Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.01.2014, Az.: 1 ME 220/13
Abstandsrecht bzgl. des Anfügens einer Balkonanlage bei zwingend geschlossener Bauweise an die Gebäudevorderseite oder Rückseite; Balkonbegriff und das Gebot der Rücksichtnahme als ausreichender Nachbarschutz
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 22.01.2014
- Aktenzeichen
- 1 ME 220/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 10630
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2014:0122.1ME220.13.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 07.11.2013 - AZ: 4 B 6889/13
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO
- § 5 Abs. 7 S. 1 NBauO
- § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB
Fundstellen
- BauR 2014, 825-829
- BauR 2014, 1356
- FStNds 2014, 478-480
- NVwZ-RR 2014, 6
- NVwZ-RR 2014, 461
- NdsVBl 2014, 225-228
- ZfBR 2014, 277
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Auch nach neuem Abstandsrecht (Niedersächsische Bauordnung vom 3.4.2012, GVBl. S. 46) braucht eine Balkonanlage, die bei zwingend geschlossener Bauweise an die Gebäudevorder oder rückseite angefügt wird, nicht die in § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO bestimmten Anforderungen zu erfüllen. Ausreichenden Nachbarschutz vermitteln der Balkonbegriff sowie das Gebot der Rücksichtnahme.
- 2.
Es bleibt unentschieden, ob dies auch für den Fall fakultativer geschlossener Bauweise gilt.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 7. November 2013 - mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung - geändert und der Antrag abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen; außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 15.000,-- € festgesetzt.
Gründe
Die Beteiligten streiten insbesondere um die abstandsrechtliche Privilegierung einer Balkonanlage. Außerdem steht im Streit, ob die Antragsgegnerin bei Verletzung geltenden Abstandsrechts die Abweichung hätte genehmigen dürfen.
Der Beigeladene beabsichtigt, vor den an den Gebäudeaußenwänden angeordneten Fenstern der beiden Wohnzimmer in jedem der drei Vollgeschosse seines Gebäudes C. straße 14 in D. eine Balkonanlage zu errichten, welche zu den beiden seitlichen Grenzen jeweils einen Abstand von 70 cm einhalten soll. Sein Grundstück und das östlich anschließende der Antragstellerin liegen an der Südseite der C. straße. Diese ist durchgängig, d.h. von der E. straße im Westen über die F. straße hinweg bis zum G. Weg an ihrer Südseite mit der Besonderheit in geschlossener Weise bebaut, dass die Gebäudenord- und -südseiten wie an einer Schnur aufgereiht sind. Die Gegend ist unverplant.
Die Südwand des Beigeladenen-Gebäudes ist 17 m lang; die Balkone sollen jeweils drei Meter breit und zwei Meter tief sein. Im hierfür erteilten Bauschein vom 3. Juli 2013 genehmigte die Antragsgegnerin eine Abweichung von den Abstandsvorschriften.
Das Verwaltungsgericht hat dem Eilantrag im Wesentlichen mit der Begründung stattgegeben, mit insgesamt 6 m seien die Balkonanlagen breiter als ein Drittel der Gebäudesüdseite; das führe zu ihrer Unzulässigkeit. Im Einzelnen hat es in der Sache ausgeführt:
Richtig sei, dass im Grundsatz § 5 Abs. 7 Satz 1 NBauO 2012 anzuwenden sei. Denn nach § 34 BauGB dürften hier Gebäude in diesem Bereich südlich der C. straße nur ohne Grenzabstand errichtet werden. Aufgeständerte, nicht also aus der Gebäudewand vorkragende Balkone genössen das Privileg dieser Vorschrift, und zwar auch dann, wenn sie - wie hier - in den Bereich vordrängen, der nicht mehr durch die Pflicht zu geschlossener Bauweise geprägt sei (Verweis auf Senatsbeschluss vom 29.12.2000 - 1 MA 4235/00 -). Eine dem Beigeladenen günstige Anwendung dieser Vorschrift scheitere jedoch daran, dass die Balkone mehr als ein Drittel der Breite der südlichen Außenwand in Anspruch nähmen. Die Verweisung des