Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.05.2014, Az.: 2 LA 308/13
Keine Pflicht zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO wegen fehlender systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 27.05.2014
- Aktenzeichen
- 2 LA 308/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 21335
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2014:0527.2LA308.13.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO
- Art. 4 EMRK
Amtlicher Leitsatz
Es ist derzeit nicht davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der dorthin überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta implizieren und eine Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II VO begründen könnten.
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 23. Juli 2013 wird abgelehnt.
Dem Kläger wird für das Berufungszulassungsverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Walliczek aus Minden beigeordnet.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
1.
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil, in dem das Verwaltungsgericht die Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/203 des Rates der Europäischen Union vom 18. Februar 2003 (Dublin II-VO) abgelehnt hat, hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Berufungszulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 Nrn. 1 und 3 AsylVfG liegen nicht vor bzw. sind nicht im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.
a)
Der Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) liegt nicht vor.
Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (vgl. GK-AsylVfG, Losebl., Stand: Januar 2014, § 78 Rdnrn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Losebl., Stand: Dezember 2013, § 78 AsylVfG Rdnrn. 15 ff. m.w.N.). Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist dabei nur dann im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahe legen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 30.1.2014 - 4 LA 167/13 -, juris Rdnr. 2, GK-AsylVfG, § 78 Rdnrn. 591 ff. m.w.N.).
Danach kommt die von dem Kläger beantragte Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht in Betracht. Für die Beantwortung der von ihm allein aufgeworfenen Frage,
ob Asylverfahren und Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta implizieren,
bedarf es keiner Durchführung eines Berufungsverfahrens (mehr). Sie lässt sich auf der Grundlage der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Beschl. v. 2.4.2013 - 27725/10 -, Rdnr. 78, ZAR 2013, 336 und juris, v. 18.6.2013 - 53852/11 -, Rdnr. 66, ZAR 2013, 338 und juris (Kurztext), v. 10.9.2013 - 2314/10 -, Rdnr. 138, veröffentlicht unter: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-127054#D.), des beschließenden Gerichts (vgl. Beschl. v. 2.5.2012 - 13 MC 22/12 -, juris Rdnr. 24, v. 2.8.2012 - 4 MC 133/12 -, juris Rdnr. 21, v. 29.1.2014 - 9 LA 20/13 -, v. 30.1.2014 - 4 LA 167/13 -, juris Rdnr. 10, v. 18.3.2014 - 13 LA 75/13 -, juris Rdnr. 15) und zahlreicher obergerichtlicher Entscheidungen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.6.2013 - 7 S 33.13 -, juris Rdnr. 13, OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 2.10.2013 - 3 L 643/12 -, juris Rdnr. 66, Beschl. v. 14.11.2013 - 4 L 44/13 -, juris, OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.2.2014 - 10 A 10656/13 -, juris Rdnr. 46, OVG NRW, Beschl. v. 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rdnr. 40, v. 28.3.2014 - 13 A 1878/13.A -, juris Rdnr. 4, v. 28.4.2014 - 11 A 522/14.A -, juris Rdnr. 7 ff.) auch nach der Rechtsauffassung des Senats ohne Weiteres im Zulassungsverfahren verneinen; ein darüber hinausgehender Klärungsbedarf in einem Berufungsverfahren besteht nicht.
b)
Die Berufung ist nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. Art. 138 Nr. 3 VwGO wegen einer Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) zuzulassen.
Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht habe wesentliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen. Es sei davon ausgegangen, dass sich aus den von ihm zitierten Stellungnahmen belastbares Zahlenmaterial darüber, dass ein nennenswerter Anteil von Asylbewerbern auf Dauer keine Unterbringungsmöglichkeit habe, nicht entnehmen lasse. Das treffe allerdings, wie die Würdigung des Gutachtens von "E." vom Dezember 20 ergebe, nicht zu. Dieses Vorbringen des Klägers zeigt keine Gehörsverletzung auf.
