Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.01.2014, Az.: 11 LA 229/13

Weiterleitung von entgegen den gesetzlichen Anforderungen eingereichten, fristgebundenen Begründungsschriftsätzen für das Rechtsmittelverfahren durch das Amtsgericht aufgrund nachwirkender Fürsorgepflichten

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.01.2014
Aktenzeichen
11 LA 229/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 10074
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0108.11LA229.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 05.08.2013 - AZ: 5 A 188/12

Fundstelle

  • DÖV 2014, 312

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Das Verwaltungsgericht ist aufgrund nachwirkender Fürsorgepflichten gehalten, fristgebundene Begründungsschriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die entgegen den gesetzlichen Anforderungen bei ihm eingereicht werden, im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten.

  2. 2.

    Wenn ein solcher Schriftsatz vom Rechtsmittelführer so zeitig beim Verwaltungsgericht eingereicht worden ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang zu erwarten ist, wirkt sich mit dem Übergang des Schriftsatzes in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Verwaltungsgerichts ein etwaiges Verschulden des Rechtsmittelführers an einer Fristversäumnis nicht mehr aus.

Tenor:

Der Beschluss des Senats vom 23. Oktober 2013, mit dem der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung verworfen wurde, wird aufgehoben.

Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffend die versäumte Frist für die Begründung des Zulassungsantrages gewährt.

Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 5. August 2013 zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der zulässige (dazu 1.) Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, weil der von ihr geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hinreichend dargelegt worden ist und in der Sache auch vorliegt (dazu 2.).

1. Der Zulassungsantrag der Beklagten ist zulässig. Die Beklagte hat zwar die Frist zur Begründung ihres Zulassungsantrages versäumt (dazu a), ihr ist aber antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO zu gewähren (dazu b). Der Beschluss des Senats vom 23. Oktober 2013, mit dem der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung verworfen wurde, ist deshalb aufzuheben.

a) Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist der Zulassungsantrag innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Hier ist das Urteil des Verwaltungsgerichts ausweislich des von der Beklagten erteilten Empfangsbekenntnisses dieser am 13. August 2013 zugestellt worden, sodass die Begründungsfrist am 14. Oktober 2013 (einem Montag) ablief. Innerhalb dieser Frist ist entgegen der Vorgabe in § 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO bei dem Senat ein Begründungsschriftsatz der Beklagten nicht eingegangen. Diese hat vielmehr ihren Begründungsschriftsatz vom 20. September 2013 an das Verwaltungsgericht gesandt, wo es zunächst verblieben war. Diese Einreichung beim Verwaltungsgericht wahrt die Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht.

b) Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Bei Versäumung der Frist zur Begründung des Zulassungsantrages beträgt die Frist einen Monat (§ 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO). Nach § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO ist die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachzuholen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Zwar liegt der Fristversäumnis erkennbar ein Verschulden der Beklagten zugrunde. Die zuständige Mitarbeiterin der Beklagten hat die Begründung des Zulassungsantrages trotz des zutreffenden Hinweises in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils statt an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht fälschlicherweise an das Verwaltungsgericht gesendet. Der Hinweis der Beklagten auf das zu diesem Zeitpunkt noch nicht mitgeteilte Aktenzeichen durch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht entlastet sie angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlautes zwar nicht. Dieses die Wiedereinsetzung grundsätzlich ausschließende Verschulden der Beklagten wirkt sich aber aufgrund einer überholenden Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht auf die Fristversäumnis nicht mehr aus, sodass der Beklagten trotz ihres eigenen Verschuldens gleichwohl Wiedereinsetzung zu gewähren ist. Denn der Begründungsschriftsatz der Beklagten vom 18. September 2013 war am 20. September 2013 und damit so rechtzeitig bei dem Verwaltungsgericht eingegangen, dass er im ordentlichen Geschäftsgang noch fristgerecht bis zum Ende der Antragsbegründungsfrist am 14. Oktober 2013 an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hätte weitergeleitet werden können oder die Beklagte bei einem entsprechenden Hinweis durch das Verwaltungsgericht ohne Weiteres in der Lage gewesen wäre, die Antragsbegründung erneut und fristgerecht bei dem zuständigen Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht einzureichen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.1.2006 - 1 BvR 2558/05 -, NJW 2006, 1579 f.; Beschl. v. 3.3.2003 - 1 BvR 310/03 - NVwZ 2003, 728 f.; Beschl. v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93 -, BVerfGE 93, 99, 112 und 114 f.) ist jedenfalls im Rahmen nachwirkender Fürsorgepflichten und wegen des Gebotes eines fairen Verfahrens ein Gericht, bei dem das Verfahren anhängig gewesen ist, aufgrund fortwirkender Fürsorgepflicht gehalten, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die fälschlicherweise bei ihm eingereicht werden, im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Infolgedessen wirkt sich mit dem Übergang des Schriftsatzes in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Gerichts ein Verschulden eines Verfahrensbeteiligten an einer Fristversäumnis nicht mehr aus (so auch BVerwG, Beschl. v. 15.7.2003 - BVerwG 4 B 83.02 -, NVwZ-RR 2003, 901, 902; Nds. OVG, Urt. v. 24.9.2010 - 8 LC 40/09 -, [...]; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 13.1.2000 - 13 A 3934/97.A -, NVwZ-RR 2000, 841; Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: August 2012, § 60 Rdnr. 49; Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 60 Rdnr. 77 f. jeweils m. w. N. zum Streitstand).