Absatzes 7 auf § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO gelte auch hier und habe zur Folge, dass die Balkone bei der gewählten Tiefe jeweils allenfalls ([17 m: 3] : 2 =) 2,83 m breit sein dürften. Die Abweichung hiervon habe die Antragsgegnerin zu Unrecht gewährt. Mit den Regelungen des § 5 Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 NBauO habe "der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt, dass ein Nachbar auch in den Bereichen der geschlossenen Bauweise außerhalb der überbaubaren Fläche diesen ohnehin bereits reduzierten Regelabstand von 1/2 H mindestens aber 3,00 m beanspruchen" dürfe. Dem Nachbarn mute das Gesetz mit § 5 Abs. 7 NBauO zwar zu, ausnahmsweise näher heranrückende Bauteile hinnehmen zu müssen. Das gelte aber nur um den Preis gesetzlich nunmehr genau beschriebener Maße. Dieses fein austarierte System werde hier ohne zureichenden Grund verlassen. Es seien keine öffentlichen Belange ersichtlich, welche die Abweichung trügen. Das von der Antragsgegnerin beschriebene Alternativverhalten, an ihrer Grundstücksgrenze habe die Antragstellerin bei Verzicht auf die westliche dann sogar eine 5,66 m breite Balkonanlage hinzunehmen, sei zwar tatsächlich richtig, rechtlich aber nicht überzeugend. Mit dieser Argumentation könnten an beide Gebäudeecken solche Anlagen im Abweichungswege zugelassen werden. Das sei mit dem Gesetzeszweck nicht zu vereinbaren.
Hiergegen führt die Antragsgegnerin Beschwerde, welcher die Antragstellerin entgegentritt.
Eine wegen § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die rechtzeitig geltend gemachten Gründe zu beschränkende Prüfung ergibt, dass der Beschwerde stattzugeben ist. Das mit Bauschein vom 3. Juli 2013 genehmigte Vorhaben steht in Einklang mit den Abstandsvorschriften der Niedersächsischen Bauordnung in der Fassung des Gesetzes vom 3. April 2012 (GVBl. Nr. 5 vom 12. April 2012, S. 46), die nach ihrem § 88 Abs. 1 Satz 2 hinsichtlich der Grenzabstandsvorschriften (§ 5) schon am Tage nach ihrer Bekanntmachung in Kraft getreten ist. Die hier maßgeblichen Passagen des niedersächsischen Abstandsrechts lauten:
§ 5 Grenzabstände
(1) 1Gebäude müssen mit allen auf ihren Außenflächen oberhalb der Geländeoberfläche gelegenen Punkten von den Grenzen des Baugrundstücks Abstand halten. 2 ....
(2) 1 Der Abstand beträgt 0,5 H, mindestens jedoch 3 m. 2 ....
(3) Der Abstand nach den Absätzen 1 und 2 darf unterschritten werden von
1. Dachüberständen und Gesimsen um nicht mehr als 0,50 m,
2. Vorbauten, Eingangsüberdachungen, Hauseingangstreppen, Balkonen und anderen vortretenden Gebäudeteilen um nicht mehr als 1,50 m, höchstens jedoch um ein Drittel, wenn sie insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der jeweiligen Außenwand in Anspruch nehmen.
(5) 1Soweit ein Gebäude nach städtebaulichem Planungsrecht ohne Grenzabstand errichtet werden muss, ist Absatz 1 Satz 1 nicht anzuwenden. 2 Soweit ein Gebäude nach städtebaulichem Planungsrecht ohne Grenzabstand errichtet werden darf, ist es abweichend von Absatz 1 Satz 1 an der Grenze zulässig, wenn durch Baulast gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück entsprechend an diese Grenze gebaut wird, oder wenn auf dem Nachbargrundstück ein Gebäude ohne Abstand an der Grenze vorhanden ist und die neue Grenzbebauung der vorhandenen, auch in der Nutzung, entspricht.
(7) 1 Ist ein Gebäude nach Absatz 5 Satz 1 an eine Grenze gebaut, so sind nicht an diese Grenze gebaute Teile des Gebäudes, die unter Absatz 3 fallen, in beliebigem Abstand von dieser Grenze zulässig. 2 Ist ein Gebäude nach Absatz 5 Satz 2 an eine Grenze gebaut, so darf der nach Absatz 3 einzuhaltende Abstand der dort genannten Gebäudeteile von dieser Grenze weiter verringert werden, wenn der Nachbar zugestimmt hat oder auf dem Nachbargrundstück entsprechende Gebäudeteile vorhanden sind.
