Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.02.2006, Az.: 10 Sa 905/05
Anpruch auf Arbeitsunterbrechungen und Blockfreistellungen bei Arbeit an einem Bildschirmarbeitsplatz; "Ablauforganisatorisches" Erfordernis der Tätigkeit von mindestens zwei zusammenhängenden Arbeitsstunden an einem Bildschirmgerät; Anwendbarkeit der Verordnung über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz an Bildschirmgeräten (Bildschirmarbeitsverordnung); Mit eigener Zeitsouveränität auszufüllendes Zeitfenster
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 24.02.2006
- Aktenzeichen
- 10 Sa 905/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 11618
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2006:0224.10SA905.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Osnabrück - 22.03.2005 - AZ: 10 Sa 905/05
Rechtsgrundlage
- § 6 Bildschirm-TV
Fundstelle
- EzA-SD 7/2006, 24
Amtlicher Leitsatz
Der Arbeitnehmer, der selbstbestimmte Pausen einlegen kann, hat keinen Anspruch auf Gewährung von Arbeitsunterbrechungen nach § 6 Abs. 1 des Tarifvertrages zur Belastungsminimierung und zum Datenschutz bei Arbeiten an Bildschirmarbeitsplätzen der Telekom - Bildschirm-TV.
In dem Rechtsstreit
hat die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Februar 2006
durch
die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Spelge,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Behrens,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Garbes
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 22.03.2005 - 1 Ca 516/04 - wird kostenpflichtig nach einem Wert von 11.521,80 EURzurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung tariflicher Pausen und Blockfreistellungen wegen Bildschirmarbeit.
Der Kläger ist seit dem 01.11.2003 auf dem Arbeitsplatz Sachbearbeiter "Personal- und Einsatzsteuerung" (SB PES AtNr. 33226) tätig. Er ist im Bereich der PTI ... zusammen mit 7 weiteren Sachbearbeitern PES tätig und räumlich zuständig für die Bereiche M..., R..., L... und B.... Sein Arbeitsplatz entstand im Rahmen einer bundesweiten Neuorganisation der Netzinfrastruktur und des Service der Beklagten aus der Tätigkeit "Disposition" (AtNr. 55425). Der Kläger hat keine Einzelheiten der auf dem Arbeitsplatz "Disposition" anfallenden Tätigkeiten dargelegt.
Der Kläger hat unter Einsatz der PC-Anwendung Aspekt Störaufträge entgegenzunehmen und über den Einsatz von 8 Monteuren, 5 Messbauführern und einer externen Firma zur Behebung der Störung zu entscheiden. Die Aufträge haben verschiedene Prioritäten, die durch den Kunden vorgegeben ist. Großkunden haben eine höhere Priorität als Privatkunden. Aufträge der höchsten Priorität müssen innerhalb von einer Stunde abgearbeitet werden, solche mit der niedrigsten Priorität innerhalb von 24 Stunden. Liegen mehrere Aufträge mit derselben Priorität vor, entscheidet der Kläger, welchen dieser Aufträge er zuerst abarbeitet. Er ruft die nächsten von ihm zu bearbeitenden Fälle nach Erledigung eines Auftrages selbsttätig ab, ohne dass ihm dies das eingesetzte EDV-System vorgibt. Er entscheidet selbständig, ob und wann er Aktualisierungen vornimmt oder Aufträge abruft. Bei der Disposition der Monteure telefoniert er mit diesen zur Erledigung von Rückfragen oder zur Erteilung weiterer Aufträge. Die Monteure melden sich bei ihm in der Regel nach Fertigstellung des Auftrages. Ferner hat er unter Nutzung des Programms Aspekt die erteilten Aufträge zu überwachen und abzuschließen. Er setzt bei seiner Tätigkeit ein Head-Set ein. Die Bearbeitung aller Vorgänge erfolgt papierlos, für die Bearbeitung von Rückfragen oder Planungsunterlagen greift er auf die in der EDV hinterlegten Unterlagen zurück. Er benutzt seit Beginn seiner Tätigkeit auf dem Arbeitsplatz SB PES ein PC-Fax, wobei in der Dienststelle noch ein gesondertes Faxgerät existiert.
