Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 07.03.2012, Az.: 2 Sa 1024/10

Tarifliche Entfernungsentschädigung in fortwirtschaftlicher Verwaltung; Zahlungsklage eines Forstwirts bei arbeitsvertraglicher Beschäftigung an gleichem Arbeitsort

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
07.03.2012
Aktenzeichen
2 Sa 1024/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 15419
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2012:0307.2SA1024.10.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BAG - 21.01.2014 - AZ: 9 AZR 434/12

Amtlicher Leitsatz

Der Anspruch auf eine Entfernungsentschädigung gemäß § 23 Abs. 7 TV-Forst setzt eine Einsatzwechseltätigkeit voraus.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 26. Mai 2010 - 3 Ca 76/10 - abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entfernungsentschädigung gemäß § 23 Abs. 7 TV-Forst (Tarifvertrag zur Regelung der Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in forstwirtschaftlichen Verwaltungen, Einrichtungen und Betrieben der Länder).

2

Der am 24. März 1957 geborene Kläger ist seit dem 1. Oktober 1977 bei der Beklagten als Forstwirt beschäftigt. In dem Arbeitsvertrag vom 25. März 1983 heißt es unter anderem (Bl. 94, 95 d. A.):

3

"...

4

§ 2

5

Für das Arbeitsverhältnis gilt der Manteltarifvertrag für Waldarbeiter der Länder und der Mitglieder der Kommunalen Arbeitgeberverbände Rheinland-Pfalz und Saarland (MTW) vom 26. Januar 1982 und die diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge in der für den Arbeitgeber geltenden Fassung. Außerdem finden die für den Arbeitgeber jeweils geltenden sonstigen Tarifverträge Anwendung.

6

..."

7

Am 8. November 2000 erlitt der Kläger einen schweren Arbeitsunfall. Nach der Arbeitsaufnahme im Februar 2002 ereignete sich am 10. Februar 2003 ein weiterer Arbeitsunfall. Der Kläger konnte nicht mehr dauerhaft in der Waldarbeit eingesetzt werden.

8

Mit Wirkung vom 1. April 2004 wurde er vom damaligen Niedersächsischen Forstamt Deister zur weiteren Arbeitsleistung im Wisentgehege an das Niedersächsische Forstamt Saupark zunächst abgeordnet und später versetzt.

9

Unter dem 31. August 2006 schlossen die Parteien einen Änderungsvertrag zum Arbeitsvertrag. Darin verpflichtete sich der Kläger zur Fortbildung und Qualifizierung, um danach die Tätigkeiten im Kassenbereich des Wisentgeheges erfüllen zu können. Seit 2007 erbringt der Kläger seine Arbeitsleistung im Kassenbereich des Wisentgeheges. Dort ist seine ständige Arbeitsstelle.

10

Mit Wirkung zum 1. Januar 2008 trat der TV-Forst an die Stelle des MTW. In § 23 TV-Forst heißt es:

11

"Besondere Zahlungen

12

...

13

(7)

Benutzt der/die Beschäftigte sein/ihr Kraftfahrzeug für die Fahrtstrecke von seiner Wohnung zur ersten Arbeitsstelle und von der letzten Arbeitsstelle zurück zur Wohnung, erhält er/sie eine Entfernungsentschädigung. Die Entfernungsentschädigung wird ab dem 31. Kilometer gewährt; Hinfahrt und Rückfahrt sind jeweils gesondert zu betrachten. Sie beträgt bei einem Kraftfahrzeug mit einem Hubraum

a) bis 600 ccm

0,18 Euro,

b) von mehr als 600 ccm

0,30 Euro.

14

Mit neu eingestellten Beschäftigten kann abweichend von Satz 1 auch ein anderer Ort als der Wohnort für die Gewährung der Entfernungsentschädigung im Arbeitsvertrag vereinbart werden.

15

Verlegt der/die Beschäftigte aus persönlichen Gründen seinen/ihren Wohnsitz, erhöht sich dadurch der Anspruch auf Entfernungsentschädigung nach den Sätzen 1 bis 4 nicht.

