Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.01.2012, Az.: 3 Sa 1087/11
Höhe der Jahressonderzahlung für Beschäftigte des ehemaligen AWO-Bezirksverbandes Weser-Ems; Zahlungsklage einer Arbeiterin
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 17.01.2012
- Aktenzeichen
- 3 Sa 1087/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 11972
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2012:0117.3SA1087.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Oldenburg - 07.06.2011 - AZ: 5 Ca 483/10
Rechtsgrundlagen
- § 611 Abs. 1 BGB
- § 613 a Abs. 2 BGB
- ehemaliger AWO-Bezirksverband Weser-Ems § 19 Abs. 1 MTV
- ehemaliger AWO-Bezirksverband Weser-Ems § 19 Abs. 2 MTV
- ehemaliger AWO-Bezirksverband Weser-Ems § 35 MTV
Amtlicher Leitsatz
Die Auslegung von § 19 MTV für die Beschäftigten des ehemaligen AWO-Bezirksverbandes Weser-Ems vom 11.09.2009 ergibt, dass die Arbeitnehmer Anspruch auf eine Jahressonderzahlung für das Jahr 2009 in Höhe eines prozentualen Anteils von jedenfalls 60% haben. Auch wenn die unterschiedlichen Prozentsätze für die einzelnen Entgeltgruppen bisher nicht geregelt wurden, ist die tarifliche Regelung wegen des grundsätzlichen Bestehens eines Anspruchs in Höhe von zumindest 60% des Entgelts nicht lückenhaft.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 07.06.2011 - 5 Ca 483/10 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über eine Jahressonderzahlung gemäß § 19 des Manteltarifvertrages für die Beschäftigten des ehemaligen AWO Bezirksverbandes Weser-Ems vom 11.09.2009 (im Folgenden: MTV).
Die Klägerin war seit dem 01.07.1996 als Arbeiterin in der Wäscherei beim AWZ Bramsche beschäftigt. Arbeitgeberin war zunächst die Beklagte zu 1). Zum 01.03.2010 ging das Arbeitsverhältnis im Zuge der Ausgliederung des Hauswirtschaftsbereichs auf die Beklagte zu 2) über.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden für die AWO-Gruppe Weser-Ems geltenden Tarifverträge Anwendung. Zunächst galt der Bundesmanteltarifvertrag vom 01.11.1997 (im Folgenden: BMT-AW II). Dieser Tarifvertrag sah ursprünglich eine Jahressonderzahlung in Höhe von 100 % der Bemessungsgrundlage vor, die durch spätere Zusatzverträge eingefroren wurde. Ab 2003 galten verschiedene Restrukturierungstarifverträge. Im September 2006 schloss die Beklagte mit der Gewerkschaft ver.di mehrere neue Tarifverträge für die Beschäftigten der AWO-Gruppe, unter anderem einen neuen MTV, der unter § 19 wegen der Jahressonderzahlung folgende Regelung enthält:
§ 19 Jahressonderzahlung
(1) Beschäftigte, die am 1. Dezember im Arbeitsverhältnis stehen, haben Anspruch auf eine Jahressonderzahlung.
(2) die Jahressonderzahlung beträgt bei Beschäftigten,
in den Entgeltgruppen X bis X | 90 v.H., |
---|---|
in den Entgeltgruppen X bis X | 80 v.H. und |
in den Entgeltgruppen X bis X | 60 v.H. |
des der/dem Beschäftigten in den Kalendermonaten Juli, August und September durchschnittlich gezahlten monatlichen Entgelts; unberücksichtigt bleiben hierbei das zusätzlich für Überstunden gezahlte Entgelt (mit Ausnahme der im Dienstplan vorgesehenen Überstunden), Leistungszulagen, Leistungs- und Erfolgsprämien. Der Bemessungssatz bestimmt sich nach der Entgeltgruppe an 1. September. Bei Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis nach dem 30. September begonnen hat, tritt an die Stelle des Bemessungszeitraums der erste volle Kalendermonat des Arbeitsverhältnisses. (...)
Gleichzeitig schlossen die Tarifvertragsparteien einen Tarifvertrag zum Ausgleich des strukturellen Defizits der Unternehmensgruppe des ehemaligen AWO-Bezirksverbandes Weser-Ems (im Folgenden TV AstD). Hierdurch wurde § 19 MTV außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig regelte der TV AstD Ausgleichsleistungen für ver.di - Mitglieder. Dieser Tarifvertrag konnte frühestens zum 30.06.2009 gekündigt werden, eine Nachwirkung wurde ausgeschlossen.