Bei der Beklagten gilt der Tarifvertrag zur Belastungsminimierung und zum Datenschutz bei Arbeiten an Bildschirmarbeitsplätzen (Bildschirm-Tarifvertrag) vom 12.12.2001, auf den Bezug genommen wird (Bl. 30 bis 35 d. A.). § 2 Abs. 3 bestimmt:
Arbeitnehmer an Bildschirmgeräten sind Arbeitnehmer, die zu ihrer Aufgabenerledigung ein Bildschirmgerät nutzen.
§ 5 Abs. 5 bestimmt:
Mischarbeitsplätzen ist grundsätzlich der Vorrang einzuräumen. Mischarbeitsplätze sind Arbeitsplätze, die nicht die Voraussetzungen des § 6 Absatz 1 erfüllen.
§ 6 bestimmt:
(1)
Erfordert die Arbeitsaufgabe ablauforganisatorisch arbeitstäglich eine Tätigkeit von mindestens zwei zusammenhängenden Stunden an Bildschirmgeräten, muss für jede geleistete Arbeitsstunde Gelegenheit zu einer Bildschirmpause in Form einer achtminütigen Arbeitsunterbrechung und einer zweiminütigen Blockfreistellung gegeben werden. Der Anspruch besteht nur für jeweils ganze geleistete Stunden.(2)
Arbeitsunterbrechungen und Blockfreistellungen nach Satz 1 entfallen für die jeweils vierte und letzte Arbeitsstunde der Regelarbeitszeit....
(4)
Arbeitsunterbrechung und Blockfreistellung nach Absatz 1 werden auf die Arbeitszeit angerechnet.
Die Protokollnotiz zu § 6 bestimmt:
1. Auf die Arbeitszeit regelmäßig angerechnete Zeiten der Nichtarbeit, wie zum Beispiel Erholungs- und Verteilzeiten kommen, auch wenn sie nicht am Arbeitsplatz zu verbringen sind, nicht zur Anwendung. Die Regelung zur Arbeitsunterbrechung und Blockfreistellung ist insoweit abschließend. Der Tarifvertrag Erholungszeit findet keine Anwendung.
Bei einer nicht ständigen Tätigkeit an Bildschirmgeräten findet neben § 6 der Tarifvertrag Erholungszeit Anwendung. Bei der betrieblichen Umsetzung ist sicherzustellen, dass die Arbeitsunterbrechung nach § 6 dieses Tarifvertrages in diesen Fällen die nach diesem Tarifvertrag maximal zu gewährenden Zeiten nicht überschreitet.
Die Tarifvertragsparteien haben den Begriff "ablauforganisatorisch" konkretisiert. Dieser Begriff ist danach so zu verstehen, dass dem Arbeitnehmer durch ein IV-System oder prozessbedingt vorgegeben wird, wann und/oder in welcher Reihenfolge Arbeiten an Bildschirmgeräten zu erledigen sind.
Die Beklagte überprüfte nach der Neuorganisation den Arbeitsplatz des Klägers nach Maßgabe ihres Anschreibens vom 28.11.2003, auf das Bezug genommen wird (Bl. 41 bis 45 d. A.), und der diesem anliegenden Checkliste (Bl. 46 f. d. A.). Danach erfüllte der Arbeitsplatz des Klägers die Anforderungen des § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV nicht, weil kein kontinuierliches Arbeiten am Bildschirm verlangt werde, sondern immer wiederkehrende, unterschiedlich lange Unterbrechungen der Bildschirmtätigkeiten erfolgten.
Mit seiner nach vergeblicher Aufforderung vom 03.05.2004 erhobenen Klage begehrt der Kläger zuletzt die Gewährung von Arbeitsunterbrechungen und Blockfreistellungen nach § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV sowie die Verurteilung der Beklagten, ihm für die Zeit vom 01.11.2003 bis 28.02.2005 3.216 Minuten Blockfreistellung auf seinem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Der Kläger erhalte keine Vorgaben durch das EDV-System, sondern rufe die nächsten zu bearbeitenden Fälle selbsttätig ab. Ihm würden durch das System keine Eingabeaufforderungen oder Meldungen vorgegeben, die eine sofortige Bearbeitung anordneten. Vielmehr ziehe sich der Kläger selbst die weiteren Aufgaben heran. Er werde insofern aus eigenem Antrieb und nicht auf Vorgabe des Systems tätig.
