Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.07.2012, Az.: 16 Sa 1642/10
Verfall des gesetzlichen Urlaubsanspruchs bei dauernder Arbeitsunfähigkeit; Urlaub
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 11.07.2012
- Aktenzeichen
- 16 Sa 1642/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 20373
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2012:0711.16SA1642.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hannover - 11 Ca 204/10 Ö - 16.09.2010
Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 3 BUrlG
- § 7 Abs. 4 BUrlG
Fundstelle
- EzA-SD 19/2012, 12
Amtlicher Leitsatz
§ 7 Abs. 3 BUrlG ist für den Fall der dauernden Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nur soweit zu reduzieren, wie unionsrechtlich unbedingt erforderlich, so dass der gesetzliche Urlaubsanspruch spätestens mit Ablauf des 31.3. des übernächsten Jahres verfällt (wie LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.12.2011 - 10 Sa 19/11, Revision zu 9 AZR 225/12).
Redaktioneller Leitsatz
»§ 7 Abs. 3 BUrlG ist für den Fall der dauernden Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nur soweit zu reduzieren, wie unionsrechtlich unbedingt erforderlich, so dass der gesetzliche Urlaubsanspruch spätestens mit Ablauf des 31.3. des übernächsten Jahres verfällt (wie LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.12.2011 - 10 Sa 19/11, Revision zu 9 AZR 225/12).«
Tenor:
Unter Zurückweisung im Übrigen wird auf die Berufungen der Klägerin und des beklagten Landes das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 16.09.2010 - 11 Ca 204/10 Ö - teilweise abgeändert und insgesamt folgendermaßen neu gefasst.
Das beklagte Land wird verurteilt, an die Klägerin 386,49 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.02.2010 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin zu 17/18 und das beklagte Land zu 1/18 zu tragen. Die übrigen Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin zu 19/20 und das beklagte Land zu 1/20 zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Urlaubsabgeltungsansprüche.
Die Klägerin, die mit einem Grad von 40 % behindert und einer Schwerbehinderten gleichgestellt ist, war bei dem beklagten Land seit dem 01.01.1987 als Krankenschwester zu den tariflichen Bedingungen des BAT und des ihn ersetzenden TV-L beschäftigt. Sie war seit Februar 2006 arbeitsunfähig erkrankt und hat weder für 2006 noch für die nachfolgenden Jahre Urlaub erhalten.
Auf Grund eines Vergleichs bewilligte die Deutsche Rentenversicherung der Klägerin mit ihr am 29.09.2009 zugestellten Bescheid vom 24.09.2009 ab dem 01.04.2007 eine unbefristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (Bl. 14 ff. d.A.) und mit ihr am 01.10.2009 zugestellten Bescheid vom 28.09.2009 eine für die Zeit vom 01.10.2007 bis zum 30.09.2010 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung (Bl. 32 ff. d.A.). Nachfolgend erteilte das Integrationsamt mit Bescheid vom 08.02.2010 dem beklagten Land am 11.02.2010 die Zustimmung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin gemäß § 92 SGB IX i.V.m. § 33 Abs. 2 Satz 4 TV-L.
Mit Schreiben vom 15.02. und 03.03.2010 (Bl. 6 f., 10 f. d.A.) forderte die Klägerin die Abgeltung von 143 Urlaubstagen für die Urlaubsjahre 2006 bis 2010. Mit Schreiben vom 01.03.2010 (Bl. 8 f. d.A.) gestand das beklagte Land der Klägerin Urlaubsabgeltung für jeweils 20 gesetzliche Urlaubstage für die Urlaubsjahre 2007 bis 2009 und für 2 gesetzliche Urlaubstage für das Urlaubsjahr 2010 zu und zahlte ihr für diese 62 Urlaubstage eine Abgeltung in Höhe von 62 x 128,83 € = 7.987,46 €.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin zunächst die Abgeltung weiterer 61 Urlaubstage in Höhe von insgesamt 7.858,63 € brutto und nach teilweiser Klagerücknahme noch die Abgeltung weiterer 53 Urlaubstage à 128,83 € = 6887,99 € geltend gemacht und die Auffassung vertreten, dass ihr für die Urlaubsjahre 2006 bis 2008 jeweils 30 Urlaubstage und für das Urlaubsjahr 2009 25 Urlaubstage, also insgesamt 115 Urlaubstage zugestanden haben, wovon das beklagte Land nur 62 Urlaubstage abgegolten habe.
Die Klägerin hat beantragt,
das beklagte Land zu verurteilen, an sie 6.887,99 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.02.2010 zu zahlen.
Das beklagte Land hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das beklagte Land hat hinsichtlich des Urlaubsanspruchs für das Urlaubsjahr 2006 die Einrede der Verjährung erhoben und im Übrigen die Auffassung vertreten, dass § 26 TV-L eine eigenständige vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Regelung zum Urlaub enthalte, so dass der tarifliche Mehrurlaub verfallen sei.