Die Tarifvertragsparteien konnten sich in der Folgezeit nicht auf eine neue Entgeltordnung einigen. Die Eingruppierung neu eingestellter Arbeitnehmer erfolgt seit Juli 2008 anhand eines eigenen Systems, das sich an die Regelungen des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst anlehnt. Die Gewerkschaft ver.di kündigte den TV AstD zum 30.06.2009.
In dem Zeitraum vor dem 01.03.2010 überreichte die Klägerin der Einrichtungsleiterin, Frau Kolenbach-Payonk ein Schreiben, mit dem sie für das Jahr 2009 eine Jahressonderzahlung geltend machte. Dieses Schreiben hat auszugsweise folgenden Inhalt:
"Wie ich meiner Lohn- Gehaltsabrechnung vom November 2009 entnommen habe, wurde mir die o.g. Jahressonderzahlung nicht ausgezahlt."
Dieses Schreiben trägt die Unterschrift der Klägerin. Unter dem 14.04.2010 überreichte die Klägerin Frau Kolenbach-Payonk ein weiteres Geltungsmachungsschreiben, in dem es auszugsweise heißt:
"Hiermit mache ich 90 % des durchschnittlich gezahlten monatlichen Entgelts der Kalendermonate Juli, August und September 2009 als Jahressonderzahlung für 2009 geltend."
Ob dieses Schreiben bei Übergabe tatsächlich von der Klägerin unterzeichnet war, ist zwischen den Parteien streitig. Unstreitig handelt es sich bei der Frau Kolenbach-Payonk um die Einrichtungsleiterin des AWZ Bramsche. Sie war und ist Ansprechpartnerin des Betriebsrats in betriebsverfassungsrechtlichen Fragen sowie zuständig für die Abwicklung der Arbeitsverhältnisse vor Ort, insbesondere Urlaubsgewährung und Entgegennahme von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, aus § 19 Abs. 1 MTV ergebe sich dem Grunde nach ein Anspruch auf eine Jahressonderzahlung. Dieser betrage gemäß Absatz 2 mindestens 60 % des durchschnittlichen monatlichen Entgelts.
Die Klägerin hat behauptet, sie gehe davon aus, dass sie das Schreiben vom 14.04.2010 der Einrichtungsleitung in unterschriebener Form überreicht habe.
Die Klägerin hat nach teilweiser Klagerücknahme zuletzt beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 582,92 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.12.2009 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie haben die Ansicht vertreten, § 19 MTV könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass der Klägerin eine Jahressonderzahlung zustehe. Diese Regelung sei auch nicht etwa einer ergänzenden Tarifauslegung zugänglich. Vielmehr hätten die Tarifvertragsparteien bewusst eine unvollständige Regelung getroffen, die bis heute nicht vervollständigt sei. Das Geltendmachungsschreiben vom 14.04.2010 reiche zur Wahrung der Ausschlussfrist nicht aus, weil es nicht in unterzeichneter Form vorliege. Das frühere Geltendmachungsschreiben genüge den rechtlichen Anforderungen an eine wirksame Geltendmachung nicht, weil dort die Höhe des behaupteten Anspruchs nicht einmal ungefähr beziffert sei.
Durch Urteil vom 07.06.2011 hat das Arbeitsgericht die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 582,92 € nebst Zinsen zu zahlen und die Kosten des Rechtsstreits den Beklagten zu 5/8 und der Klägerin zu 3/8 auferlegt. Das Arbeitsgericht hat den Streitwert auf 582,92 € festgesetzt und die Berufung zugelassen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 88 Rs. bis 90 d.A.) verwiesen. Das Urteil ist den Beklagten am 05.07.2011 zugestellt worden. Sie haben hiergegen am 27.07.2011 Berufung eingelegt und diese am 02.09.2011 begründet.