Gegen diese ihm am 06.05.2005 zugestellte Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner am 01.06.2005 eingelegten und nach Fristverlängerung bis zum 06.09. 2005 am letzten Tag der Frist begründeten Berufung. Er macht geltend, dass ihm (arbeits) prozessbedingt vorgegeben werde, wann und/oder in welcher Reihenfolge er Arbeiten am Bildschirmgerät zu erledigen habe. Er sei zur Erledigung seiner Tätigkeit darauf angewiesen, ständig am Bildschirmgerät zu arbeiten. Ohne dieses könne er seine Tätigkeit nicht verrichten. Ihm werde (arbeits)prozessbedingt vorgegeben, in welcher Reihenfolge er Aufträge am Bildschirmgerät zu bearbeiten habe, da die Störungen verschiedene Prioritäten hätten. Durch die von der Beklagten angewiesenen Vorgaben sei er (arbeits)prozessbedingt gehalten, Arbeiten in einer bestimmten Reihenfolge zu erledigen, wobei er stets das EDV-System und damit das Bildschirmgerät nutze. Dies habe das Arbeitsgericht nicht gewürdigt, sondern nur darauf abgestellt, dass er keine Vorgaben durch die EDV selbst erhalte.
Der Kläger beantragt nach Maßgabe der im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen vom 24.02.2006 erfolgten Klarstellung,
- 1.
das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 22.03.2005 - 1 Ca 1516/04 -abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Dauer der Tätigkeit auf dem Arbeitsplatz als Sachbearbeiter PES At. Nr. 33226 in der derzeitigen Ausgestaltung Arbeitsunterbrechungen und Blockfreistellungen gemäß § 6 Abs. 1 des Bildschirmtarifvertrages in der derzeit geltenden Fassung zu gewähren.
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die seit dem 01.11.2003 bis zum 28.02.2005 geleistete Tätigkeit 3.216 Minuten auf seinem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben (Blockfreistellung).
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte behauptet, die Telefonate erfolgten ohne zwingenden Blickkontakt zum Bildschirm. Darüber hinaus müsse der Kläger auch zur Klärung von Sachfragen mit Vorgesetzten seinen Arbeitsplatz verlassen. Es erfolge daher kein kontinuierliches, von der EDV vorgegebenes Arbeiten am Bildschirm, sondern es liege ein Mischarbeitsplatz vor. Sie ist der Auffassung, dass sich dem Vortrag des Klägers nicht entnehmen lasse, dass die Arbeitsabläufe nach Zeit und/oder Reihenfolge durch die EDV vorgegeben seien. Der Kläger habe nicht dargelegt, auf welchem Weg, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Inhalten prozessbedingte Vorgaben erfolgten.
Auf die Erklärungen der Parteien zu Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 24.02.2006 (Bl. 146 f. d. A.) wird Bezug genommen.
Über die Auslegung von § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV sind nach Angaben der Beklagten etwa 25 Verfahren bundesweit anhängig.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Arbeitsplatz des Klägers erfüllt nicht die tariflichen Anforderungen des § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV.
1.
Der Anspruch auf die vom Kläger begehrten Arbeitsunterbrechungen und Blockfreistellungen setzt nicht nur den - hier unstreitig gegebenen - Einsatz an einem Bildschirmarbeitsplatz, sondern zusätzlich voraus, dass "ablauforganisatorisch" eine Tätigkeit von mindestens zwei zusammenhängenden Stunden an Bildschirmgeräten erforderlich ist. Was unter ablauforganisatorisch zu verstehen ist, haben die Tarifvertragsparteien übereinstimmend festgelegt. Anspruch auf Arbeitsunterbrechungen und Blockfreistellungen nach § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV hat der Arbeitnehmer daher nur, wenn kumulativ
- ihm vorgegeben wird, wann und/oder in welcher Reihenfolge Arbeiten an Bildschirmgeräten zu erledigen sind, wobei diese Vorgabe durch die EDV selbst oder prozessbedingt erfolgen können und
- diese Tätigkeit zusammenhängend mindestens zwei Stunden verrichtet wird.
