrens gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Gegen diese Entscheidung ist daher ein Rechtsmittel nicht gegeben. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG, wird hingewiesen.