Wegen weiterer Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf das Urteil vom 16.09.2010 Bezug genommen, mit dem das Arbeitsgericht unter Zurückweisung der Klage im Übrigen das beklagte Land verurteilt hat, an die Klägerin 1.932,45 € brutto nebst Zinsen seit dem 12.02.2010 zu zahlen, weil das beklagte Land für das Urlaubsjahr 2006 noch 15 Urlaubstage abzugelten habe. Es ist dabei davon ausgegangen, dass der Klägerin im Zeitpunkt ihres Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis gesetzliche Urlaubsansprüche für die Urlaubsjahre 2006 bis 2008 in Höhe von jeweils 20 Urlaubstagen und für 2009 wegen des Ruhenstatbestandes des § 26 Abs. 2 c TV-L ein gesetzlicher Urlaubsanspruch von 17 Urlaubstagen zugestanden habe. Da das beklagte Land von diesen 77 Urlaubstagen lediglich 62 Urlaubstage abgegolten habe, sei noch die Abgeltung von 15 Urlaubstagen offen. Der Urlaubsanspruch für 2006 sei nicht verjährt, da er bis zum Ausscheiden der Klägerin nicht einklagbar gewesen sei. Dagegen sei der tarifliche Mehrurlaub gemäß § 26 Abs. 2 a TV-L auf Grund der eigenständigen tariflichen Regelung abweichend vom gesetzlichen Mindesturlaub für die Urlaubsjahre 2006, 2007 und 2008 jeweils mit Ablauf des 31.05.2007, 31.05.2008 und 31.05.2009 verfallen. Auch der tarifliche Mehrurlaub für das Jahr 2009 sei mit Ablauf des 31.05.2010 verfallen, weil die Klägerin nicht behauptet habe, bis zu diesem Zeitpunkt wieder arbeitsfähig gewesen zu sein.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des Urteils Bezug genommen, das beiden Parteien am 30.09.2010 zugestellt worden ist und gegen das die Klägerin am 25.10.2010 Berufung eingelegt hat, die sie am 25.11.2010 begründet hat und gegen das das beklagte Land am 28.10.2010 Berufung eingelegt hat, die es am 29.11.2010 begründet hat.
Die Klägerin rügt mit ihrer Berufung die Annahme des Arbeitsgerichts, dass § 26 TV-L für den tariflichen Mehrurlaub eine eigenständige Verfallsregelung beinhalte. Wegen der Einzelheiten wird auf Ihre Berufungsbegründungsschrift vom 24.11.2010 und den ergänzenden Schriftsatz vom 22.03.2011 Bezug genommen.
In der Berufungsverhandlung hat die Klägerin im Hinblick auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 22.05.2012 - 9 AZR 575/10 - zu dem regelungsidentischen § 26 TVöD ihr Begehren auf die Abgeltung weiterer 5 Urlaubstage des Urlaubsjahres 2006 und weiterer 3 Urlaubstage des Urlaubsjahres 2009 beschränkt und im Übrigen ihre Berufung zurückgenommen.
Die Klägerin beantragt,
in Abänderung des angefochtenen Urteils das beklagte Land zu verurteilen, an die Klägerin weitere 1.030,64 € brutto zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.02.2010.
Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das beklagte Land verteidigt das angefochtene Urteil, soweit es die Klage abgewiesen hat, nach Maßgabe seiner Berufungserwiderung vom 17.01.2011, auf die Bezug genommen wird.
Mit seiner Berufung wendet sich das beklagte Land dagegen, dass das Arbeitsgericht den gesetzlichen Urlaubsanspruch der Klägerin für das Urlaubsjahr 2006 für nicht verjährt gehalten hat. Insoweit wird auf die Berufungsbegründungsschrift vom 24.11.2010 Bezug genommen.
Das beklagte Land beantragt,
in Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage insgesamt abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Auf ihre Berufungserwiderung vom 21.12.2010 wird gleichfalls Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthaften Berufungen (§ 64 Abs. 2 b ArbGG) sind form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 64 Abs. 6 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 1, 2 und 5 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 3 ZPO).
1. Die Berufung der Klägerin ist hinsichtlich der Abgeltung restlicher drei Urlaubstage aus dem Urlaubsjahr 2009 begründet.
Das Arbeitsverhältnis der Klägerin ist mit Zustellung des Zustimmungsbescheids des Integrationsamtes (§ 92 SGB IX) gemäß § 33 Abs. 2 Satz 4 TV-L beendet worden. Bis dahin nicht gewährter Urlaub war deshalb gemäß § 26 Abs. 2 Eingangssatz TV-L i.V.m. § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Die Klägerin hatte für das Urlaubsjahr 2009 gemäß § 26 Abs. 1 und Abs. 2 c TV-L einen tariflichen Urlaubsanspruch von 25 Urlaubstagen. 20 Urlaubstage hat das beklagte Land für das Urlaubsjahr 2010 bereits abgegolten, so dass fünf abzugeltende Urlaubstage verbleiben, wobei sich die Klägerin auf diesen Anspruch die gewährte Abgeltung von zwei Urlaubstagen für das Urlaubsjahr 2010 anrechnen lässt und lediglich die Abgeltung von drei Urlaubstagen verlangt, so dass sich bei der unstreitigen Höhe des Urlaubsentgelts pro Urlaubstag von 128,83 € ein Abgeltungsanspruch von 386,49 € ergibt, der gemäß den §§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen ist.
