Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 16.11.2006, Az.: 7 Sa 273/06

Arbeitszeit; Betriebsvereinbarung; Dauer; ohne Lohnausgleich; Sperrwirkung; Tarifvertrag; Tarifvorrang; Umdeutung; Vergütung; Verlängerung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
16.11.2006
Aktenzeichen
7 Sa 273/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 53233
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG - 11.01.2006 - AZ: 4 Ca 395/05

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Göttingen vom 11.01.2006, 4 Ca 395/05, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Parteien streiten im Rahmen eines Musterprozesses über die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit und dabei insbesondere über die Frage, ob diese wirksam in einer Betriebsvereinbarung geregelt werden konnte.

2

Der Kläger ist seit dem 01.06.1982 bei der Beklagten, die ein Unternehmen der Metallindustrie mit ca. 85 Arbeitnehmern betreibt, als Metallarbeiter beschäftigt. Er ist Mitglied der IG Metall, während die Beklagte nicht tarifgebunden ist. Der Kläger ist Vorsitzender des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrats.

3

Bis zum 31.12.2004 betrug die Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit bei der Beklagten 37 Stunden. Durch die erstmals zum 31.12.2006 kündbare Betriebsvereinbarung vom Dezember 2004 wurde die wöchentliche Arbeitszeit ab Januar 2005 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich erhöht.

4

Diese Betriebsvereinbarung lautet auszugsweise wie folgt:

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1. Die wöchentliche Arbeitszeit wird ab Januar 2005 von zur Zeit 37,00 Wochenstunden auf 40,00 Wochenstunden erhöht. Bei Teilzeitkräften erfolgt die Angleichung anteilmäßig.

6

1.a. Im Falle der Arbeitsverhinderung (Urlaub, Krankheit u. sonstige berechtigte Arbeitsverhinderung) muss der Arbeitnehmer die in diesem Zeitraum nicht geleisteten Mehrarbeitsstunden nicht nacharbeiten.

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2. Bezahlung

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Zum Erhalt des Arbeitsplatzes verzichtet der Arbeitnehmer auf die Bezahlung der drei zusätzlich pro Woche geleisteten Mehrarbeitsstunden.

9

Im Falle der betriebsbedingten Kündigung des Arbeitsplatzes hat der Arbeitnehmer Anspruch auf die Nachzahlung der zum Erhalt des Arbeitsplatzes unbezahlt geleisteten Stunden innerhalb der individuellen Kündigungsfrist, höchstens jedoch im Umfang von drei Monaten.

10

Mit Schreiben vom 14.07.2005 kündigte der Betriebsrat die Betriebsvereinbarung fristlos unter Hinweis auf fünf von der Beklagten zum 31.05.2005 ausgesprochene betriebsbedingte Kündigungen sowie die fehlende Bereitschaft der Beklagten, Urlaubsgeld 2005 zu zahlen.

11

Mit der vorliegenden Klage macht der Kläger die Zahlung der Differenzvergütung für die Zeit von Januar bis Juni 2005 auf der Basis einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37 Stunden geltend.

12

Das Arbeitsgericht hat durch ein der Beklagten am 27.01.2006 zugestelltes Urteil vom 11.01.2006, auf dessen Inhalt zur näheren Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und dessen Würdigung durch das Arbeitsgericht Bezug genommen wird (Bl. 44 - 50 d.A.), die Beklagte zur Zahlung von 839,83 € brutto nebst Zinsen verurteilt und festgestellt, dass die Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit 37 Stunden beträgt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Regelung der Betriebsvereinbarung über die Erhöhung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit sei wegen Verletzung des in § 77 Abs. 3 BetrVG enthaltenen Tarifvorbehaltes unwirksam. Im Übrigen gelte im Verhältnis von Arbeitsvertrag zu Betriebsvereinbarung das Günstigkeitsprinzip. Die durch die Betriebsvereinbarung beabsichtigte Erhöhung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich sei für den Kläger ungünstiger als die ursprüngliche arbeitsvertragliche Vereinbarung.

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Hiergegen richtet sich die am 17.02.2006 eingelegte und nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 27.04.2006 am 20.04.2006 begründete Berufung der Beklagten.

14

Die Beklagte ist der Auffassung, das Arbeitsgericht habe nicht hinreichend die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles berücksichtigt. Die Interessenwahrnehmung der Arbeitnehmer im Betrieb der Beklagten durch den Betriebsrat sei derart umfassend, dass insoweit von einer Vertretersituation im Rechtssinne ausgegangen werden dürfe. Auf Initiative des Betriebsrates seien insgesamt 44 Klagen hinsichtlich der streitbefangenen Problematik rechtshängig gemacht worden. Zudem habe der Betriebsratsvorsitzende seine Kollegen jeweils umfassend über die geplanten Vorhaben im Rahmen der Betriebsvereinbarung vom 14.12.2004 informiert. Dementsprechend hätten sämtliche Kollegen dem Betriebsratsvorsitzenden die Erlaubnis oder Genehmigung zum Abschluss einer derartigen Vereinbarung erteilt. Die Betriebsvereinbarung sei deshalb einer arbeitsvertraglichen Änderung gleichzusetzen.

