Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.01.2014, Az.: 9 LA 20/13
Aufweisen von systematischen Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien bzgl. unmenschlicher Behandlung der Asylbewerber
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 29.01.2014
- Aktenzeichen
- 9 LA 20/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 16649
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2014:0129.9LA20.13.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Osnabrück - 23.01.2012
Rechtsgrundlagen
- Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO
- Art. 3 EMRK
- Art. 16a Abs. 2 S. 1 GG
Fundstelle
- AUAS 2014, 138-140
Amtlicher Leitsatz
Derzeit ist nicht davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systematische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der dorthin überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren und eine Zuständigkeit der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II VO begründen könnten.
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 5. Kammer - vom 23. Januar 2012 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der auf eine Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/203 des Rates der Europäischen Union vom 18. Februar 2003 (Dublin-II-VO) gerichtete und auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Ein Verfahren hat grundsätzliche Bedeutung, wenn es eine Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die von einer über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung ist und im allgemeinen Interesse der Klärung bedarf. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrunds hat ein Antragsteller die für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage zu formulieren sowie näher zu begründen, weshalb sie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat und ein allgemeines Interesse an ihrer Klärung besteht. Darzustellen ist weiter, dass sie entscheidungserheblich ist und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten steht. In der Sache fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit, wenn sich die Rechts- oder Tatsachenfrage unschwer aus dem Gesetz oder auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und Erkenntnismittel beantworten lässt (zu alledem etwa Nds. OVG, Beschlüsse vom 20.04.2009 - 9 LA 432/07 -, vom 29.02.2008 - 5 LA 167/04 - und vom 09.10.2007 - 5 LA 237/05 -).
Ein solcher Klärungsbedarf kommt den vom Kläger zur Begründung einer grundsätzlichen Bedeutung aufgeworfenen Fragen nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat in der angegriffenen Entscheidung einen Anspruch des Klägers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO im Wesentlichen mit der Begründung verneint, dass die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - EuGRZ 2012, 24 [EuGH 21.12.2011 - Rs. C-27/09 P]) bestehende Vermutung, wonach die Behandlung der Asylbewerber in Italien in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht, durch die vom Kläger dargelegten und von der Kammer im Einzelnen aufgeführten Erkenntnismittel nicht widerlegt worden sei. Es sei danach nicht ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren. Gemessen an den Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus Art. 3 EMRK betreffend die Zulässigkeit einer Abschiebung nach Griechenland verdeutlicht habe, bestehe kein Anlass, von einer Überstellung des jungen, arbeitsfähigen und alleinstehenden Klägers nach Italien abzusehen.
Soweit der Kläger demgegenüber im Zulassungsverfahren zunächst die Frage stellt,
- ob die Zurückschiebung eines alleinstehenden, männlichen Asylbewerbers nach Italien zu unterbleiben hat, weil er dort ein menschenrechtswidriges und europäisches Recht verletzendes Verfahren zu befürchten hat, sodass ein Anspruch des Asylbewerbers auf Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO wegen einer Ermessensreduzierung auf Null entstehen kann,
setzt er sich schon inhaltlich nicht mit den vom Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Entscheidung herangezogenen und ausgewerteten Erkenntnissen auseinander. Der Verweis auf drei andere Verwaltungsgerichte, die zu einer entgegengesetzten Entscheidung gelangt sind, vermag eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Auffassung herangezogenen Erkenntnismitteln nicht zu ersetzen und genügt daher für die Darlegung eines grundsätzlichen Klärungsbedarfs nicht, zumal diese Gerichte nach eigener Darstellung des Klägers ihre Entscheidung auch auf eine besondere Schutzbedürftigkeit der betroffenen Personen bezogen haben, die das Verwaltungsgericht im Falle des Klägers nicht angenommen hat.
Die begehrte Zulassung der Berufung wegen der aufgeworfenen Frage scheitert aber auch daran, dass die Frage auf der Grundlage der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung beantwortet werden kann und ein darüber hinausgehender Klärungsbedarf in einem Berufungsverfahren nicht besteht:
Nach der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist derzeit nicht davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systematische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der dorthin überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren und eine Zuständigkeit der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO begründen könnten. Der Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen deutlich gemacht, dass Art. 3 EMRK der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien regelmäßig nicht entgegensteht und hat dies sogar für besonders schutzbedürftige Gruppen wie etwa Alleinerziehende mit Kleinkindern oder traumatisierte Personen angenommen. Er ist dabei unter Berücksichtigung der Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen sowie -organisationen zu dem Schluss gekommen, dass die allgemeine Situation und die Lebensbedingungen in Italien für Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge und Ausländer, die aus Gründen des internationalen Schutzes oder zu humanitären Zwecken eine Aufenthaltserlaubnis haben, einige Mängel aufweisen mag, dass jedoch kein systematisches Versagen der Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für Asylbewerber als Mitglieder einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe feststellbar sei (EGMR, Beschlüsse vom 02.04.2013 - 27725/10 - ZAR 2013, 336, vom 18.06.2013 - 53852/11 - ZAR 2013, 338 und vom 10.09.2013 - 2314/19 -; hierzu auch Thym, ZAR 2013, 331). Diese Einschätzung stimmt - jedenfalls bezogen auf nicht besonders schutzbedürftige Personen wie den Kläger - auch überein mit der bisherigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. die Beschlüsse vom 02.08.2012 - 4 MC 133/12 - und vom 02.05.2012 - 13 MC 22/12 -) und mit der weit überwiegenden Auffassung in der aktuellen Rechtsprechung in anderen Bundesländern (vgl. nur OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14.11.2013 - 4 L 44/13 -; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.06.2013 - 7 S 33.13 -; Bayerischer VGH, Beschlüsse vom 06.02.2013 - 20 ZB 12.30286 - und vom 25.09.2012 - 13a ZB 12.30236 -; VG Regensburg, Beschluss vom 18.12.2013 - RN 6 S 13.30720 -; VG des Saarlandes, Beschluss vom 06.12.2013 - 3 L 1989/13 -; VG Trier, Beschluss vom 06.11.2013 - 5 L 1539/13.TR -; VG Augsburg, Beschluss vom 21.10.2013 - Au 7 S 13.30347 -; VG Hamburg, Urteil vom 18.07.2013 - 10 A 581/13 -, jeweils zitiert nach [...]), der sich der Senat anschließt. Aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Senat bezogen auf einen männlichen, jungen, arbeitsfähigen und alleinstehenden Asylbewerber wie den Kläger im Berufungsverfahren zu einer davon abweichenden Entscheidung gelangen könnte.
Weisen aber nach der derzeitigen Erkenntnislage das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien keine systematischen Mängel auf, kommt den vom Kläger zur Begründung der begehrten Selbsteintrittsverpflichtung der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO aufgeworfenen Fragen zu 2. und 3. ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil der Senat sie aufgrund der dargestellten aktuellen Rechtsprechung bereits als beantwortet ansieht. Auf eine Klärung, ob die vom Kläger bei seiner Fragestellung unterstellten Mängel des Asylverfahrens in Italien im Einzelnen vorliegen, kommt es auch deshalb nicht an, weil die bislang feststellbaren Defizite des italienischen Asylsystems noch nicht das Ausmaß eines systematischen Mangels erreichen (vgl. EGMR, Beschlüsse vom 02.04.2013 - 27725/10 - a.a.O.).
Die vom Kläger ferner aufgeworfene Frage, ob ein - aus den zuvor von ihm bezeichneten Gründen - mangelhaftes Asylverfahren in Italien nicht dem Konzept der normativen Vergewisserung nach Vorgabe des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sowie Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG widerspricht und zu einer Ermessensreduzierung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO führen müsse, lässt ebenfalls keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf erkennen. Insofern bezieht sich der Kläger auf die vom Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung ausdrücklich berücksichtigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Umstände, die in ihrer Eigenart nicht vorweg im Rahmen des Konzepts einer normativen Vergewisserung über die Sicherheit im Drittstaat berücksichtigt werden können, zu einer Schutzgewährung verpflichten (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - BVerfGE 94, 49 ff.). Allerdings kann danach eine fachgerichtliche Prüfung, ob der Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, nur verlangt werden, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass einer der vom Bundesverfassungsgericht genannten, im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An die Darlegung sind strenge Anforderungen zu stellen (hierzu im Einzelnen: (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - a. a. O.). Einen in diesem Sinne beachtlichen Sonderfall aufgrund von Mängeln des Asylverfahrens in Italien hat das Verwaltungsgericht in seinem Urteil - anders als noch im erstinstanzlichen Eilverfahren - nicht feststellen können (Seite 10 ff. des Urteils), und er wird vom Kläger auch im Zulassungsverfahren nicht ansatzweise hinreichend dargelegt.
Die abschließend vom Kläger aufgeworfene Frage nach den Folgen einer Kompensation der Mängel des staatlichen Asylverfahrens in Italien durch lokale, kirchliche oder gemeinnützige Initiativen lässt angesichts der zuvor bereits dargestellten, in Italien derzeit nicht anzunehmenden systematischen Mängel des Asylverfahrens ebenfalls keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf erkennen.
In Bezug auf den hilfsweise gestellten Antrag nach einer ermessensfehlerfreien Neubescheidung durch die Beklagte legt der Kläger keine grundsätzlich bedeutsame Rechts- oder Tatsachenfrage dar, die den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG entsprechen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).