Die Beklagten vertreten die Ansicht, eine Geltendmachung gegenüber Frau Kolenbach-Payonk könne die Ausschlussfrist gegenüber der Beklagten zu 2) schon deshalb nicht wahren, weil Frau Kolenbach-Payonk nach wie vor Arbeitnehmerin der Beklagten zu 1) sei, während die Klägerin dort zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr beschäftigt gewesen sei. Im Übrigen finde die vom Arbeitsgericht zugrunde gelegte Behauptung, es sei unstreitig, dass die Einrichtungsleitung die Geltendmachungsschreiben an die Beklagten weitergeleitet habe, hat im Tatbestand des Urteils keine Stütze. Insoweit spekuliere das Arbeitsgericht, anstatt seine Entscheidung auf einen unstreitigen Sachverhalt zu stützen. Zudem sei der Anspruch schon im Grunde nach nicht gegeben. Bei § 19 MTV handele es sich um eine unvollständige Regelung. Aus der Bestimmung ergebe sich gerade nicht, dass jeder Beschäftigte eine Jahressonderzahlung erhalten solle. Möglicherweise könnten Tarifverhandlungen ergeben, dass einzelne Entgeltgruppen von einer Jahressonderzahlung ausgeschlossen würden. Das Arbeitsgericht weiche bei seiner Entscheidung auch insoweit von der tariflichen Regelung ab, als es für die Berechnung der Jahressonderzahlung an das aktuelle Gehalt anknüpfe.
Die Beklagten beantragen,
das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 07.06.2011 - 5 Ca 483/10 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 16.09.2011 (Bl. 131 - 135 d.A.).
Wegen des weiteren Sachvorbringens der Parteien wird auf die in beiden Instanzen überreichten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I. Die Berufung der Beklagten ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig (§§ 66, 64 ArbGG, 519, 520 ZPO).
II. Die Berufung ist jedoch nicht begründet, weil das Arbeitsgericht den Rechtsstreit zutreffend entschieden hat.
Die Beklagten sind gemäß § 19 MTV verpflichtet, an die Klägerin eine Jahressonderzahlung für 2009 in Höhe von 60 % des durchschnittlichen Bruttomonatsgehalts der Monate Juli bis September 2009 zu zahlen. In diesem Punkt ist die tarifliche Regelung nicht lückenhaft. Einer ergänzenden Tarifauslegung bedarf es - jedenfalls wegen eines 60%igen Anspruchs - gerade nicht. Dies ergibt sich aus der Auslegung des § 19 Abs. 1 und Abs. 2 MTV. Die gesamtschuldnerische Haftung beider Beklagten folgt aus § 613 a Abs. 2 BGB. Entgegen der Ansicht der Beklagten steht dem geltend gemachten Anspruch auch nicht die tarifliche Ausschlussfrist entgegen.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig ist, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. z.B. BAG, Urteil vom 12.09.1984 - 4 AZR 336/82 - AP 135 zu § 1 TVG Auslegung = NZA 85, 160; BAG, Urteil vom 05.10.1999 - 4 AZR 578/98 - AP 15 zu § 4 TVG Verdienstsicherung = NZA 2000, 268 [BAG 05.10.1999 - 4 AZR 578/98]).
2. a) Aus dem Wortlaut von § 19 Abs. 1 MTV folgt, dass ein Anspruch auf eine Jahressonderzahlung dem Grunde nach besteht. Dies wird durch die Regelung in § 19 Abs. 2 MTV auch nicht in Frage gestellt. Hier wird zwar nach Entgeltgruppen differenziert, es besteht jedoch kein Anhaltspunkt dafür, dass hierbei bestimmte Entgeltgruppen von dem Anspruch auf eine Jahressonderzahlung ausgeschlossen werden sollten. Wäre eine solche Regelung beabsichtigt gewesen, hätte es viel näher gelegen, bereits in Absatz 1 zu formulieren, dass der Anspruch nur für Beschäftigte bestimmter Tarifgruppen gelten solle, etwa durch einen Verweis auf die in Absatz 2 (dann nicht vollständig) aufgeführten Tarifentgeltgruppen. Darüber hinaus ergibt sich aus § 19 Abs. 2 MTV, dass für alle Beschäftigten ein bestimmter Prozentsatz des Entgelts geleistet werden soll und nicht etwa ein anderer, beispielsweise fester Betrag.
b) Diese Auslegung des Tarifwortlauts korrespondiert auch mit dem Zweck der Regelung in § 19 MTV. Eine Zuordnung von Entgeltgruppen zur Höhe der Jahressonderzahlung ist allein deshalb unterblieben, weil die Tarifparteien sich nicht auf eine neue Entgeltordnung und damit auch nicht auf neue Entgeltgruppen einigen konnten. Allein aus diesem Grund ist eine Zuordnung zu bestimmten Prozentstufen für den Anspruch auf die Jahressonderzahlung bisher unterblieben.