15

Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts finde das Günstigkeitsprinzip für Fälle der vorliegenden Art keine Anwendung.

16

Die Anwendung des § 77 Abs. 3 BetrVG sei für alle nicht dem Arbeitgeberverband angeschlossenen Arbeitgeber ausgeschlossen. § 77 Abs. 3 BetrVG entfalte keine Sperrwirkung für Nichtmitglieder des Arbeitgeberverbandes.

17

Sofern man die Anwendbarkeit des Tarifvertrages bejahe, seien auch die Ausschlussfristen zu beachten.

18

Die Beklagte beantragt,

19

unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils des Arbeitsgerichts Göttingen die Klage abzuweisen.

20

Der Kläger beantragt,

21

die Berufung zurückzuweisen.

22

Er verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe des Schriftsatzes seines Prozessbevollmächtigten vom 22.06.2006.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Beklagten ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig, §§ 519, 520 ZPO, 64, 66 ArbGG.

24

Sie ist jedoch nicht begründet.

25

Das Arbeitsgericht ist zu Recht und mit zutreffender Begründung zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger gegen die Beklagte noch einen Anspruch auf Zahlung von 839,83 € brutto nebst Zinsen hat und dass die regelmäßige Arbeitszeit für ihn 37 Stunden beträgt. Das Landesarbeitsgericht macht sich die Entscheidungsgründe des arbeitsgerichtlichen Urteils zu Eigen und nimmt hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug.

26

Die Berufungsbegründung der Beklagten gibt Anlass zu folgenden ergänzenden Bemerkungen:

27

Die Betriebsvereinbarung über eine Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich ist gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam. Nach dieser Vorschrift können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, es sei denn, ein Tarifvertrag lässt den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zu. Eine gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstoßende Betriebsvereinbarung ist unwirksam (BAG vom 20.04.1999, 1 AZR 631/98).

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Arbeitsbedingungen sind dann durch Tarifvertrag geregelt, wenn über sie ein Tarifvertrag abgeschlossen worden ist und der Betrieb in den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages fällt. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, von der abzuweichen kein Anlass besteht, hängt die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG dabei nicht davon ab, dass der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Denn die Vorschrift soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisten. Dazu räumt sie den Tarifvertragsparteien den Vorrang bei der Regelung von Arbeitsbedingungen ein. Arbeitgeber und Betriebsrat sollen weder abweichende noch auch nur ergänzende Betriebsvereinbarungen mit normativer Wirkung für den Betrieb abschließen können. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie wird auch dann gestört, wenn nicht tarifgebundene Arbeitgeber kollektivrechtliche Konkurrenzregelungen in Form von Betriebsvereinbarungen treffen. Für das Bedürfnis nach betriebsnaher Regelung stehen Firmentarifverträge als kollektivrechtliche Gestaltungsmittel zur Verfügung (so ausdrücklich BAG vom 20.11.2001, 1 AZR 12/01, NZA 2002, 872).

29

Der Betrieb der Beklagten fällt unter den Geltungsbereich des Manteltarifvertrages für die Beschäftigten in der niedersächsischen Metallindustrie (MTV). § 3 MTV regelt die regelmäßige Arbeitszeit. Bei der Dauer der Arbeitszeit handelt es sich mithin um Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind. Der von der Beklagten mit ihrem Betriebsrat abgeschlossenen Betriebsvereinbarung steht deshalb die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG entgegen. Die Betriebsvereinbarung ist unwirksam.

30

Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG wird vorliegend nicht durch den Vorrang der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG aufgehoben. Denn bezüglich der Dauer der Arbeitszeit steht dem Betriebsrat nach dieser Vorschrift ein Mitbestimmungsrecht nicht zu. Dieses besteht vielmehr lediglich hinsichtlich Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) und bezüglich der vorübergehenden Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit (§ 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). Für die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit hat der Gesetzgeber dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht demgegenüber nicht eingeräumt.

31

Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung kann die abgeschlossene Betriebsvereinbarung nicht nach § 140 BGB in eine individualrechtliche Regelung umgedeutet werden. Zwar ist eine derartige Umdeutung nicht völlig ausgeschlossen, an eine Umdeutung sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Sie kommt nur in Betracht, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, der Arbeitgeber habe sich auf jeden Fall verpflichten wollen, den Arbeitnehmern die in der unwirksamen Betriebsvereinbarung vorgesehenen Leistungen zukommen zu lassen (BAG vom 24.01.1996, 1 AZR 597/95, AP Nr. 8 zu § 70 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt).