Das Gebot des rechtlichen Gehörs gibt einem Prozessbeteiligten das Recht, alles aus seiner Sicht Wesentliche vortragen zu können, und verpflichtet das Gericht, dieses Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Entscheidungserwägungen einzustellen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat. Das Gericht ist nicht verpflichtet, den Ausführungen eines Beteiligten in der Sache zu folgen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2006 - 2 BvR 722/06 -, DVBl 2007, 253 u. juris Rdnr. 21 ff; BVerwG, Beschl. v. 26.5.1999 - 6 B 65.98 -, NVwZ-RR 1999, 745 [VG Düsseldorf 09.06.1999 - 18 K 5731/97] u. juris Rdnr. 9). Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist dabei von vornherein nicht geeignet, eine - vermeintlich - fehlerhafte Feststellung und Bewertung des Sachverhalts einschließlich seiner rechtlichen Würdigung zu beanstanden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.8.2004 - 1 BvR 1557/01 -, NVwZ 2005, 81 u. juris Rdnr. 17; OVG NRW, Beschl. v. 6.5.2014 - 13 A 2701/13.A -, juris Rdnr. 5 m.w.N.).
Angesichts dessen ist hier kein Gehörsverstoß erkennbar. Das Verwaltungsgericht hat sich in den Entscheidungsgründen (Seite 6 des amtlichen Entscheidungsabdrucks) u.a. mit dem Gutachten von E. auseinander gesetzt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es den Inhalt dieses Gutachtens nicht zur Kenntnis genommen hat. Dass das Verwaltungsgericht die Aussagen in dem Gutachten anders bewertet hat als der Kläger, ist nach den zuvor aufgezeigten Grundsätzen mit der Gehörsrüge nicht angreifbar. Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig - so auch hier - zulassungsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzurechnen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 7.12.2005 - 1 B 19.05 -, juris Rdnr. 5, u. v. 2.11.1995 - 9 B 710.94 -, NVwZ-RR 1996, 359 u. juris Rdnr. 5 ff.).
c)
Schließlich rechtfertigt auch der Vortrag des Klägers, er sei Ende Januar 20 aus Deutschland ausgereist und nach Syrien zurückgekehrt, wo er sich bis Anfang April 20 aufgehalten habe, bevor er nach einem weiteren Aufenthalt in der Türkei am 1. August 20 auf dem Luftweg von Istanbul erneut nach Deutschland gereist sei, die Zulassung der Berufung nicht. Der Kläger macht in diesem Zusammenhang lediglich geltend, die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens sei gemäß Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen. Unabhängig davon, dass der Kläger damit die rechtlichen Konsequenzen seiner (behaupteten) Ausreise für das hier zu entscheidende Verfahren nicht ansatzweise dargelegt hat (vgl. etwa zu der Frage des Drittschutzes von Dublin II-Vorschriften VG Stuttgart, Urt. v. 28.2.2014 - A 12 K 383/14 -, juris, zur Frage, ob Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO Drittschutz entfaltet, VG Göttingen, Beschl. v. 17.2.2014 - 2 B 31/14 -, juris, VG Aachen, Beschl. v. 10.1.2014 - 1 L 674/13.A -, juris, sowie allg. zu § 16 Abs. 3 Dublin II-VO VG Berlin, Beschl. v. 27.11.2013 - 33 L 500.13A -, juris Rdnr. 7, Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Losebl., Stand: Nov. 2013, § 27a Rdnrn. 40 ff. u. Rdnr. 55, § 34a Rdnr. 39 f.), hat er sein Vorbringen weder einem Zulassungsgrund im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 AsylVfG zugeordnet, geschweige denn das Vorliegen der Voraussetzungen eines der dort genannten Zulassungsgründe im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.
2.
Dem Kläger war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil er die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt und im Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags - Mitte Dezember 20 - die Rechtsverfolgung (noch) hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO); die unter 1. a) aufgeworfene Frage konnte zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife unter Berücksichtigung der in einem Prozesskostenhilfeverfahren nur gebotenen Prüfung noch nicht als geklärt angesehen werden. Die Beiordnung von Rechtsanwalt Walliczek beruht auf § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG und § 166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 80 AsylVfG, 152 Abs. 1 VwGO).