c) In diesem Punkt bedarf es auch keiner ergänzenden Auslegung des Tarifvertrages. Allerdings sind die Arbeitsgerichte nicht befugt, eine bewusste Regelungslücke in einem Tarifvertrag auszufüllen. Dies wäre ein unzulässiger Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie, weil hierdurch entgegen dem Willen der Tarifvertragsparteien ergänzende tarifliche Regelungen geschaffen würden (st. Rspr. des BAG, vgl. z.B. BAG, Urteil vom 24.04.1985 - 4 AZR 457/83 - AP Nr. 4 zu § 3 BAT = NZA 85, 602; vgl. BAG, Urteil vom 25.02.2009 - 4 AZR 19/08 - AP Nr. 6 zu § 23 b BAT). Eine bewusste Regelungslücke im Rahmen des § 19 MTV kommt nur aber insoweit in Betracht, als es um einen 60 % übersteigenden Anspruch, also einen Anspruch in Höhe von 80 oder 90 % geht. Das Bestehen eines Anspruchs von jedenfalls 60 % des Entgelts für alle Beschäftigten ist dagegen tariflich normiert. In diesem Punkt würde die tarifliche Regelung auch nicht etwa erst durch die Festlegung der verschiedenen Entgeltgruppen in einer neuen Entgeltordnung und der Zuordnung der Entgeltgruppen zu der Staffel in § 19 Abs. 2 MTV vollständig. Auch ohne eine solche Regelung wird die Tarifnorm nicht etwa inhaltsleer. Bei § 19 MTV handelt es sich in seiner jetzigen Fassung auch nicht nur um einen bloßen Platzhalter für eine erst später beabsichtigte Regelung. Denn dort, wo die Tarifvertragsparteien noch keine normative Regelung in Kraft setzen wollten, haben sie dies ausdrücklich in den Text des MTV aufgenommen, wie z.B. in den §§ 12, 13, 16 und 17 MTV. Eine entsprechende Offenlassung hätte auch im Fall des § 19 MTV nahegelegen, hätte man tatsächlich einen Anspruch auf Zahlung einer Jahressonderzahlung zunächst noch nicht normieren wollen. Stattdessen haben die Tarifvertragsparteien in § 19 MTV eine detaillierte Regelung getroffen, die bereits Einzelfragen über die Berechnung des Anspruchs enthält. Mag dies auch darauf beruhen, dass man bei der Abfassung des Tariftextes von dem Regelungsinhalt des TVöD ausgegangen ist und dabei Paragraph für Paragraph vorgegangen ist, hätte das jedoch die Tarifvertragsparteien, wenn sie tatsächlich eine Regelung nicht gewollt hätten, nicht davon abhalten müssen, § 19 MTV derzeit noch "unbesetzt" zu lassen. Dieses Auslegungsergebnis wird außerdem durch den zeitgleich abgeschlossenen TV AstD gestützt. Dieser enthält in den §§ 2 und 3 folgende Regelung:
§ 2 Außerkraftsetzen § 19 des Haustarifvertrages der AWO Gruppe
Der § 19 des Haustarifvertrages der AWO Gruppe vom 01. Juli 2006 wird durch diesen Tarifvertrag Ausgleich strukturelles Defizit (TV AstD) unter Beachtung der Regelungen in den folgenden Paragraphen außer Kraft gesetzt.
§ 3 Ausgleichszahlung für ver.di Mitglieder
(1) Als Ersatzleistung wegen des Verzichts auf die Sonderzahlungen gem. § 19 des Haustarifvertrages der AWO-Gruppe erhalten die ver.di-Mitglieder der AWO-Gruppe in jedem Geschäftsjahr zum 31. Juli eine Ausgleichszahlung in Höhe von 535 € brutto je Vollzeitkraft gemäß tariflicher Wochenarbeitszeit.
(2) Teilzeitbeschäftigte erhalten die Ausgleichszahlung anteilig.
(3) Diese Ausgleichszahlung erhalten Beschäftigte, die ihre Mitgliedschaft in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) für die zurückliegenden drei Monate bis zum Auszahlungstag glaubhaft zum 30. Juni nachgewiesen haben.
(4) Für das Jahr 2006 ist die Mitgliedschaft für die zurückliegenden 3 Monate bis zum Auszahlungstag (30.09.06) glaubhaft zum 31.08.2006 nachzuweisen.
