Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.01.2014, Az.: 1 ME 222/13

Verstoß einer Grenzbebauung gegen das Gebot der Rücksichtnahme bei prägender geschlossener Bauweise

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.01.2014
Aktenzeichen
1 ME 222/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 10629
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0129.1ME222.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 18.10.2013 - AZ: 4 B 6109/13

Fundstellen

  • NVwZ-RR 2014, 5
  • NVwZ-RR 2014, 413-414
  • NordÖR 2014, 197-198

Amtlicher Leitsatz

Auch bei prägender geschlossener Bauweise kann eine Grenzbebauung im Einzelfall gegen das Gebot der Rücksichtnahme (§ 34 Abs. 1 BauGB) verstoßen, wenn das Nachbargebäude einen geringen Grenzabstand hält, Aufenthaltsräume zur Grenze hin orientiert sind und ein schutzwürdiges Vertrauen des Nachbarn besteht, dass auf dem Baugrundstück ebenfalls ein geringer Grenzabstand erhalten bleibt.

Tenor:

Die Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer - vom 18. Oktober 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 48.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Apartmenthauses unmittelbar an ihrer Grundstücksgrenze, weil sie eine unzumutbare Beeinträchtigung der zur Grenze orientierten Wohnräume ihres Gebäudes befürchtet.

Der Antragstellerin, einer Wohnungseigentümergemeinschaft, gehört das Grundstück D. straße 20 auf E.. Dieses ist mit einem im Jahr 1995 errichteten Apartmenthaus mit vier Vollgeschossen und ausgebautem Dachgeschoss bebaut. Zur seiner südlichen Grenze hält das Gebäude, das in seiner Südwand Loggien sowie Fenster aufweist, die Aufenthaltsräume belichten, einen Grenzabstand von rund 2,50 m. Dieser der Vorgängerbebauung entsprechende geringe Grenzabstand geht ausweislich der Bauakte auf eine städtebauliche Forderung der Stadt E. zurück, die zum damaligen Zeitpunkt noch die historisch überkommenen Traufgassen (Lohnen) zwischen den Gebäuden erhalten wollte und in dem Abstand zugleich eine zu begrüßende Abgrenzung von höherer und niedrigerer Bebauung sah. Die damaligen Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks D. straße 19 stimmten dem Vorhaben zu.

Das vorgenannte Grundstück D. straße 19 steht heute im Eigentum der Beigeladenen. Gegenwärtig ist es mit einem älteren zweigeschossigen Pensionshaus bebaut, das zur nördlichen Grundstücksgrenze einen Abstand von mindestens 2,50 m hält. Die Beigeladene möchte das Gebäude abreißen und an seiner Stelle ein Apartmenthaus mit drei Vollgeschossen und ausgebautem Dachgeschoss errichten. Das rund 11,5 m hohe Gebäude, dessen Tiefe in etwa dem auf dem Grundstück der Antragstellerin stehenden Gebäude entspricht, soll grenzständig auf der nördlichen Grundstücksgrenze errichtet werden. Für dieses Vorhaben erteilte der Antragsgegner unter dem 4. Juni 2013 die Baugenehmigung.

Die Antragstellerin erhob Widerspruch und beantragte erfolglos, die Vollziehung der Baugenehmigung auszusetzen. Auf ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht Oldenburg mit Beschluss vom 18. Oktober 2013 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstoße wegen der geplanten Grenzbebauung gegen das Gebot der Rücksichtnahme und infolgedessen gegen die bauordnungsrechtlichen Grenzabstandsvorschriften. Für das Grundstück der Antragstellerin sei es unzumutbar, dass ein mehr als 11 m hohes Gebäude auf einen Abstand von lediglich noch 2,50 m an ihr Gebäude heranrücke und die Belichtung und Belüftung empfindlich einschränke. Zu berücksichtigen sei dabei die Entstehungsgeschichte ihres Gebäudes. Dieses sei mit Zustimmung der Rechtsvorgänger der Beigeladenen errichtet worden, sodass damit die bauliche Entwicklung im Grenzbereich vorgezeichnet gewesen sei. Richtig sei zwar, dass sich der Bauherr des Gebäudes D. straße 20 bewusst entschieden habe, Fenster und Loggien zur Südgrenze hin auszurichten, das allerdings mit Billigung der Rechtsvorgänger der Beigeladenen. Auf bautechnische Lösungsmöglichkeiten wie etwa den Einbau weiterer Fenster in Richtung Osten müsse sich die Antragstellerin nicht verweisen lassen. Das Interesse der Beigeladenen sei nicht in besonderer Weise schutzwürdig.

Gegen diesen Beschluss wendet sich die Beigeladene mit ihrer Beschwerde; der Antragsgegner schließt sich dem Beschwerdevorbringen ohne eigenen Antrag im Wesentlichen an. Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen.

II.

Die Beschwerde der Beigeladenen hat keinen Erfolg.

Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angegriffenen Beschlusses. Der Senat teilt vielmehr die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die geplante grenzständige Bebauung auf dem Grundstück der Beigeladenen gegen das aus § 34 Abs. 1 BauGB folgende bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, dessen Anforderungen das Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegeben hat, verstößt. Die Einwände der Beigeladenen und des Antragsgegners gestatten keine andere Betrachtung.

