Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.01.2014, Az.: 11 ME 313/13

Zuständigkeit einer Verwaltungsbehörde für den Erlass eines Aufenthaltsverbotes

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.01.2014
Aktenzeichen
11 ME 313/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 10349
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0116.11ME313.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 22.11.2013 - AZ: 6 B 44/13

Fundstellen

  • DÖV 2014, 351-352
  • NordÖR 2014, 198
  • Polizei 2014, 88-89

Amtlicher Leitsatz

Aus § 1 Abs. 1 Satz 3 Nds. SOG ergibt sich eine vorrangige Zuständigkeit der Polizei für den Erlass eines Aufenthaltsverbotes nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG (Bestätigung der Senatsrechtsprechung, vgl. Urt. v. 18.05.2010 11 LC 566/09 , ...; Beschl. v. 12.05.2009 11 ME 190/09 , NdsVBl. 2009, 237).

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 6. Kammer - vom 22. November 2013 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 22. November 2013, mit dem die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen das durch Verfügung der Antragsgegnerin vom 23. August 2013 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung für einen näher bezeichneten Bereich innerhalb des Gemeindegebietes mit Wirkung bis zum 22. Februar 2014 ausgesprochene Aufenthalts- und Betretungsverbot gemäß § 17 Abs. 4 Nds. SOG wiederhergestellt worden ist, hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt, der zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO habe aus zwei selbständig tragenden Gründen Erfolg. Zum einen sei die streitgegenständliche Verfügung bereits aus formellen Gründen rechtswidrig, weil die Antragsgegnerin als Verwaltungsbehörde für den Erlass eines Aufenthaltsverbots nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG nicht zuständig sei. Aus § 1 Abs. 1 Satz 3 Nds. SOG ergebe sich eine vorrangige Zuständigkeit der Polizeibehörden. Zum anderen bestünden Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung. Diese ergäben sich erstens daraus, dass es der Sache nach um den Ausschluss des Antragstellers und anderer Personen von einer Versammlung gegangen sei, sodass den versammlungsrechtlichen Vorschriften des NVersG Vorrang vor denen des Nds. SOG zukomme mit der Folge, dass zunächst eine - hier fehlende - versammlungsrechtliche Untersagung der Teilnahme an der Versammlung ausgesprochen werden müsse, bevor ein Aufenthaltsverbot nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG verfügt werden könne. Zweitens fehlten hinreichend konkrete und auf Tatsachen gestützte Anhaltspunkte für die Annahme, der Antragsteller werde in dem vom Aufenthaltsverbot umfassten räumlichen Bereich und für die gesamte Dauer des Aufenthaltsverbots Straftaten begehen.

Die von der Antragsgegnerin dargelegten Beschwerdegründe, auf deren Überprüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung zutreffend dem privaten Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage den Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung der Antragsgegnerin vom 23. August 2013 eingeräumt, weil diese sich nach summarischer Prüfung bereits aus formellen Gründen als rechtswidrig erweist.

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats - auf die auch das Verwaltungsgericht abgestellt hat - besteht für den Erlass eines Aufenthaltsverbotes nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG eine vorrangige Zuständigkeit der Polizei gegenüber derjenigen der Verwaltungsbehörden (Senatsurt. v. 18.5.2010 - 11 LC 566/09 -, ...; Beschl. v. 12.5.2009 - 11 ME 190/09 -, NdsVBl. 2009, 237, ...). Wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen wird, kann ihr gemäß § 17 Abs. 4 Satz 1 Nds. SOG für eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung. Für den Erlass eines solchen Aufenthaltsverbotes ist in erster Linie die Polizei zuständig. Die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde ist demgegenüber lediglich subsidiär. Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Verwaltungsbehörden und Polizei ergibt sich nach der Rechtsprechung des Senats mangels einer Spezialregelung aus der allgemeinen Regelung in § 1 Nds. SOG. Eine vorrangige Zuständigkeit der Polizei lässt sich hierbei aus § 1 Abs. 1 Satz 3 Nds. SOG, wonach die Polizei im Rahmen ihrer nach Satz 1 dieser Vorschrift umschriebenen Aufgabe der Gefahrenabwehr insbesondere auch Straftaten zu verhüten hat, ableiten. Denn diese Vorschrift weist die Strafverhütung, wozu auch die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG gehört, insbesondere der Polizei zu. Dieses Ergebnis wird durch die Entstehungsgeschichte der Norm und die Gesetzesmaterialien bestätigt und steht in Übereinstimmung mit den Ausführungsbestimmungen zum Nds. SOG. Im Ergebnis ergibt sich daher eine Ausnahme von der in § 1 Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG normierten (Regel-)Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden, wenn es um die Verhütung von Straftaten geht, zumal diese Norm sich lediglich auf § 1 Abs. 1 Satz 1 (und nicht auch auf Satz 2 und 3) Nds. SOG bezieht.