32

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Die Beklagte hat vorliegend gerade nicht versucht, das von ihr gewünschte Ziel einer Verlängerung der regelmäßigen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich auf individualrechtlicher Ebene durch Änderungsvereinbarungen mit ihren Mitarbeitern zu erreichen. Vielmehr wurde bewusst der Abschluss einer Betriebsvereinbarung angestrebt in dem Vertrauen darauf, die gewünschte Arbeitszeitverlängerung dann auch auf alle Arbeitsverhältnisse unabhängig von der jeweils individuellen Zustimmung der betroffenen Arbeitnehmer durchführen zu können. Die Betriebsparteien wollten somit eine Regelung treffen, deren Geltung in den einzelnen Arbeitsverhältnissen gerade nicht auf einzelvertraglicher Grundlage beruhen und von der sich die Beklagte und der Betriebsrat für die Zukunft mit den Mitteln des Betriebsverfassungsrechts wieder lösen können sollte. (vgl. BAG vom 20.11.2001, 1 AZR 12/01, a.a.O.).

33

Hinzu kommt, dass der Betriebsrat auch nicht als rechtsgeschäftlicher Vertreter der einzelnen Arbeitnehmer gehandelt hat. Eine entsprechende Bevollmächtigung ist im Betriebsverfassungsgesetz nicht vorgesehen. Vielmehr werden dem Betriebsrat Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in den Bereichen des Arbeitslebens eingeräumt, die sonst im Rahmen der Arbeitsverträge weitgehend dem Direktionsrecht des Arbeitgebers offen stehen. Insoweit hat der Betriebsrat kollektiv die Interessen der Belegschaft wahrzunehmen und gegebenenfalls auch die Befugnis, Betriebsvereinbarungen mit normativer Wirkung abzuschließen. Jedoch hat er keine Vertretungsbefugnis im Einzelfall, soweit ihm oder einzelnen Mitgliedern nicht ausdrücklich entsprechende Vollmachten durch den oder die Arbeitnehmer erteilt wurden (LAG Baden-Württemberg vom 16.01.1997, 11 Sa 101/96, NZA-RR 1997, 387).

34

Aus dem Umstand, dass der Betriebsrat vorliegend die Mitarbeiter umfassend über die geplanten Vorhaben im Rahmen der im Streit stehenden Betriebsvereinbarung informiert hat, folgt nicht, dass diese den Betriebsrat auch zur Änderung der jeweiligen Arbeitsverträge bevollmächtigt haben. Vielmehr ist eine umfassende Information der Mitarbeiter durch den Betriebsrat dessen selbstverständliche Pflicht. Wenn die Beklagte davon ausgeht, dass ihre Mitarbeiter die Erlaubnis oder Genehmigung zum Abschluss einer derartigen Vereinbarung erteilt haben, so kann sich diese bei verständiger Würdigung nur auf die im Streit stehende Betriebsvereinbarung, nicht jedoch auf eine weitergehende Änderung der Arbeitsverträge jedes einzelnen Mitarbeiters beziehen.

35

Genauso wenig kann angenommen werden, dass die Arbeitnehmer der Beklagten ein möglicherweise in der Betriebsvereinbarung enthaltenes vertragliches Angebot der Beklagten auf Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich stillschweigend durch Weiterarbeit nach § 151 BGB individualrechtlich angenommen haben. Das Verhalten der Arbeitnehmer kann nur dahin gewertet werden, dass sie in Vollzug der (unwirksamen) Betriebsvereinbarung die Verlängerung der regelmäßigen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich zunächst hingenommen haben.

36

Das Arbeitsgericht hat auch zu Recht darauf hingewiesen, dass der Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung das Günstigkeitsprinzip entgegenstehen würde. Im Verhältnis einer Betriebsvereinbarung zu dem Tarifvertrag findet das Günstigkeitsprinzip zwar keine Anwendung, weil § 77 Abs. 3 BetrVG insoweit § 4 Abs. 3 TVG verdrängt (Erfurter Kommentar-Kania, § 77 BetrVG RN 40). Im Verhältnis einer Betriebsvereinbarung zu einem Arbeitsvertrag erfolgt demgegenüber grundsätzlich ein individueller Günstigkeitsvergleich (Erfurter Kommentar-Kania, § 77 BetrVG RN 68), der vorliegend zulasten der Beklagten ausgeht.

37

Der Kläger musste schließlich entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung auch nicht die Ausschlussfrist des Manteltarifvertrages der niedersächsischen Metallindustrie einhalten. Dieser Tarifvertrag findet nämlich unstreitig mangels Tarifbindung der Beklagten auf das Arbeitsverhältnis nicht Anwendung. Im Übrigen macht der Kläger in dem vorliegenden Verfahren auch keinen Anspruch aus diesem Manteltarifvertrag geltend, sondern einen Anspruch aus seinem Arbeitsvertrag, der zumindest durch betriebliche Übung entstanden ist.

38

Die Berufung der Beklagten war mit der Kostenfolge des § 97 ZPO zurückzuweisen.

39

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Gegen dieses Urteil ist deshalb ein Rechtsmittel nicht gegeben.

40

Auf die Möglichkeiten der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG wird hingewiesen.