Der Abgeltung der drei Urlaubstage für das Urlaubsjahr 2009 steht nicht entgegen, dass die Klägerin bis zum 31.05.2010, dem Ende des tariflichen Übertragungszeitraumes nicht arbeitsfähig gewesen ist. Der Urlaubsabgeltungsanspruch unterfällt als reiner Geldanspruch unabhängig von der Arbeitsfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht dem Fristenregime des Bundesurlaubsgesetzes (so jetzt unter Aufgabe der Surrogatstheorie: BAG, Urteil vom 19.06.2012 - 9 AZR 652/10). Das gilt auch für den tariflichen Mehrurlaub des § 26 TV-L, da der TV-L den Anspruch auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs gleichfalls nicht davon abhängig macht, dass der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsfähig ist oder seine Arbeitsfähigkeit während des Übertragungszeitraumes wiedererlangt (BAG, Urteil vom 22.05.2012 - 9 AZR 618/10).
2. Hinsichtlich der Abgeltung des gesetzlichen Urlaubs für das Urlaubsjahr 2006 ist die Berufung der Klägerin unbegründet und die Berufung des beklagten Landes begründet.
Dabei kann die Frage der Verjährung dahinstehen, denn der gesetzliche Urlaubsanspruch war bereits im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen, so dass er nicht gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten ist.
Gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt der Urlaub spätestens mit Ablauf des 31.03. des Folgejahres. Das gilt nach seinem Wortlaut auch für den Fall, dass dem Arbeitnehmer der Urlaub bis zum Ende des Übertragungszeitraumes nicht gewährt werden kann, weil er arbeitsunfähig ist. Insoweit bedarf § 7 Abs. 3 BUrlG jedoch wegen Art. 7 Abs. 1 EGRL 2003/88 der unionsrechtlichen Reduktion. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 20.01.2009, C-350/06 und 520/06, Schultz-Hoff, AP Nr. 1 zu Richtlinie 2003/88/EG = EzA Richtlinie 2003/88/EG-Vertrag 1999 Nr. 1) ist Art. 7 Abs. 1 EGRL 2003/88 dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraumes auch dann erlischt, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben war und seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses fortgedauert hat, weshalb er seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte. Das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 24.03.2009 - 9 AZR 983/07, AP Nr. 39 zu § 7 BUrlG = EzA § 7 BUrlG Abgeltung Nr. 15) hat deshalb entschieden, dass § 7 Abs. 3 BUrlG unionsrechtlich dahin zu reduzieren sei, dass der Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraumes erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass der dauerhaft arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmer über Jahre Urlaubsansprüche ansammeln kann. Wie der EuGH klargestellt hat (Urteil vom22.11.2011, C-214/10, KHS, AP Nr. 6 zu Richtlinie 2003/88/EG = EzA Richtlinie 2003/88/EG-Vertrag 1999 Nr. 7) kann dieses durch eine nationale Regelung vermieden werden, nach der der Urlaubsanspruch des arbeitsunfähigen Arbeitnehmers mit Ablauf eines Übertragungszeitraumes erlischt, der deutlich über dem Bezugszeitraum liegt, was bei einem Übertragungszeitraum von 15 Monaten der Falle ist. Das führt aber dazu, dass § 7 Abs. 3 BUrlG für den Fall der dauernden Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nur soweit reduziert werden kann, wie unionsrechtlich unbedingt erforderlich. Folglich verfällt der gesetzliche Urlaubsanspruch bei unionsrechtlich gebotener Reduktion des § 7 Abs. 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des 31.03. des übernächsten Jahres (ebenso: LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.12.2011 - 10 Sa 19/11, Revision eingelegt zu 9 AZR 225/12, BB 2012, 1353 f. [LAG Baden-Württemberg 21.12.2011 - 10 Sa 19/11][LAG Baden-Württemberg 21.12.2011 - 10 Sa 19/11]).
Das bedeutet, dass der gesetzliche Mindesturlaub der Klägerin für das Urlaubsjahr 2006 mit Ablauf des 31.03.2008 verfallen war, so dass er bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 11.02.2010 nicht mehr abzugelten gewesen ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i.V.m. den §§ 92 Abs. 2, 97 Abs. 1, 269 Abs. 3, 516 Abs. 3 ZPO, die Zulassung der Revision auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.