Das Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin gibt dem Senat keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Der Einwand der Antragsgegnerin, sie sei sich mit der Polizei bereits im Vorfeld der angefochtenen Verfügung in der Beurteilung der Sach- und Gefahrenlage und der daraus resultierenden Notwendigkeit eines längerfristigen Aufenthaltsverbots nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG einig gewesen, greift nicht durch. Denn eine solche einvernehmliche Einschätzung der beteiligten Behörden vermag nichts an der gesetzlichen Kompetenzverteilung, wie sie der Senat seiner Rechtsprechung zugrunde legt, zu ändern. Etwas anderes ist nur anzunehmen, wenn die Polizei aufgrund ihrer kriminalistischen Erfahrungen die Verhängung eines Aufenthaltsverbots nicht für geboten hält und von ihrer vorrangigen Zuständigkeit auf diesem Bereich der Verhütung von Straftaten keinen Gebrauch macht (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 12.5.2009 - 11 ME 190/09 -, a.a.O., Rdnr. 27). Ein solcher Fall ist hier nach dem eigenen Vorbringen der Antragsgegnerin nicht gegeben.

Etwas anderes folgt auch nicht aus den von der Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdebegründung dargelegten Auslegungskriterien. Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 3 Nds. SOG ist die Verhütung von Straftaten zwar nur eine Teilaufgabe der Polizei im Rahmen ihrer Gesamtaufgabe der Gefahrenabwehr (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG). Im Rahmen dieser Teilaufgabe besteht aber sowohl nach dem Wortlaut als auch nach der systematischen und der teleologischen Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen eine vorrangige Zuständigkeit der Polizei.

Dieses Ergebnis wird entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin durch den vorliegenden Fall eher bestätigt als widerlegt. Grund für die vorrangige Zuständigkeit der Polizei für den Erlass eines Aufenthaltsverbotes nach § 17 Abs. 4 Nds. SOG ist es gerade, dass eine solche Maßnahme eine Auswertung kriminologischer Erkenntnisse voraussetzt, die in erster Linie bei den Polizeibehörden vorhanden sind. Denn die Polizeibeamten sind in den gefährdeten Gebieten präsent und haben unmittelbar mit den betroffenen Straftätern zu tun, da sie vor Ort die Anlassvorfälle aufnehmen und sie weiter bearbeiten. Die erforderliche Prognose einer Wiederholungsgefahr basiert vielfach auf langjährigem Erfahrungswissen im Einsatzgeschehen in Verbindung mit einer kriminalistisch-kriminologischen Beurteilung des einzelnen Falles. Daher können die Polizeibeamten vor Ort mithin am besten entscheiden, ob und in welchem Umfang ein Aufenthaltsverbot überhaupt geeignet ist, weitere Straftaten zu verhindern (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 12.5.2009 - 11 ME 190/09 -, a.a.O., ... Rdnr. 49 m. w. N.). Nach dem eigenen Vortrag der Antragsgegnerin beruhen ihre Erkenntnisse im Wesentlichen auf den Ermittlungen und dem Erfahrungswissen der Polizei. Dass sich beide vorab intern ausgetauscht und darauf verständigt haben, dass nicht die Polizei, sondern sie, die Antragsgegnerin, die streitgegenständliche Regelung erlassen sollte, ändert nach dem oben Gesagten nichts an der gesetzlich festgelegten Zuständigkeitsverteilung.

Soweit die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdebegründung anführt, der Senat habe in seinem Beschluss vom 12. Mai 2009 (- 11 ME 190/09 -, a.a.O.) und in seinem - entgegen der Darstellung der Antragsgegnerin einen anderen Fall betreffendes - Urteil vom 18. Mai 2010 (- 11 LC 566/09 -, a.a.O.) trotz der angenommenen vorrangigen Zuständigkeit der Polizei zur Verhütung von Straftaten das von der Verwaltungsbehörde erlassene längerfristige Aufenthaltsverbot bestätigt, unterliegt sie einem Sachverhaltsirrtum. In beiden Fällen war Prozessgegnerin die Polizeidirektion Hannover und in beiden Fällen wurden die stattgebenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Hannover mit der Begründung abgeändert, die Polizeidirektion sei für den in diesen Verfahren streitgegenständlichen Erlass der Aufenthaltsverbote zuständig.

Soweit der Senat in seinem Beschluss vom 13. Mai 2011 - 11 LA 147/10 - den Antrag des dortigen Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 17. März 2010 - 6 A 112/08 - zurückgewiesen hat, kann die Antragsgegnerin daraus nichts für sich herleiten. In dem genannten Klageverfahren war das auf der Grundlage des § 17 Abs. 4 Satz 1 Nds. SOG erlassene Aufenthaltsverbot zwar von der Hansestadt Lüneburg als Verwaltungsbehörde ausgesprochen worden. Der Zulassungsantrag des dortigen Klägers wurde aber abgelehnt, weil die Frage der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Hansestadt Lüneburg und der Polizei in der Zulassungsantragsbegründung nicht thematisiert wurde und es deshalb an der erforderlichen Darlegung gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO fehlte.

Aus den vorstehenden Gründen bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob der Sache nach die materiellen Voraussetzungen des § 17 Abs. 4 Satz 1 Nds. SOG für den Erlass eines Aufenthaltsverbots in dem von der Antragsgegnerin gegenüber dem Antragsteller verfügten räumlichen und zeitlichen Umfang gegeben sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).