2. Der Zulassungsantrag ist begründet. Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind dann anzunehmen, wenn der Erfolg des Rechtsmittels (mindestens) ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 10.9.2012 - 2 LA 299/11 -; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 124, Rdnr. 7 m. w. N.). Hierbei reicht es aus, wenn ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt wird. Ob schlüssig behauptete tatsächliche Umstände auch wirklich gegeben sind, muss der Klärung im sich anschließenden Berufungsverfahren vorbehalten bleiben (BVerfG, 2. Kammer d. 1. Senats, Beschl. v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 -, NVwZ 2011, 546 = [...], Rdnr. 17 m. w. N.; Senatsbeschl. v. 7.1.2014 - 11 LA 117/13 -). Nach diesen Kriterien war die Berufung zuzulassen.

Das Verwaltungsgericht hat auf die Klage des Klägers den angefochtenen Heranziehungsbescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2012 mit der entscheidungstragenden Begründung aufgehoben, die inzident auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfende Ingewahrsamnahme des Klägers sei bei dem gebotenen strengen Maßstab unverhältnismäßig und mithin rechtswidrig gewesen. Die Beklagte habe nicht hinreichend dargelegt und bewiesen, dass in der konkreten Situation am Tag des Vorfalls am 15. September 2012 von dem Kläger unmittelbar Straftaten zu befürchten gewesen seien. Daher könne auch bei ex-ante-Betrachtung nicht davon ausgegangen werden, dass sofort oder in allernächster Zeit mit einem Schaden für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 a Nds. SOG zu rechnen gewesen sei. Dies gelte selbst im Fall der Annahme einer vorsätzlichen Sachbeschädigung des am Tag des Vorfalls stark alkoholisierten Klägers an dem Kinderwagen der Mieterin C.. Vielmehr wären mildere Maßnahmen gegen den Kläger wie ein Platzverweis oder die bloße Androhung der Ingewahrsamnahme angezeigt gewesen.

Diesen Ausführungen ist die Beklagte in der Begründung ihres Zulassungsantrages nach der in diesem Zulassungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung in plausibler Weise entgegen getreten. Sie hat darauf hingewiesen, die Entscheidung der Polizeibeamten zur Ingewahrsamnahme des Klägers sei aufgrund der Gesamtumstände am Tattag und unter Berücksichtigung des wegen eines am selben Tag vorgekommenen Vorfalls ihm gegenüber ausgesprochenen, im Ergebnis aber erfolglosen Platzverweises sowie polizeilich vorhandener Erkenntnisse über den Kläger aus der Vergangenheit, in der es mehrfach zu heftigen Streitigkeiten zwischen dem Kläger und den Mietern des von ihm als Hausmeister betreuten Wohnkomplexes gekommen sei, getroffen worden. Bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung hätten die Polizeibeamten von einer vorsätzlich begangenen Sachbeschädigung des Klägers und der konkreten Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch ihn ausgehen dürfen, zumal der Kläger stark alkoholisiert gewesen und verbal aggressiv aufgetreten sei.

Das Zulassungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen

11 LB 9/14

als Berufungsverfahren fortgeführt, das in allen Schriftsätzen anzugeben ist.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124 a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 Satz VwGO).

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).