Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.09.1997, Az.: 2 Sa 1225/97

Höhe der Entgeltzahlung im Krankheitsfall; Deklaratorische oder konstitutive Wirkung von Regelungen im Tarifvertrag

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
26.09.1997
Aktenzeichen
2 Sa 1225/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 14076
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1997:0926.2SA1225.97.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Osnabrück - 22.04.1997 - AZ: 1 Ca 84/97
nachfolgend
BAG - 26.08.1998 - AZ: 5 AZR 15/98

In dem Rechtsstreit
hat die 2. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 1997
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Berufung wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um restliche Entgeltfortzahlungsansprüche der Kläger. Die Kläger sind als Mitarbeiter in der Produktion der Beklagten beschäftigt.

2

Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Best Betonsteingewerbe) Norddeutschland vom 14.09.1993 (RTV) Anwendung.

3

Der § 6 Abs. 3 RTV hat folgenden Wortlaut:

"Arbeitsausfall infolge Krankheit

Es gelten die Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfall".

4

Die Beklagte leistete den Klägern für Krankheitszeiten im November 1996 lediglich Entgeltfortzahlung i. H. v. 80 % des dem jeweiligen Kläger zustehenden regelmäßigen Arbeitsentgelts.

5

Die Kläger haben die Auffassung vertreten, durch die Formulierung in § 6 Abs. 3 RTV sei die im Zeitpunkt des Tarifabschlusses (14.09.1993). geltende gesetzliche Regelung in Bezug genommen worden und nicht die jeweils geltende gesetzliche Regelung. Die durch das Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung (1996) eingefügte Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle könne daher nicht zur Anwendung kommen.

6

Die Kläger haben beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1) 124,11 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 2) 767,87 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 3) 218,04 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 18.12.1996 zu zahlen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, es handele sich bei der Regelung des § 6 Abs. 3 RTV um eine deklaratorische Regelung, die zur unmittelbaren Anwendung der jeweils gültigen gesetzlichen Bestimmungen über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle führe.

9

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 22.04.1997 verwiesen (Bl. 17 folgende d. A.).

10

Das Arbeitsgericht Osnabrück hat durch dieses Urteil die Klagen kostenpflichtig bei einem Streitwert von 1.100,00 DM abgewiesen.

11

Wegen der Urteilsbegründung im einzelnen wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen.

12

Die Kläger habe gegen das am 29.05.1997 zugestellte Urteil am Montag, den 30.06.1997 Berufung eingelegt, die sie am 29.07.1997 begründet haben.

13

Die Kläger vertreten die Auffassung, entgegen der Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts sei die textliche oder inhaltliche Übernahme gesetzlicher Regelungen in Tarifvertragsnormen ein Hinweis auf den von den Tarifvertragsparteien gewollten konstitutiven Charakter einer Regelung.

14

Die Regelung sei im übrigen als statische Regelung zu verstehen, die die Lohnfortzahlung wie im Zeiptunkt des Tarifabschlusses (14.09.1993) festschreibt. Dafür speche auch, daß bei Abschluß des Tarifvertrages (14.09.1993) nicht erkennbar gewesen sei, daß sich die gesetzliche Regelung der Lohnfortzahlung in der Weise ändern würde, daß statt der bisherigen 100 %igen Lohnfortzahlung in Zukunft nur noch eine 80 %ige Zahlung der Vergütung zugrunde gelegt werden würde.

15

Der mutmaßliche Wille der tarifvertragsschließenden Partei sei vor diesem Hintergrund dahingegangen, die 100 %ige Entgeltfortzahlung festzuschreiben. Eine "Jeweiligkeitsklausel", mit der eine Dynamik hätte zum Ausdruck gebracht werden können, fehle.

16

Die Kläger beantragen,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 22.04.1997 - Az.:1 Ca 84/97 - die Beklagte zu verurteilen,

  1. 1.

    an den Kläger zu 1) DM 124,11 brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  2. 2.

    an den Kläger zu 2) DM 767,87 brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  3. 3.

    an den Kläger zu 3) DM 218,04 brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 18.12.1996 zu zahlen.

17

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

18

Die Beklagte trägt vor, bei Abschluß sei der Wortlaut der damals gültigen gesetzlichen Regelung nicht in den RTV aufgenommen worden. Dies speche gegen eine selbständige d. h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung. Es liege eine deklaratorische Verweisung vor, die als neutrale Norm über die Rechtslage informiere und lediglich der Klarstellung des bei Abschluß des Tarifvertrages geltenden Rechtszustandes dienen solle.

19

Wegen des weiteren Berufungsvorgehens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze vom 28.07.1997 (Bl. 30 d. A.) und 26.08.1997 (Bl. 51 d. A.) verwiesen.

Gründe

20

Die Berufung der Kläger ist statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig (§ 518, 519 ZPO, 64, 66 ArbGG).

21

Die Berufung ist unbegründet, das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit zutreffend entschieden. Den Klägern steht kein Anspruch auf restliche Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle i. H. v. weiteren 20 % gestützt auf § 6 Abs. 3 RTV in Verbindung§ 2 Lohnfortzahlungsgesetz (1969) zu.

22

Das Bundesarbeitsgericht geht mit ständiger Rechtssprechung (vergleiche BAG, Urteil vom 14.02.1996, 2 AZR 166/95, in EZA Nr. 54 zu § 622 n. F. mit zahlreichen weiteren Nachweisen) davon aus, daß bei Tarifverträgen jeweils durch Auslegung zu ermitteln ist, inwieweit die Vertragsparteien eine selbständige, d. h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung treffen wollen. Dieser Wille müsse im Tarifvertrag einen hinreichenden erkennbaren Ausdruck gefunden haben. Das sei regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spreche hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden (so BAG a.a.O.).