Zu Recht außer Streit steht, dass das Privileg des § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO auch auf Balkone anzuwenden ist, welche nicht aus der Wand vorkragen, sondern auf Stützen/Stelzen vor die Gebäudewand gestellt werden (Senatsbeschluss vom 29.12.2000 - 1 M 4235/00 -, BauR 2001, 937 = BRS 63 Nr. 143 = NdsVBl 2001, 145 = NdsRpfl 2001, 202).
Der Ausgangspunkt der rechtlichen Überlegungen steht ebenfalls zu Recht außer Streit: An der Südseite der C. straße darf aus städtebaurechtlichen Gründen nur in geschlossener Bauweise gebaut werden.
Anders als das Verwaltungsgericht deutet der Senat den deshalb anzuwendenden § 5 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. Absatz 5 Satz 1 NBauO 2012 nicht als eine Art Rechtsgrund-, sondern eine Rechtsfolgenverweisung auf § 5 Absatz 3 NBauO 2012. Auf diese Vorschrift verweist Absatz 7 mithin nicht zur Bezeichnung der Voraussetzungen, unter denen allein/erst ein Balkon abstandsrechtlich bevorzugt wird, der nicht in Richtung des Nachbarn weist, der sich hiergegen wehrt. Für zwingend geschlossene, d. h. eine Bauweise, in der ein Balkon im Regelfall nicht zum Nachbargrundstück zeigt, verweisen § 5 Abs. 3 Nr. 2 und Absatz 7 Satz 1 NBauO nur zur grundsätzlichen Bezeichnung auf die abstandsrechtlich privilegierten Bauteile. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift ist es nicht gerechtfertigt, auf Balkone, welche nicht in Richtung Nachbargrundstück ausgerichtet sind, sondern im 90°-Winkel dazu in den eigenen Gartenbereich weisen, die Bestimmungen anzuwenden, welche nur für die erstgenannte Sichtweise einen Sinn ergeben. Im Einzelnen ist auszuführen:
Eine gewisse Stütze scheint die Auffassung des Verwaltungsgerichts in der Neukommentierung von Breyer (in: Große-Suchsdorf, NBauO 9. Aufl. 2013, Rdnr. 199) zu finden. Dort bemängelt Breyer zunächst die s. E. unverständliche Differenzierungen in § 5 Abs. 7 Satz 1 einerseits und Sätze 2 und 3 andererseits. Im Falle nur fakultativer Grenzbebauung sei der Nachbar in gleicher Weise schutzbedürftig, mit anderen Worten der Bauherr im Falle städtebaurechtlich zwingender Grenzbebauung (Satz 1) zu Unrecht weitergehend begünstigt. Daran schließen sich (aaO) folgende Ausführungen an:
Im Übrigen dürfen ja in allen Fällen des Abs. 5 Balkone, Erker usw. unmittelbar an die Grenze gebaut werden. Diese Art der Anordnung dürfte den Nachbarn am meisten stören, und dennoch muss er es auch in den Fällen des Abs. 5 hinnehmen. Die bisherige Beschränkung nach § 7b Abs. 3 a. F. auf einen seitlichen Grenzabstand von 2,00 m ist entfallen. Es gelten jetzt die Beschränkungen nach Abs. 3 Nr. 2 auf 1,50 m, höchstens jedoch 1 Drittel. Das schränkt die Variabilität der Bebauungsmöglichkeiten ein. So darf innerhalb des Mindestabstandes von 3, 00 m zur Grundstücksgrenze bis auf 2,00 m an sie herangerückt werden. Ab 6,00 m Höhe oberhalb des Geländes müssen solche Anbauten von der Nachbargrenze sukzessiver zurückweichen, bis sie ab 9,00 m Höhe den Regelabstand um 1,50 m unterschreiten dürfen.