Die Tarifvertragsparteien haben damit eine Aussetzung des § 19 MTV geregelt. Dies macht jedoch nur dann Sinn, wenn § 19 MTV in der damaligen Fassung einen Regelungsgehalt hat. Eine nicht bestehende Regelung braucht nicht ausgesetzt zu werden, erst recht nicht unter gleichzeitiger Gewährung von Kompensationsleistungen, wie sie z.B. in § 3 TV AstD enthalten sind. In § 3 TV AstD wird sogar ausdrücklich von einer Ersatzleistung wegen des Verzichts auf die Sonderzahlung gemäß § 19 MTV gesprochen. Gebe es einen solchen Anspruch nicht, wäre nichts auszusetzen und erst recht nichts zu kompensieren gewesen. In diesem Fall hätte es näher gelegen, stattdessen für den Beginn des Anspruchs gemäß § 19 MTV einen späteren Zeitpunkt festzulegen. Diese Auslegung korrespondiert im Übrigen auch mit der weiteren Regelung in § 12 Abs. 1 TV AstD, die folgenden Inhalt hat:
§ 12 Kündigungsfrist und Nachwirkung
(1) Dieser Tarifvertrag kann frühestens zum 30.06.2009 mit einer Frist von 6 Monaten schriftlich gekündigt werden. Ergibt die Überprüfung durch einen externen Sachverständigen eine unveränderte wirtschaftliche Notwendigkeit hinsichtlich der Aussetzung des § 19 des Haustarifvertrages der AWO-Gruppe berät und entscheidet die Tarifkommission auf Basis der Empfehlung eines Sachverständigen gemäß Absatz 5 über die Verlängerung der Laufzeit um längstens 2 Jahre.
Auch diese Regelung geht erkennbar von einem dem Grunde nach bestehenden Anspruch aus, der möglicherweise unter bestimmten Voraussetzungen weiter suspendiert werden kann.
d) Die Beklagten können ferner nicht mit Erfolg einwenden, die Verpflichtung zur Gewährung von Sonderzahlungen könne zur Insolvenz führen, was auch bei der Auflegung des Tarifvertrages zu berücksichtigen sei. Allerdings befand sich die Beklagte nach ihrem unbestritten gebliebenen Vortrag 2006, also bei Abschluss der streitigen tariflichen Regelung, in einer wirtschaftlich schwierigen Situation. Dieser Situation haben die Tarifvertragsparteien aber erkennbar bereits auf andere Weise Rechnung getragen, insbesondere durch die Regelungen im TV AstD. Dort ist auch ein bestimmtes Verfahren vorgesehen, um in Krisensituationen die Belastung durch derartige Ansprüche zu vermeiden. Dieses Verfahren nach § 12 TV AstD hat die Beklagte jedoch gerade nicht betrieben.
e) Schließlich können die Beklagten nicht mit Erfolg geltend machen, der Anspruch auf Jahressonderzahlung lasse sich wegen der Lückenhaftigkeit der Regelung derzeit noch nicht berechnen, weil Ausgangspunkt hierfür gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 MTV die jeweils geltende Entgeltgruppe sei, die aber tariflich noch nicht geregelt sei. Tatsächlich ist die Regelung jedoch auch insoweit nicht unvollständig. Sie enthält vielmehr eine detaillierte Grundlage für die Berechnung des Anspruchs. Dabei ist gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 MTV auf das "gezahlte Entgelt" abzustellen. Auch der Hinweis in § 19 Abs. 2 Satz 2 MTV auf eine Entgeltgruppe zu einem bestimmten Stichtag macht die Regelung nicht unvollständig. Für den Kläger ist derzeit auch ohne entsprechende tarifliche Regelung eine bestimmte Entgeltgruppe maßgeblich. Nach dieser Entgeltgruppe wird er vergütet. Einer tariflichen Festlegung der Entgeltgruppe bedarf es nur für den Bemessungssatz und damit für die Eingruppierung in die Staffel des § 19 Abs. 2 MTV. Hiervon könnte in der Tat im Folgenden die Frage abhängen, ob dem Kläger tatsächlich für das Jahr 2009 nicht nur 60 %, sondern sogar möglicherweise 80 oder 90 % des Entgelts zustehen. Insoweit ist also zwischen dem Bemessungssatz nach § 19 Abs. 2 Satz 1 MTV und dem maßgeblichen gezahlten Entgelt im Sinne von § 19 Abs. 2 Satz 1 MTV zu unterscheiden. Das gezahlte Entgelt ist und bleibt Maßstab für die Berechnung des Entgelts, von dem ein bestimmter Prozentsatz als Sonderzahlung zu gewähren ist, während der Bemessungssatz allein die Frage entscheidet, ob dieser Anspruch in Höhe von 60, 80 oder 90 % des gezahlten Entgelts gewährt werden muss.