Ohne Erfolg wendet sich die Beigeladene zunächst gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, mit der Zustimmung ihrer Rechtsvorgänger zu einer Bebauung des Grundstücks der Antragstellerin mit geringem Grenzabstand hätten diese einen Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen, dass ein solcher Abstand auch auf dem Baugrundstück erhalten bleibt. Soweit die Beigeladene meint, ihr Rechtsvorgänger habe allein eine Unterschreitung des regelmäßigen Grenzabstands von 1 H gebilligt, nicht aber auf eine eigene Bebauung auf der Grenze verzichtet, trifft das nach dem Inhalt der Bauakten nur teilweise zu. Die Nachbarzustimmung hatte nicht den vorgenannten eng begrenzten Inhalt, sondern sie erstreckte sich auf das Vorhaben als solches einschließlich seines Grenzabstands und der Fensteröffnungen sowie Loggien nach Süden. Bedingt war die Zustimmung zudem dadurch, dass auf der Grenze eine Sichtschutzmauer errichtet und die gesamte Hoffläche auf Kosten des damaligen Bauherrn einheitlich gepflastert werden sollte. Eine derartige einvernehmliche Gesamtlösung erweckt das - berechtigte - Vertrauen, der Nachbar werde nunmehr seinerseits kein Gebäude errichten, das einen gewissen Mindestabstand unterschreitet und damit die in den vorstehenden Festlegungen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption obsolet macht. Auf die privatrechtlichen Regelungen des Niedersächsischen Nachbargesetzes kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

Ein schutzwürdiges Vertrauen der Antragstellerin dahingehend, dass es auch bei einer Neubebauung des Grundstücks der Beigeladenen bei einem geringen Grenzabstand bleiben werde, folgt zudem aus dem Verhalten des Antragsgegners bzw. der Stadt E.. Der auf dem antragstellerischen Grundstück realisierte Grenzabstand beruht nämlich auf dem damaligen städtebaulichen Ziel der Stadt E., die zwischen den Gebäuden D. straße 19 und 20 vorhandene Lohne zu erhalten. Dieses Ziel, das ausweislich der Erteilung des Einvernehmens mit Schreiben vom 23. August 1994 der Genehmigung der abweichenden Bauweise zugrunde lag, galt für beide Grundstücke gleichermaßen. Das hindert zwar weder die Stadt E. noch den Antragsgegner, nunmehr das gegenläufige Ziel der Schließung von Lohnen zu verfolgen. Soweit jedoch - wie in diesem Fall - im Vertrauen auf den Erhalt der Lohnen gebaut worden ist, sind die entsprechenden Dispositionen schutzwürdig. Das gilt gerade angesichts der erheblichen Gesamtbreite der Lohne von rund fünf Metern, die über das übliche Maß deutlich hinausgeht und die zu einer ausreichenden Belüftung und Belichtung sowie Besonnung beider Nachbargrundstücke jedenfalls beiträgt (vgl. dazu Senat, Beschl. v. 29.8.2013 - 1 LA 219/11 -, [...] Rn. 13). Ein Vorhaben, das sich über eine daran orientierte Bestandsbebauung ohne Weiteres hinwegsetzt, ist mit dem Gebot der Rücksichtnahme nicht vereinbar (vgl. dazu jetzt BVerwG, Urt. v. 5.12.2013 - 4 C 5.12 -, Rn. 21f). Auf die Frage, ob schon ein Verstoß gegen das Gebot gesunder Wohnverhältnisse vorliegt, kommt es vor diesem Hintergrund nicht mehr an.

Entgegen der Ansicht der Beigeladenen ist die Antragstellerin auch nicht gehalten, durch den Einbau zusätzlicher Fenster nach Osten selbst für eine ausreichende Belichtung der durch das Bauvorhaben verdunkelten Aufenthaltsräume zu sorgen. Dabei kann dahinstehen, ob der Grund dafür, dass nach Osten hin vergleichsweise wenige Fenster angeordnet sind, in der - legalen oder illegalen - Hinterhofbebauung liegt. Maßgeblich ist allein, dass das Gebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen in der vorliegenden Gestalt im Vertrauen darauf errichtet worden ist, dass die Lohne nicht einseitig geschlossen wird. Ein Vorrang der architektonischen Selbsthilfe ist deshalb in diesem Fall nicht auszumachen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beigeladene an den Kosten beteiligt.

Der Senat teilt auch nicht die Auffassung, dass ein derartiges Verständnis der Nachbarzustimmung das Rechtsinstitut der Baulast entwerte. Rücksicht auf den vorhandenen Gebäudebestand ist nicht nur/erst dann zu nehmen, wenn derartige Pflichten durch Baulast gesichert sind. Im Gegenteil folgt bereits aus dem Begriff des "Einfügens" in § 34 Abs. 1 BauGB, dass die vorhandene Bebauung den Rahmen für die zulässige Art und das zulässige Maß einer weiteren Bebauung setzt. Zu Unrecht meint die Beigeladene in diesem Zusammenhang, dass eine daraus resultierende Baubeschränkung für sie nicht erkennbar gewesen sei. Im Gegenteil drängt es sich geradezu auf, dass es rücksichtslos ist, die Fenster und Loggien von Aufenthaltsräumen eines benachbarten Gebäudes in derart kurzer Distanz mit einem mehr als elf Meter hoch aufragenden Gebäude zu verstellen. Die Antragstellerin hat insofern zu Recht darauf hingewiesen, dass sich in der Örtlichkeit unübersehbar ein Bild biete, dem die Grenzen des Gestaltungsspielraums zu entnehmen seien.

Soweit das Gebäude auf dem Grundstück der Antragstellerin schließlich den nach der Baugenehmigung vorgegebenen Grenzabstand unterschreiten sollte, ließe das die angegriffene Baugenehmigung ebenfalls nicht in günstigerem Licht erscheinen. Ein tatsächliches Unterschreiten des genehmigten Grenzabstands mag dazu führen, dass man der Beigeladenen - dem nachbarlichen Austauschverhältnis entsprechend - ein vergleichbares Heranrücken an die Grenze gestattet. Es rechtfertigt indes keine Grenzbebauung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 i. V. mit § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG; der Senat schließt sich den Erwägungen des Verwaltungsgerichts an.