Diese Sätze ("Die bisherige Beschränkung nach § 7b Abs. 3 a. F. auf einen seitlichen Grenzabstand von 2,00 m ist entfallen. Es gelten jetzt die Beschränkungen nach Abs. 3 Nr. 2 auf 1,50 m, höchstens jedoch 1 Drittel.") scheinen - ganz eindeutig ist das allerdings nicht - die Auffassung der Antragstellerin und des Verwaltungsgerichts zu stützen. Der Senat folgt dieser Einschätzung nicht, sondern der Kommentierung von Barth/Mühler (Die Abstandsvorschriften der Niedersächsischen Bauordnung, 4. Aufl. 2013, § 5 Rdnr. 109). Hiernach unterliegen die in § 5 Abs. 3 NBauO genannten Gebäudeteile nur dann den dort genannten Beschränkungen, wenn sie in Richtung des Grundstücks weisen, welches sich hiergegen zur Wehr setzt. Denn Sinn dieser Vorschrift sei lediglich, diese Grundstückseigentümer/-nachbarn vor übergroßer Belastung durch untergeordnete, in Richtung seiner entsprechenden Hausflanke vortretende Gebäudeteile zu schützen. Eine solche Situation bestehe bei Anwendung des § 5 Abs. 7 NBauO nicht. Rage der Gebäudeteil nicht zur gemeinsamen Grenze hin aus dem Bauwerk, spiele die Beschränkung auf ein Drittel der (von dort ja gar nicht sichtbaren) Gebäudewand keine Rolle. Dies hält der Senat für überzeugend(er).
Der Wortlaut der Vorschrift gibt dazu allerdings keinen hinreichend deutlichen Hinweis. Zwar verwenden die Sätze 1 und 2 des § 5 Abs. 7 NBauO 2012 unterschiedliche Wendungen. Gleichwohl lässt der Wortlaut des Satzes 2 ("nach Absatz 3 einzuhaltende Abstand der dort genannten Gebäudeteile") nicht den zwingenden Umkehrschluss zu, bei städtebaurechtlich zwingender geschlossener Bauweise (Satz 1) brauchten Balkone die für ihre seitliche, dem Nachbarn zugewandte Anbringung nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO 2012 geltenden Voraussetzungen nicht zu erfüllen.
Dieses Ergebnis folgt möglicherweise aus einer historischen Auslegung (dazu sogleich), in jedem Fall aber aus einer Besinnung auf Sinn und Zweck dieser Abstandsvorschrift.
§ 5 NBauO übernimmt - mit wenigen eher sprachlichen Überarbeitungen des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration (LT-Drs. 16/4586, Erläuterung im Schriftlichen Bericht LT-Drs. 16/4621, S. 7) - im Wesentlichen den Regierungsentwurf einer Niedersächsischen Bauordnung vom 21. Dezember 2010 (LT-Drs. 16/3195). Danach (aaO, Seite 73) entspricht § 5 Abs. 7 NBauO im Wesentlichen § 7b Abs. 3 NBauO a. F.; lediglich seine Ausnahmen seien gestrichen worden; dies bezieht sich offenbar auf die Möglichkeit, den in § 7b Abs. 3 Satz 2 NBauO a. F. genannten Mindestabstand von 2 m noch weiter zu verringern, wenn die Gebäudeteile sonst nicht oder nur unter Schwierigkeiten auf dem Baugrundstück errichtet werden konnten.
Im Übrigen soll es ersichtlich nicht nur bei den Regelungen des § 7b Abs. 3 NBauO a. F., sondern auch bei der Rechtsprechung bleiben, welche der Senat hierzu entwickelt hatte. Dazu zählt namentlich der Fall, zu dem der Senat nicht nur den oben bereits zitierten Beschluss vom 29. Dezember 2000 (- 1 M 4235/00 -, BauR 2001, 937 = BRS 63 Nr. 143 = NdsVBl. 2001, 145 = NdsRpfl. 2001, 202) gefasst hatte. Mit diesem war - wie nach damaligen Rechtsmittelrecht erforderlich - lediglich die Beschwerde gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover vom 20. November 2000 (- 4 B 5522/00 -) zugelassen worden. In dem das Beschwerdeverfahren abschließenden Beschluss vom 25. Januar 2001 (- 1 MB 2/01 -, Vnb) hatte der Senat die Ausgangsentscheidung geändert und den Eilantrag der damaligen Nachbarn abgelehnt. Dabei beanstandete der Senat in beiden Beschlüssen nicht, dass die in Rede stehende, bis auf 1,20 m an die gemeinsame Grundstücksgrenze heranrückende, alle fünf Vollgeschosse umfassende Balkonanlage (eine Breite von 3,30 m, vor allem aber) eine Tiefe von 1,80 m hatte. Wäre er der Auffassung gewesen, die in § 7b Abs. 1 NBauO a. F. für eine Frontalstellung gegenüber dem Nachbargrundstück bestimmten Maße gälten auch dann, wenn der Balkon nur seine Wange dem Nachbargrundstück zuwende, hätte er der Beschwerde nicht stattgeben dürfen. Dies hat der Senat - wenngleich nicht mit eingehender Begründung - so indes nicht angenommen. Die historische Auslegung in der Gestalt der Annahme, der Gesetzgeber habe die zitierten Senatsentscheidungen gekannt, spricht - wenngleich vielleicht nur in Maßen - für die vom Senat für richtig befundene Auslegung neuen Rechts.