23

Die Bestimmung des § 6 Abs. 3 RTV, die bei Abschluß des Tarifvertrages am 14.09.1993 in das Tarifwerk aufgenommen wurde lautet, "es gelten die Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall". Die Tarifvertragsparteien haben damit seinerzeit keine eigenständige Regelung getroffen, sondern die konkrete Bezeichnung des damals geltenden Lohnfortzahlungsgesetzes gewählt. Dies spricht mangels anderer Anhaltspunkte mit dem Bundesarbeitsgericht dafür, daß lediglich ein deklaratorischer Charakter der Übernahme der gesetzlichen Bestimmung des Lohnfortzahlungsgesetztes vorliegt.

24

Die Tarifvertragsparteien machen durch diese Formulierung deutlich, daß sie für die Frage der Lohn/Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall keine eigenständige Regelung treffen, sondern sich der gesetzlichen Regelung unterwerfen. Diese Annahme ist insbesondere deshalb geboten, weil seit der Rechtssprechung des Bundesarbeitsgericht vom 28.01.1988 (BAG Urteil vom 28.01.1988, 2 AZR 296/87, in AP Nr. 24 zu§ 622 BGB) das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtssprechung davon ausgeht, daß der Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien deutlich zum Ausdruck kommen müsse, wenn sie in einem Tarifvertrag eine gesetzliche Regelung als eigene Regelung übernehmen wollen (vergleiche BAG a.a.O.; BAG Urteil vom 05.10.1995, 2 AZR 353/95, in NZA 1996, 325 (327)). Das Bundesarbeitsgericht hat insoweit ausgeführt, daß bereits die schlichte Einführung "unabhängig von der gesetzlichen Regelung" oder "auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung" ebenso wie eine Anmerkung in einer Protokollnotiz den Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien dokumentiere.

25

Daran fehlt es vorliegend. Die Tarifvertragsparteien haben auf das 1993 geltende Lohnfortzahlungsgesetz verwiesen. Eine weitergehende Erklärung haben sie erkennbar nicht abgegeben. Dies läßt nur den Schluß zu, daß sie einen Normsetzungswillen im Sinne einer konstitutiven Regelung nicht besessen haben und eine solche deshalb nicht haben schaffen wollen, denn - so das Bundesarbeitsgericht - "die Kenntnis der höchstrichterlichen Rechtssprechung kann von den Tarifvertragsparteien erwartet werden".

26

Diese Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts ist spätestens seit der Entscheidung vom 28.01.1988 (BAG a.a.O.) gefestigt und bekannt.

27

Die Bestimmung des § 6 Abs. 3 RTV kann daher nur als allgemeiner Hinweis auf die gesetzliche Regelung der Lohn/Entgeltfortzahlung verstanden werden. Es ist auch unerheblich, daß sich die Gesetzesbezeichnung 1994 änderte und das Lohnfortzahlungsgesetz mit dem Feiertagslohnzahlungsgesetz redaktionell verbunden wurde und im Entgeltfortzahlungsgesetz zusammengesetzt wurde. Die Bestimmung des§ 6 Abs. 3 RTV weist ab 1994 für den "Arbeitsausfall infolge Krankheit" weiterhin auf das einschlägige Gesetz, nunmehr das Entgeltfortzahlungsgesetz hin, da die Tarifverweisung als eine deklaratorische und dynamische Verweisung in die einschlägige gesetzliche Regelung der Lohn/Entgeltfortzahlung zu verstehen ist.

28

Die Dynamik der Verweisung auf die gesetzliche Bestimmung der Lohn/Entgeltfortzahlung folgt daraus, daß die Tarif Vertragsparteien es unterlassen haben, eine bestimmte Rechtslage dadurch festzuschreiben, daß sie das Gesetz auf das verwiesen wird, datumsmäßig festgehalten haben. Die Tarifvertragsparteien müssen bei dem Hinweis auf ein Gesetz stets damit rechnen, daß dieses Gesetz im Laufe der Jahre durch Maßnahmen des Gesetzgebers Veränderungen unterworfen ist. Wollen sie, obwohl sie in ihrem Tarifvertrag auf ein Gesetz Bezug nehmen, diese Veränderungen nicht gegen sich gelten lassen, so bedarf es einer ausdrücklichen Regelung.

29

Dies gilt im vorliegenden Fall bereits deshalb, weil am 24.06.1993 der Entwurf des ab 1994 geltenden Entgeltfortzahlungsgesetzes eingebracht worden war. Die erste Lesung fand am 01.07.1993 statt (vergleiche Darstellung bei Geyer/Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Einführung zum Entgeltfortzahlungsgesetz Seite E 312). Die Tarifvertragsparteien mußten also damit rechnen, daß sich möglicherweise Änderungen des Gesetzes gegenüber bestehenden Regelung im Entgeltfortzahlungsgesetz ergeben würden, wenn such nicht im Bereich der Höhe der Entgeltfortzahlung. Wenn die Tarifvertragsparteien sodann ohne datumsmäßige Fixierung auf die gesetzliche Regelung zur Lohnfortzahlung verweisen, so kann dieser Verweis nicht als statische Verweisung verstanden werden.

30

Nach alldem war wie erfolgt zu entscheiden.

31

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

32

Die Zulassung der Revision beruht auf § 77 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG.