Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.01.2014, Az.: 4 LA 167/13

Gewährleistung der Durchführung eines mit der Richtlinie 2004/83/EG konformen Asylverfahrens in Italien als klärungsbedürftige Rechtsfrage

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.01.2014
Aktenzeichen
4 LA 167/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 10516
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0130.4LA167.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 04.06.2013 - AZ:

Fundstellen

  • AUAS 2014, 44-46
  • DÖV 2014, 403
  • InfAuslR 2014, 162-164

Amtlicher Leitsatz

Der Senat hält an seiner im Senatsbeschluss vom 2. August 2012 4 MC 133/12 geäußerten Auffassung fest, wonach nicht ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an Italien überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union implizieren.

Tenor:

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 6. Kammer - vom 4. Juni 2013 wird abgelehnt.

Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskosten-hilfe für das Berufungszulassungsverfahren wird abgelehnt.

Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Der Antrag der Kläger, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von den Klägern geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) ist nicht hinreichend dargelegt worden.

Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (vgl. GK-AsylVfG, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 78 AsylVfG Rn. 15 ff. m.w.N.). Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist daher nur dann im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahe legen (vgl. GK-AsylVfG, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.).

Danach kommt die von den Klägern beantragte Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht in Betracht.

Die von den Klägern für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage, "ob in Italien die Durchführung eines mit der Richtlinie 2004/83/EG konformen Asylverfahrens gewährleistet werden kann und hier insbesondere, ob Zugang zum Asylverfahren und Lebensunterhalt sowie Obdach gesichert sind", wäre in dem von den Klägern angestrebten Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich.

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 (C-411/10 und C-493/10) ausgeführt, dass eine Vermutung dafür besteht, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechts-konvention steht. Allerdings könne - so der EuGH - nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr bestehe, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit deren Grundrechten unvereinbar sei. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System in der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Daher müsse die Vermutung der menschenrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern, die dem einschlägigen Regelwerk zugrunde liege, als widerlegbar angesehen werden. Art. 4 der Charta sei folglich dahingehend auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliege, einen Asylbewerber nicht an den "zu-ständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen "nicht unbekannt sein könne, dass die systematischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernst-hafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu sein".

Demzufolge ist die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht, nicht bereits bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen des zuständigen Mitgliedstaats widerlegt, sondern nur dann, wenn die vom Europäischen Gerichtshof herausgearbeiteten, oben wiedergegebenen Voraussetzungen vorliegen. Folglich wäre in dem von den Klägern angestrebten Berufungsverfahren allein entscheidungserheblich, ob systematische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien bekannt sind und ob solche Mängel ernst-hafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass Asyl-bewerber in Italien tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigen-den Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden (vgl. auch Senatsbeschl. v. 27.5.2013 - 4 LA 88/13 -, v. 13.1.2014 - 4 LA 262/13 - und - 265/13 -, und v. 14.1.2014 - 4 LA 258/13 - und - 263/13 -). Dagegen bedürfte es keiner grundsätzlichen Klärung der von den Klägern aufgeworfenen Frage, "ob in Italien die Durchführung eines mit der Richtlinie 2004/83/EG konformen Asylverfahrens gewährleistet werden kann und hier insbesondere, ob Zugang zum Asylverfahren und Lebensunterhalt sowie Obdach gesichert ist." Folglich lässt sich die grundsätzliche Bedeutung der vorliegenden Rechtssache nicht mit der Klärungsbedürftigkeit dieser von den Klägern aufgeworfenen Frage begründen.

Soweit die Kläger des Weiteren für grundsätzlich klärungsbedürftig halten "ob systematische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien bekannt sind und ob solche Mängel ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden", haben sie zwar die zutreffende entscheidungserhebliche Frage aufgeworfen. An der hinreichenden Darlegung des Zulassungsgrunds des § 78 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG fehlt es hier aber deshalb, weil die Kläger nicht dargetan haben, dass die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und dass neuere Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahe legen.

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts ist nicht (mehr) ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien derart grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren würden (Urteilsabdruck, S. 7 ff.). Das Verwaltungsgericht hat insoweit die aktuelle Auskunftslage, insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Freiburg vom 11. Juli 2012 und die Stellungnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen vom 24. April 2012 sowie die Feststellungen in den vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidungen unter Bezugnahme der dort verwerteten Erkenntnisse berücksichtigt. Darüber hinaus hat es das Gutachten der Flüchtlingsorganisation Borderline-Europe aus Dezember 2012 und die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21. Januar 2013 an das OVG des Landes Sachsen-Anhalt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht.

Mit diesen Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil setzen sich die Kläger in ihrem Zulassungsantrag nicht auseinander. Sie benennen weder Gründe, weshalb die vom Verwaltungsgericht verwerteten Erkenntnismittel keine hinreichende Beantwortung der von ihnen bezeichneten Frage ermöglicht, noch wird von ihnen dargelegt, dass die vom Verwaltungsgericht verwerteten Erkenntnisse eine abweichende Entscheidung rechtfertigen oder andere, neuere Erkenntnismittel zu dieser Frage vorliegen. Die Kläger verweisen vielmehr allein auf verschiedene Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte, mit denen die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit dieser Frage bestätigt worden sei. Die bloße Bezugnahme auf andere Entscheidungen ersetzt insoweit jedoch nicht die für die Darlegung des Zulassungsgrunds des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG erforderliche Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht verwerteten Erkenntnismitteln.

Entgegen der Auffassung der Kläger ist dem Senatsbeschluss vom 27. Mai 2013 - 4 LA 88/13 - auch nicht zu entnehmen, dass der Senat an seiner Entscheidung vom 2. August 2012 - 4 MC 133/12 -, wonach auf der Grundlage des vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern in Italien nicht ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen dort grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, nicht mehr festhält. Auch insoweit ist ein Bedarf, die bezeichnete Frage in einem Berufungsverfahren zu klären, von den Klägern daher nicht dargelegt worden. Zur Klarstellung weist der Senat in diesem Zusammenhang darauf hin, dass mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR (Beschl. v. 2.4.2013 - 277725/10 - und v. 18.6.2013 - 53852/11-) auch kein Anlass besteht, die im Senatsbeschluss vom 2. August 2012 - 4 MC 133/12 - geäußerte Auffassung zu ändern.

Schließlich ist dem Vorbringen der Kläger, nach ihrer Kenntnis würden Schutzbewerber weiterhin nicht vollständig untergebracht und versorgt, es fehle am vollen Zugang zum nationalen Gesundheitssystem in Italien und zurückgeführten Flüchtlingen würde ein Obdach nicht mehr - auf Dauer - zur Verfügung gestellt, nicht zu entnehmen, worauf ihre Annahme beruht. Auch insoweit ist von ihnen daher nicht hinreichend dargelegt worden, dass die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte.

Die Bewilligung der von den Klägern beantragten Prozesskostenhilfe für das Berufungszulassungsverfahren kommt nicht in Betracht, weil die Rechtsverfolgung schon im Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags nicht die nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht geboten hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG und § 166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.