Nach neuerlicher Prüfung hält der Senat an der seinerzeit eingeschlagenen Linie für die Neufassung der Niedersächsischen Bauordnung fest.
Sinn und Zweck der Grenzabstandsvorschriften erfordern es nicht, die Regelungen des § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO auf die hier zu beurteilende Konstellation zu übertragen. Diese Vorschrift ist auf die Frontalstellung der mit einer Balkonanlage versehenen Gebäudeseite zur seitlichen Grundstücksgrenze zugeschnitten, d. h. den Fall, dass beide Nachbarn (Austauschverhältnis) in diesem Bereich zur gemeinsamen Grundstücksgrenze hin ausreichend Licht, Sonne und Luft erhalten sollen. Nur aus diesem Grund beschränkt der Gesetzgeber in Quer- und Längsrichtung den Umfang privilegierter, d. h. solcher Gebäudeteile, welche in diesen Bereich hinein sollen "wachsen" dürfen. Im Fall vom Städtebaurecht erzwungener geschlossener Bauweise ist der Ausgangspunkt wesentlich anders. Im Regelfall gleich an zwei Grenzen kann dort der Zweck der Abstandsvorschriften (Besonnung, Belüftung) nicht erfüllt werden. Dieser ist durch die NBauO-Novelle 2012 (Gesetz vom 3.4.2012, GVBl. S. 46) zudem deutlich eingeschränkt worden. Der Gesetzgeber verfolgt mit dem neuen Abstandsrecht keine städtebaulichen Absichten mehr, will mit ihm namentlich nicht mehr angehobene Qualitätsanforderungen erfüllen. Er reduzierte das abstandsrechtliche Anforderungsniveau im Jahre 2012 vielmehr bewusst mit dem Ziel, es - zwar nicht auf das "Minimum" zu verkürzen, welches die Musterbauordnung mit 0,4 H beschreibt, wohl aber - nur noch an einem sicherheitsrechtlichen Minimum auszurichten (vgl. LT-Drs. 16/3195, S. 71 zu § 5 Grenzabstände). Städtebauliche Absichten kann/mag die planende Gemeinde auf der Grundlage von § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB verfolgen. Die Abstandsvorschriften verfolgen jetzt erst recht nicht mehr den Schutz vor fremden Einblicken (vgl. Breyer, aaO, § 5 Rdnr. 23; Breyer, aaO, Rdnr. 22). Ob sie so etwas wie einen Sozialabstand wahren sollen (so Barth/Mühler, aaO, Einführung zu den Abstandsvorschriften der NBauO, Rdnr. 1), war schon vor der NBauO-Novelle 2012 nicht eindeutig zu beantworten und ist jetzt, d. h. nach Reduktion der Mindestabstände erst recht (jedenfalls hinsichtlich der Reichweite) nicht zweifelsfrei zu bejahen.
Für die geschlossene Bauweise ergibt sich, dass die verbliebenen Gesetzeszwecke im Regelfall nur noch zu zwei Gebäudeseiten hin erfüllt werden können. Das reduziert für die Etagenwohnungen die Möglichkeiten, sich einen "Austritt in freie Luft und Besonnung" zu verschaffen, gleich auf zwei Gebäudeseiten. Dementsprechend besteht kein Anlass, auch diese verbliebenen Möglichkeiten an die Einschränkungen des § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO zu binden. Im Austauschverhältnis beider/aller Grundstücksnachbarn liegt es vielmehr, die in § 5 Abs. 3 NBauO genannten Balkone als Gebäudeteile, von denen aus frische Luft und Besonnung vorzüglich genossen werden können, wenigstens an diesen beiden Seiten in auskömmlichem Umfang unterbringen zu können, ohne Einwendungen des Nachbarn ausgesetzt zu sein. Die Balkonlänge kann von dessen Grundstück nicht bzw. nur dann überblickt werden, wenn er seinerseits von dem Privileg des § 5 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2 NBauO Gebrauch gemacht hat. Im erstgenannten Fall (kein eigener Balkon - jedenfalls nicht auf dieser Etage) werden seine Interessen an Belüftung und Besonnung nicht/allenfalls ganz untergeordnet zurückgestellt. Im zweiten stehen die konkurrierenden Nutzungsbelange selbst dann im Gleichgewicht, wenn die Abstände von der Grundstücksgrenze einander nicht vollständig entsprechen und der Balkon größer ist, als dies nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO bei "Frontalstellung" reglementiert wird.