16

..."

17

Die Anwendung des TV-Forst auf das Arbeitsverhältnis der Parteien ist unstreitig. Unter Zugrundelegung der Strecke ab dem 31. Kilometer, die der Kläger arbeitstäglich von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstelle und zurück mit seinem Kraftfahrzeug gefahren ist, ermittelt sich gemäß § 23 Abs. 7 TV-Forst für den Zeitraum von Juli 2009 bis Dezember 2009 eine Entfernungsentschädigung in Höhe von 230,40 € netto (Bl. 6 bis 11 d. A.) und für den Zeitraum Januar bis April 2010 eine Entfernungsentschädigung in Höhe von 115,20 € netto. Die Berechnung der Entfernungsentschädigung ist zwischen den Parteien rechnerisch unstreitig.

18

Mit Schreiben vom 2. Februar 2010 machte der Kläger gegenüber der Beklagten vergeblich die Entfernungsentschädigung für die Monate Juli 2009 bis Dezember 2009 geltend (Bl. 4 d. A.).

19

Mit seiner am 19. Februar 2010 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hat die Ansicht vertreten, der Anspruch auf Entfernungsentschädigung gemäß § 23 Abs. 7 TV-Forst setze keine Einsatzwechseltätigkeit voraus.

20

Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen,

21

1.) an den Kläger 230,40 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 24. Februar 2010 zu zahlen,

22

2.) an den Kläger weitere 115,20 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB seit 1. Mai 2010 zu zahlen.

23

Die Beklagte hat beantragt,

24

die Klage abzuweisen.

25

Sie hat die Ansicht vertreten, ein Anspruch auf Entfernungsentschädigung stehe nur denjenigen Beschäftigten zu, die bedingt durch Organisations- und Flächenvergrößerungen der Forstbetriebe längere Anfahrtswege zu und von der Arbeitsstelle in Kauf nehmen müssten. Gemäß diesem Sinn und Zweck sei § 23 Abs. 7 TV-Forst einschränkend dahingehend auszulegen, dass nur den Organisationsbetroffenen ein Anspruch auf Entfernungsentschädigung zustehe. Der Kläger hingegen müsse nicht aufgrund von Organisations- oder Flächenvergrößerungen längere Anfahrtswege bewältigen. Vielmehr sei der zwischen den Parteien einvernehmlich vereinbarte Wechsel seiner Arbeitsstelle eine Folge seiner dauerhaften Erkrankung. Ferner stehe dem Kläger auch deshalb kein Anspruch auf eine Entfernungsentschädigung zu, weil § 23 Abs. 7 TV-Forst nach seinem Wortlaut wechselnde Arbeitsstellen voraussetze. Die Vorschrift unterscheide zwischen den Fahrtstrecken "von der Wohnung zur ersten Arbeitsstelle" und "von der letzten Arbeitsstelle zurück zur Wohnung".

26

Mit Urteil vom 26. Mai 2010 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Ein Anspruch auf Entfernungsentschädigung gemäß § 23 Abs. 7 TV-Forst stehe nicht nur denjenigen Mitarbeitern zu, deren Fahrtstrecke zwischen Wohnung und Arbeitsstelle sich organisationsbedingt verlängert habe. Ein entsprechender Wille der Tarifvertragsparteien habe im Tarifvertrag keinen Niederschlag gefunden. Weder der tarifliche Gesamtzusammenhang noch die Tarifgeschichte gebe eine derartige Intention der Tarifvertragsparteien her. Auch erfordere der Wortlaut des § 23 Abs. 7 TV-Forst ebenso wie der Zweck der Tarifnorm nicht, dass der Beschäftigte eine Wechseltätigkeit an verschiedenen Einsatzorten ausübe.

27

Das Urteil des Arbeitsgerichtes ist der Beklagten am 19. Juni 2010 zugestellt worden. Hiergegen hat sie mit einem am 1. Juli 2010 beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 16. August 2010 eingegangenen Schriftsatz begründet.