3. Der Anspruch der Klägerin ist nicht gemäß § 35 des einschlägigen Manteltarifvertrages verfallen. Vielmehr hat die Klägerin ihren Anspruch jedenfalls durch ein vor dem 01.03.2010 überreichtes Geltendmachungsschreiben innerhalb der sechsmonatigen tarifvertraglichen Ausschlussfrist wirksam geltend gemacht. Unstreitig ist das undatierte und unterzeichnete Schreiben der Klägerin der Einrichtungsleiterin der Beklagten zu 1) vor dem 01.03.2010, also vor dem Betriebsübergang übergeben worden.
Frau Kolenbach-Payonk war auch zur Entgegennahme solcher Geltendmachungsschreiben befugt. Unwidersprochen trägt die Klägerin vor, dass die Einrichtungsleiterin generell Ansprechpartner in betriebsverfassungsrechtlichen Fragen für den Betriebsrat war und dass sie zuständig war für die Abwicklung der Arbeitsverhältnisse vor Ort, insbesondere Urlaubsgewährungen und Entgegennahme von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Frau Kolenbach-Payonk war für die Klägerin die unmittelbare Vorgesetzte und Repräsentantin des Arbeitgebers vor Ort. Diesen Sachvortrag der Klägerin hat die Beklagte nicht bestritten. Unerheblich ist, dass Frau Kolenbach-Payonk dann nach dem Betriebsübergang nicht mehr bei dem nunmehrigen Arbeitgeber der Klägerin (nämlich nunmehr der Beklagten zu 2.) beschäftigt war. Die Wahrung der Ausschlussfrist gegenüber der Beklagten zu 1) wirkt auch gegenüber der Beklagten zu 2), weil die Geltendmachung vor dem Betriebsübergang erfolgt ist.
Weil Frau Kolenbach-Payonk zur Entgegennahme der Geltendmachung befugt war, stellt sich auch nicht mehr die Frage, inwieweit eine Weiterleitung des Geltendmachungsschreibens an die Geschäftsführung der Beklagten erfolgt ist.
Das Geltendmachungsschreiben ist auch inhaltlich nicht zu unbestimmt. Allerdings wird dort keine bestimmte Summe genannt und es wird auch nicht ausgeführt, in Höhe welchen Prozentsatzes des durchschnittlich gezahlten monatlichen Entgelts eine Sonderzahlung begehrt wird. Eine derartige konkrete Geltendmachung war jedoch nicht erforderlich. Einer Bezifferung der Forderung bedarf es nicht, wenn dem Schuldner die Höhe der gegen ihn geltend gemachten Forderung bekannt oder ohne weiteres errechenbar ist (BAG, Urteil vom 26.2.2003 - 5 AZR 223/02 - AP 13 zu § 611 BGB Nettolohn = NZA 03, 922 [BAG 26.02.2003 - 5 AZR 223/02]; BAG, Urteil vom 14.12.2005 - 10 AZR 70/05 - AP 281 zu § 1 TVG Tarifverträge Bau = NZA 06, 998 [BAG 14.12.2005 - 10 AZR 70/05]). Zum einen konnte die Klägerin selbst schon in Anbetracht der tariflichen Situation letztlich nicht ausschließen, dass ihr auch eine höhere Jahressonderzahlung als 60 % zustehen könnten. Mit dem Schreiben macht sie jedenfalls überhaupt eine Jahressonderzahlung geltend und damit auch aus der Sicht des Erklärungsempfängers jedenfalls eine Sonderzahlung in Höhe von 60 %. Der sich daraus ergebende Betrag konnte von den Beklagten ohne weiteres ermittelt werden. Es bedurfte insoweit nicht etwa einer konkreten Nennung des Betrages. Den Beklagten lagen alle Lohnabrechnungen für den betreffenden Zeitraum vor und es bestehen auch keine konkreten Anhaltspunkte, dass insoweit Unklarheiten wegen der Höhe der zugrundeliegenden Vergütung bestanden.
Wegen der rechtzeitigen Geltendmachung durch das undatierte Geltendmachungsschreiben kommt es ferner nicht mehr darauf an, ob das weitere Geltendmachungsschreiben vom 14.04.2010 den Anforderungen des § 35 MTV entspricht, insbesondere auf die Frage, ob die Klägerin dieses Schreiben in unterzeichneter Form überreicht hat.
4. Der Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 286, 288 BGB.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 4 Satz 1 ZPO.
Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.