Ob diese für zwingend geschlossene Bauweise angestellten Erwägungen auch für den Fall nur fakultativ geschlossener Bauweise (§ 5 Abs. 7 Satz 2 NBauO) gilt, kann hier unentschieden bleiben. Diese Konstellation war von den Beteiligten auch nicht diskutiert worden.
Die Balkontiefe bildet ebenfalls keinen durchgreifenden Grund, § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO zumindest entsprechend heranzuziehen. Es mag zwar sein, dass die Tiefe der Balkonwange nachbarliche Interessen tangiert. Insoweit wird der Nachbar aber schon - außer durch das nachfolgende zu diskutierende Gebot der Rücksichtnahme - ausreichend durch den Balkonbegriff geschützt. Nicht jedes vor die Gebäudevorder- oder -rückwand tretende Gebilde kann reklamieren, ein Balkon zu sein (vergleiche dazu zusammenfassend Senatsb. vom 19.4.2013 - 1 LA 146/11 -, jetzt: 1 LB 74/13; s. a. B. v. 22.7.2010 - 1 LA 139/08 - und B. v. 3.7.2012 - 1 ME 82/12 -; alle unveröffentlicht).
Auch insoweit bestehen hier keine durchgreifenden Bedenken. Im Beschluss vom 19. April 2013 - 1 LA 146/11 - hatte der Senat ausgeführt:
Die insoweit anzustellenden Überlegungen hat der Senat in seinem unveröffentlichten Eilbeschluss vom 3. Juli 2012 - 1 ME 82/12 - wie folgt zusammengefasst:
Entgegen der Annahme der Beschwerdeführer steht die Baumaßnahme aber nicht so eindeutig im Einklang mit § 7b Abs. 1 Satz 1 NBauO, dass der Eilantrag aus sachlichen Gründen erfolglos bleiben müsste. Vielmehr sprechen so gewichtige Gründe gegen eine den Beigeladenen günstige Anwendung des § 7b NBauO, dass ihr Nutzungsinteresse das des Antragstellers übersteige, von einer Ausnutzung des Bauscheins vom 16. Januar 2012 bis zur Klärung seiner Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben. Zwar weisen die Beschwerdeführer zu Recht darauf hin, dass § 7b Abs. 1 Satz 1 NBauO keine Definition des "Balkons" enthält. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass jedwedes Bauwerk unabhängig von Größe, Ausgestaltung und Nutzungsart darunter fiele. Zunächst kann hier nicht der "Anbau" ohne die bereits vorhandene Fläche, die er laut Baubeschreibung "vergrößern soll" (Blatt 9 Beiakte A, Blatt 10 Beiakte B), betrachtet werden. Abgesehen davon, dass die Nutzung nur einheitlich erfolgen kann und soll, stellt sich die Baumaßnahme auch konstruktiv als Einheit dar. Der Balkon, wie er in der Baugenehmigung vom Januar 2012 erfasst ist, ruht mit seiner südlichen Längsseite auf 3 Stützen und schließt nördlich an die vorhandene Bodenplatte an, bildet also mit dieser zusammen eine bauliche Einheit. Entsprechend ist in dem ursprünglichen Bauantrag vom Oktober 2011 das Vorhaben auch als "Terrassenvergrößerung" beschrieben worden. Damit entsteht ein Bauwerk von 4 m Tiefe und 7 m Länge, das bis auf 2,09 m an die Grenze zum Nachbargrundstück heranrückt. Der Senat hat bereits in der Entscheidung vom 29. Dezember 2000 (- 1 M 4235/00 -, BRS 63 Nr. 143 vgl. dazu auch Lamberg, Die Balkontiefe nach § 7 b Niedersächsische Bauordnung und § 6 Musterbauordnung, BauR 2003, 1840; Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO 8. Aufl., § 7 b RdNr. 10) darauf hingewiesen, dass es zwar nicht auf Konstruktionsfragen wohl aber auf Größenbegrenzungen ankommen kann. Bereits in einer Entscheidung vom 9. Februar 1981 (- 6 A 226/79 -, BRS 38 Nr. 120) hatte der seinerzeit ebenfalls für das Baurecht zuständige 6. Senat des Gerichts auf die Intensität der Nutzung abgestellt und die erheblich größeren Wirkungen auf das Nachbargrundstück, die von einem "Loggia - Balkon" mit einer Größe von insgesamt 1,80 x 10 m ausgingen. Stellte der 6. Senat im letztgenannten Fall auf die wohnähnliche Nutzungsmöglichkeit aufgrund der teilweisen Überdachung ab, ergibt sich eine wohnähnliche Nutzungsmöglichkeit, vorliegend aus der Größe von insgesamt 7 x 4 m. Bewegt sich ein "herkömmlicher Balkon" als "Freisitz" in einer Größenordnung von ca. 2 m Tiefe, ist dieses Maß bei einer Tiefe von 4 m in jedem Fall überschritten. Eine Fläche von 4 x 7 m lässt eine Verlagerung wohnähnlicher Nutzung vom Wohnungsinneren auf die freie Fläche in einem Maß zu, das die Möglichkeiten eines "herkömmlichen Balkons" von etwa 2 m Tiefe weit übersteigt und diesem nicht mehr vergleichbar ist.
Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob die Freifläche in ihrer baulichen Dimension sich an die Dimensionen oder "die gehobenen Wohnansprüche" des Gebäudes, dem sie dient, anpasst. Entscheidend ist vielmehr, ob die Funktion als Gebäudeteil geeignet ist, ihn in für den Nachbarn zumutbarer Weise an die Grenze heranzurücken. Großzügig ausgestaltete Terrassen, die großflächig angelegten Häusern entsprechen, befinden sich, wie die Beigeladenen selbst betonen, auch auf den entsprechend weitläufig gestalteten Grundstücken. Ein Heranrücken an die Grundstücksgrenzen, um die auf andere Weise nicht erreichbare Möglichkeit eines "Freisitzes" zu verwirklichen, dürfte auf diesen Grundstücken gerade nicht der "Realität und den vorhandenen Gegebenheiten" entsprechen.
Maßgeblich ist mithin - wie etwa auch bei der Beurteilung von Gauben (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 31.5.1995 - 1 M 1920/95 -, OVGE 45, 434 = NVwZ-RR 1996, 5 = BRS 57 Nr. 158) -, ob die Anlage dazu dient, in nennenswertem Umfang zusätzliche Wohnfläche zu gewinnen. In seinem Beschluss vom 22. Juli 2010 (- 1 LA 139/08 -, gleichfalls Vnb) hatte der Senat dementsprechend ausgeführt:
Es kommt hinzu, dass das Tatbestandsmerkmal der Unterordnung auch in funktionaler/qualitativer Hinsicht Anforderungen daran stellt, was abstandsrechtlich noch als untergeordnet angesehen werden kann. Es darf sich nicht um Gebäudeteile handeln, die eine Fläche zur Wohnnutzung enthalten. Ihre Funktion hat sich entweder darauf zu beschränken, die Gebäudemasse zu gliedern, oder aber darauf, die dahinter liegenden Räume zu belichten und ihre Raumwirkung zu beeinflussen; zusätzlich in den Abstandsbereich hinein gewonnene Wohnnutzfläche ist abstandsrechtlich nicht als noch untergeordnet privilegiert (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/ Wiechert, aaO, § 7b Rdn. 16). Das gilt namentlich für Terrassen. Denn wie sich aus § 12a Abs. 1 Satz 2 NBauO ergibt, unterstellt der Gesetzgeber bei ihnen wegen der Möglichkeit, sie wohnartig zu nutzen, störende, gebäudeähnliche Wirkungen (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, a.a.O., § 12a Rdn. 21; siehe auch Barth/Mühler, Abstandsvorschriften der Niedersächsischen Bauordnung, 3. Aufl. 2008, § 12a Rdn. 26). Die streitige Kellergeschoss-Dachterrasse soll in unmittelbarem Anschluss an den Wintergarten errichtet werden und damit in zusätzlicher Weise die Möglichkeit bieten, in den unmittelbaren Grenzbereich hinein weitere wohnartige Nutzung zu verlegen. Das wird abstandsrechtlich durch § 7b Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 NBauO nicht privilegiert (vgl. auch OVG Lüneburg, Urt. v. 9.2.1981 - 6 A 226/79 -, BRS 38 Nr. 120 = NdsRpfl. 1981, 151, für den Fall, dass eine Loggia durch Verlängerung in den Grenzabstandsbereich hinaus verlängert werden soll).
Dabei sind die Ausdehnungen nur von indizieller Bedeutung. So hatte der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts in seiner oben mehrfach zitierten Entscheidung vom 9. Februar 1981 sogar einen nur teilweise überdachten und darum als "Balkon-Loggia" bezeichneten Raum zu wohnähnlicher Nutzung tauglich angesehen, der nur 1,80 m tief, dafür aber 10 m lang war. Dass er lediglich teilweise überdacht, d. h. gegen Witterungseinflüsse gewappnet war, hielt der 6. Senat demgegenüber für peripher; denn jedenfalls bei gutem Wetter könne er "wie ein Zimmer bewohnt werden".
Gemessen daran bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, die beiden Balkonanlagen von jeweils 3 x 2 m je Wohnung und Etage überschritten das Maß dessen, was noch als Balkon anzusehen sei. Im Beschluss vom 23. Dezember 2000 (- 1 M 4235/00 -, aaO) hatte der Senat keine Bedenken getragen, ein 3,30 x 1,80 m großes, mit 5,94 m2 nur um 6 cm2 kleineres Gebilde als Balkon anzusehen, als es hier in Rede steht.
Der geplante Aufstellungsort ist nicht rücksichtslos. Nach dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Januar 1999 (- 4 B 128.98 -, BauR 1999, 615 = NVwZ 1999, 786) indiziert die Einhaltung landesrechtlichen Abstandsrechts zwar die Erfüllung des Gebots, Rücksicht zu nehmen. Unwiderleglich ist das aber nicht. Hier bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, das Vorhaben sei der Antragstellerin gegenüber rücksichtslos. Der seitliche Abstand beträgt zwar nur 70 cm. Damit werden aber keine schutzwürdigen Belange der Antragstellerin einseitig zurückgestellt. Ein Bauherr, d. h. der Beigeladene ist nicht verpflichtet, die der Nachbarin verträglichste Lösung zu wählen. Es reicht aus, wenn die gefundene und genehmigte Lösung - noch - zumutbar ist (BVerwG, B. v. 26.6.1997 - 4 B 97.97 -, NVwZ-RR 1998, 357 = BRS 59 Nr. 176). Das ist der Fall. Die Antragstellerin machte geltend, der Abstand von nur 70 cm hindere sie an der Gartennutzung, eröffne unzumutbare, auch durch die offenbar beabsichtigten Sichtblenden nicht hinreichend zu beseitigende Einblickmöglichkeiten und führe zu Lärmkonflikten, weil dem Balkon Kinderzimmer zugekehrt seien.
Diese Belange werden nicht unangemessen zurückgestellt. Kinder sind selber laut. Sollte einer der in Rede stehenden Balkons im Rahmen einer Party genutzt werden, sind/wären die nächtlichen Belästigungen zu Lasten der Kinderzimmer nicht wesentlich leiser, wenn sie weitere 80 cm abgerückt würden. Ein weiteres Abrücken kann dem Beigeladenen nicht zugemutet werden. Denn die Balkone sollen vor den Wohnzimmern angeordnet und von diesen aus zu erreichen sein. Das wäre nicht mehr zu erreichen, wenn ihre seitlichen Wangen noch weiter nach Westen sollten abrücken müssen. Schutz vor Einblicken gewährt das Abstandsrecht nicht. Eine wesentliche Einschränkung, ihren Garten zu nutzen, erfährt die Antragstellerin durch den gewählten Aufstellungsort nicht.
Weitere Ausführungen sind zur Beschwerde nicht veranlasst.
Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).