28

Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte das erstinstanzliche Ziel der Klagabweisung weiter. Sie vertritt die Ansicht, § 23 Abs. 7 TV-Forst erfasse lediglich Beschäftigte, bei denen sich die Fahrtstrecken zwischen Wohnung und Arbeitsstellen in Forstbetrieben organisationsbedingt verlängert hätten. Ferner setze die Entfernungsentschädigung eine Wechseltätigkeit an verschiedenen Einsatzorten voraus. Aus der Systematik der Entschädigungsregelung in § 23 Abs. 7 TV-Forst und dem Ausnahmecharakter einer Fahrtkostenentschädigung für die Fahrten zwischen Wohn- und Arbeitsstelle sei abzuleiten, dass nicht jeder Mitarbeiter, der die persönlichen und fachlichen Voraussetzungen des TV-Forst erfülle, eine Entfernungsentschädigung erhalten solle. § 23 Abs. 7 TV-Forst nenne ausdrücklich die "erste Arbeitsstelle" und die "letzte Arbeitsstelle". Daraus folge das grundsätzliche Erfordernis einer wechselnden Tätigkeit an verschiedenen Arbeitsstellen, weil der Beschäftigte einen Mehraufwand habe, wenn er mit seinem Privat-Pkw verschiedene Arbeitsstellen anfahren müsse.

29

Die Beklagte beantragt,

30

das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 26. Mai 2010 - 3 Ca 76/10 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

31

Der Kläger beantragt,

32

die Berufung zurückzuweisen.

33

Er verteidigt das angefochtene Urteil als zutreffend nach Maßgabe seiner Berufungserwiderung vom 5. Oktober 2010 (Bl. 183 ff. d. A.).

34

Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf den Inhalt der zu den Akten gereichten Schriftsätze und deren Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

35

I. Die gemäß § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher insgesamt zulässig (§§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).

36

II. Die Berufung der Beklagten ist begründet.

37

Der Kläger kann von der Beklagten nicht gemäß §§ 611 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag in Verbindung mit § 23 Abs. 7 TV-Forst die Zahlung einer Entfernungsentschädigung verlangen. § 23 Abs. 7 TV-Forst ist dahingehend auszulegen, dass die Zahlung der Entfernungsentschädigung nicht für Personen wie den Kläger in Betracht kommt, die arbeitstäglich immer den gleichen Arbeitsort mit ihrem Privat-Kfz aufsuchen.

38

1. Die Auslegung des normativen Teiles eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Ausgehend vom Tarifwortlaut ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Erlaubt der Wortlaut kein abschließendes Ergebnis, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in der tariflichen Norm seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und oft nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm ermittelt werden kann. Ergänzend können weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte, die faktische Tarifübung oder die Praktikabilität einer Auslegung herangezogen werden. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorrang, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 15. März 2011 - 9 AZR 862/09 - ZTR 2011, 553; BAG 20. Januar 2009 - 9 AZR 677/07 - BAGE 129, 131 = AP TVG § 1 Altersteilzeit Nr. 43).

39

2. § 23 Abs. 7 TV-Forst ist dahingehend auszulegen, dass regelmäßig die Mitarbeiter für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle keine Fahrtkostenentschädigung verlangen können. Es widerspräche der Grundregelung des Arbeitsrechtes, dass der Arbeitgeber für die Entfernung zwischen Wohnort und Arbeitsstelle finanziell verantwortlich ist und eine entsprechende Entfernungsentschädigung zahlt. Dies wäre insbesondere bei größeren Entfernungen, die allein auf privaten Lebensentscheidungen der einzelnen Arbeitnehmern beruhen, auch hin und wieder grob unbillig (LAG Mecklenburg-Vorpommern, 30. Juni 2010 - 2 Sa 322/09 - ZTR 2011, 104).