2.
Nach dem Vortrag des Klägers fehlt es jedenfalls an der ersten dieser beiden Voraussetzungen.
a)
Unstreitig erhält der Kläger keine Vorgaben im tariflichen Sinne durch das Programm Aspekt selbst.
b)
Der Kläger hat auch nicht dargelegt, dass prozessbedingte Vorgaben der Reihenfolge der Arbeit im tariflichen Sinne erfolgen. Nach dem eindeutigen, durch die gemeinsame Auslegung des Begriffs "ablauforganisatorisch" dokumentierten Willen der Tarifvertragsparteien liegt ein Arbeitsplatz im Sinne des § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV nur dann vor, wenn dem Arbeitnehmer vorgegeben wird, wann und/oder in welcher Reihenfolge er Arbeiten am Bildschirmgerät zu erledigen hat. Der Tarifvertrag knüpft also den Anspruch auf die in § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV geregelten Arbeitsunterbrechungen und Blockfreistellungen daran, dass der Arbeitnehmer ohne selbstbestimmte Pausen über mindestens zwei zusammenhängende Stunden hinweg ununterbrochen am Bildschirmgerät tätig werden muss, um die vom Arbeitgeber gestellten Anforderungen zu erfüllen. Nur dann sehen die Tarifvertragsparteien Veranlassung, die von § 5 der Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit an Bildschirmgeräten - Bildschirmarbeitsverordnung - vorgeschriebenen Pausen zwingend zu regeln. Eine derartig feste Bindung der Tätigkeit des Klägers an ein Bildschirmgerät besteht nicht. Dass er für seine Tätigkeit stets ein Bildschirmgerät einsetzt, reicht zur Erfüllung der tariflichen Anforderungen des § 6 Abs. 1 Bildschirm-TV nicht aus. Die ihm von der Beklagten übertragene Tätigkeit ermöglicht ihm ohne weiteres die Einlegung selbstbestimmter Pausen.
Der Kläger bestimmt selbst, ob und wann er Störungsmeldungen abruft. Erhält er innerhalb kurzer Zeit zwei Meldungen mit gleicher Störpriorität, entscheidet er selbständig, welche er wie zuerst bearbeitet. Die Reihenfolge der Arbeiten wird ihm also nicht uneingeschränkt vorgegeben. Dem Kläger verbleibt ein Zeitfenster, das er mit eigener Zeitsouveränität ausfüllen kann (vgl. in diesem Sinne auch Arbeitsgericht Oldenburg, 22.06.2005, 3 Ca 860/04, Bl. 132 d. A.). Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass der Kläger, wie er der Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 24.02.2006 erläutert hat, ein PC-Faxgerät einsetzt. Seine Tätigkeit erfordert damit auch das Übermitteln von Faxmitteilungen. Unstreitig steht dem Kläger auch ein herkömmliches Faxgerät zur Verfügung, das er zur Übermittlung der Faxmitteilungen ebenso einsetzen könnte. Der Kläger kann selbständig entscheiden, ob und wann er ein Fax unter Zuhilfenahme welchen Faxgerätes übermittelt. Dass er auf das ihm zur Verfügung stehende PC-Faxgerät zurückgreift, belegt nicht, dass ihm der Einsatz eines herkömmlichen Faxgerätes unmöglich wäre.
3.
Ob der Kläger Anspruch nach dem TV-Erholungszeit hat (siehe dazu Protokollnotiz zu § 6 Bildschirm-Tarifvertrag), hatte die Kammer nicht zu entscheiden.
4.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
5.
Der Wert wurde auf das 36fache des Gegenwertes von 48 Minuten Arbeitsunterbrechung je Arbeitstag und 12 Minuten Blockfreistellung je Arbeitstag, d. h. einer Stunde je Arbeitstag, festgesetzt (§ 42 Abs. 3 Satz 1 GKG). Die rückständigen Beträge waren nicht hinzuzurechnen (§ 42 Abs. 5 Satz 1 2. Halbsatz GKG).
Die Revision war wegen der erheblichen Anzahl anhängiger, denselben Streitgegenstand betreffender Verfahren zuzulassen.