40

3. Hiervon abweichend enthält § 23 Abs. TV-Forst Ausnahmeregelungen. Jeder Absatz enthält einen besonderen Zahlungsanspruch, der jeweils an die Erfüllung besonderer Voraussetzungen geknüpft ist. Den Regelungen in § 23 Abs. 5 bis 8 TV-Forst ist gemeinsam, dass sie voraussetzen, dass dem Beschäftigten bei der Erfüllung seiner Arbeitsverpflichtung Mehraufwendungen entstehen, die nach Maßgabe von § 23 Abs. 5 bis 8 TV-Forst ausgeglichen werden sollen.

41

In § 23 Abs. 5 TV-Forst ist eine Kraftfahrzeugentschädigung für die Fahrten eines Mitarbeiters zur Erledigung eines dienstlichen Auftrages während der Arbeitszeit mit seinem eigenen Kraftfahrzeug enthalten. In § 23 Abs. 6 TV-Forst ist eine Transportentschädigung geregelt, nach der der Beschäftigte Aufwendungen erstattet erhält, falls er außerhalb der Arbeitszeit auf Anforderung des Arbeitgebers mit seinem Kraftfahrzeug betriebseigenes Gerät oder Material transportiert.

42

Nach § 23 Abs. 7 TV-Forst erhält derjenige Mitarbeiter eine Entfernungsentschädigung, der mit dem eigenen Kraftfahrzeug von der Wohnung zur ersten Arbeitsstelle und von der letzten Arbeitsstelle zurück zu seiner Wohnung fährt, wobei die Entfernungsentschädigung nur ab dem 31. Entfernungskilometer der jeweiligen Strecke gewährt wird. Dabei sind Hin- und Rückfahrt gesondert zu betrachten. Eine bestimmte "Wechseltätigkeit" mit verschiedenen Arbeitsstellen (pro Arbeitstag) wird zwar nicht ausdrücklich gefordert, jedoch ist aus der Formulierung "erste Arbeitsstelle" und "letzte Arbeitsstelle" zu schließen, dass die Vorschrift auf wechselnde Arbeitsstellen des Mitarbeiters abstellt. Ob § 23 Abs. 7 TV-Forst voraussetzt, dass die wechselnden Tätigkeiten von Mitarbeitern ständig auszuüben sind oder ob bereits ein gelegentlicher Wechsel des Arbeitsortes ausreichend ist, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden. Jedenfalls aus der Differenzierung zwischen "erster" und "letzter" Arbeitsstelle ist zu schließen, dass die Arbeitsstelle gewechselt werden muss. Dies ist beim Kläger nicht der Fall. Er hat eine feste Arbeitsstelle im Kassenbereich des Wisentgeheges. Der Kläger beginnt und verlässt seine Arbeit jeweils am selben Arbeitsort. Er ist nicht mit einem Waldarbeiter vergleichbar, der morgens von seinem Wohnort in das Revier fährt und dort aufgrund unterschiedlicher Arbeitsaufträge an verschiedenen Einsatzorten forstspezifische Aufgaben erbringt. Dessen Arbeit wird gerade von wechselnden Einsatzorten in der Weise geprägt, dass der erste und der letzte Arbeitsort nicht immer miteinander identisch sind.

43

Für eine einschränkende Auslegung des § 23 Abs. 7 TV-Forst spricht auch, dass gerade Personen mit Einsatzwechseltätigkeit typischerweise gezwungen sind, mit dem eigenen Pkw anzureisen, weil sie es üblicherweise noch für einen Wechsel des Arbeitsortes benötigen. Personen mit einem festen Arbeitsort wie der Kläger können auch andere Möglichkeiten nutzen, ihre Arbeitsstelle aufzusuchen, sei es durch Fahrgemeinschaften oder durch öffentliche Verkehrsmittel.

44

4. Die Durchführungshinweise zur Entfernungsentschädigung stehen der einschränkenden Auslegung nicht entgegen. Sie enthalten lediglich Beispiele zur Berechnung der Entfernungsentschädigung.

45

Der Kläger hat deshalb keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Entfernungsentschädigung. Die Klage ist abzuweisen.

46

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, 46 Abs. 2 ArbGG.

47

Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG, insbesondere im Hinblick auf das Verfahren vor der Bundesarbeitsgericht - 9 AZR 518/10 -.