Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 05.12.1997, Az.: 16 Sa 725/97
Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; Eigenständige Regelung im Arbeitsvertrag gegenüber der gesetzlichen Regelung
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 05.12.1997
- Aktenzeichen
- 16 Sa 725/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 14948
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1997:1205.16SA725.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hannover 20.02.1997 - 4 Ca 14/97
- nachfolgend
- BAG - 25.11.1998 - AZ: 5 AZR 257/98
Rechtsgrundlagen
- § 9 Abs. 1 der AVR
- § 10 Abs. 1 AVR
In dem Rechtsstreit
hat die 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 05.12.97
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ... und
die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 20.02.1997, AZ: 4 Ca 14/97, wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt mit der Klage den Differenzbetrag zwischen geleisteter Lohnfortzahlung für einen Zeitraum der Krankheit und dem seiner Meinung nach zustehenden Entgeltanspruch in Höhe von 100%.
Der am 23.07.1949 geborene Kläger ist seit 1987/1988 als Altenpfleger bei der Beklagten zu einer Bruttovergütung von zuletzt 4.900,00 DM beschäftigt. Die Beklagte ist dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) angeschlossen. Grundlage der arbeitsvertraglichen Beziehungen ist der Arbeitsvertrag vom 03.06.1987, in dem die Parteien u. a. vereinbart haben, daß für das Dienstverhältnis die vom DPWV herausgegebenen Richtlinien für Arbeitsverträge (AVR) in der jeweils gültigen Fassung Anwendung finden, soweit nichts anderes im Vertrag vereinbart ist. Wegen des Inhalts im übrigen wird auf diesen (Bl. 33/35 d.A.) verwiesen.
Der Kläger war vom 24.10. - 13.11.1996 krank. Er erhielt für den Monat Oktober mit der Novemberabrechnung einen Abzug von Lohn in Höhe von 219,10 DM sowie im Dezember 1996 für die Krankheitszeit im November eine weitere Kürzung in Höhe von 401,83 DM. Erstinstanzlich hat der Kläger lediglich den Betrag von 219,10 DM brutto verlangt, zweitinstanzlich hat der Kläger seine Klage erweitert, auch bezüglich der Kürzung mit der Dezemberabrechnung 1996.
Der Kläger hat seine Ansprüche mit Schreiben vom 20.11.1996 gegenüber der Beklagten geltend gemacht. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte schulde ihm gemäß den Arbeitsvertragsrichtlinien eine 100%ige Vergütung auch während der Zeit der Erkrankung. Darüber hinaus hat der Kläger behauptet, bei der Gemeinschaft Deutscher Altenhilfe GmbH (GDA) sei ein Haustarifvertrag abgeschlossen, der für das Arbeitsverhältnis des Klägers ebenfalls Anwendung finde und eine 100%ige Entgeltfortzahlung vorsehe.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 219,10 DM brutto nebst 4% Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 10.01.1997 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, aufgrund der Neuregelung des Entgeltfortzahlungsgesetzes sei für die ersten 6 Wochen der Erkrankung lediglich 80% der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu gewähren.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt, den Streitwert auf 219,10 DM festgesetzt und die Berufung zugelassen. Wegen der Entscheidungsgründe des Urteils wird auf diese (Bl. 43-45 d.A.) verwiesen.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover wurde dem Kläger am 20.03.1997 zugestellt. Hiergegen legte er am Montag, dem 21.04.1997 Berufung ein und begründete diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 30.06.1997 am 23.06.1997.
Der Kläger vertritt die Auffassung, daß die Kürzung der Entgelt fort Zahlung gegen den Arbeitsvertrag in Verbindung mit § 9 Abs. 1 der AVR verstoße, die durch die Neuregelung des Entgeltfortzahlungsgesetzes nicht verdrängt worden sei. Diese Vertragsklausel sei konstitutiv, weil diese vorsehe, daß Arbeitnehmer, die aufgrund gesetzlicher Bestimmungen Anspruch auf Weitergewährung ihrer Vergütung bis zu 6 Wochen gegenüber ihrem Dienstgeber haben, je nach Beschäftigungsdauer über die ersten 6 Wochen hinaus Anspruch auf 100%ige Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von maximal 26 Wochen behalten. Insoweit sei die Beklagte verpflichtet, ab der 7. Woche einen entsprechenden Zuschuß zum Krankengeld zu zahlen. Ansonsten würde die widersprüchliche Regelung in den AVR vorhanden sein, daß in den ersten 6 Wochen nur 80% des Entgeltes gezahlt werden müßten, ab der 7. Woche jedoch 100%. Hieraus sei der Schluß zu ziehen, daß die 100%ige Entgeltfortzahlung auch in den ersten 6 Wochen gelten müsse. Dieses sei die einzig denkbare Auslegung der AVR.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 620,93 DM nebst 4% Zinsen auf den Nettobetrag seit dem 25.11.1996 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 05.08.1997. Hierauf wird verwiesen (Bl. 71-74 d.A.).
Gründe
Die Berufung in dieser vermögensrechtlichen Streitigkeit ist statthaft, weil das Arbeitsgericht die Berufung zugelassen hat. Die Berufung ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig.
Zutreffend hat das Arbeitsgericht angenommen, daß dem Kläger eine 100%ige Entgeltfortzahlung innerhalb der ersten 6 Wochen einer Krankheit nicht zusteht. Der Arbeitsvertrag hat keine eigenständige Regelung über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle. Die in Bezug genommenen AVR regeln in ihrem § 9 unter der Überschrift "Fürsorge bei Krankheit" folgendes:
(1)
Mitarbeiter, die wegen Krankheit oder Unfall aufgrund gesetzlicher Bestimmungen Anspruch auf Weitergewährung ihrer Vergütung bis zu sechs Wochen gegenüber ihrem Dienstgeber haben, erhalten nach längerer Dienstzugehörigkeit beim DPWV oder einer ihm angeschlossenen Mitgliedsorganisation über die Dauer von sechs Wochen hinaus einen Zuschuß zum Krankengeld bzw. Krankentagegeld. Und zwar wird dieser Zuschuß gezahlt nach einer Dienstzugehörigkeit beim DPWV oder einer ihm angeschlossenen Mitgliedsorganisation
von mindestens 2 Jahren bis zum Ende der 09. Woche,
von mindestens 3 Jahren bis zum Ende der 12. Woche,
von mindestens 5 Jahren bis zum Ende der 15. Woche,
von mindestens 8 Jahren bis zum Ende der 18. Woche,
von mindestens 10 Jahren bis zum Ende der 26. Woche,
für nach dem 30.06.1994 eingestellte Mitarbeiterinnen nach einer Beschäftigungszeit bei demselben Arbeitgeber in einem Arbeitsverhältnis von mehr als einem Jahr, längstens bis zum Ende der 13. Woche, von mehr als drei Jahren, längstens bis zum Ende der 26. Woche
seit dem Beginn der Dienstunfähigkeit. (1)
(2)
Die Höhe des Zuschusses ergibt sich aus dem Differenzbetrag zwischen dem von der Krankenkasse gezahlten Nettokrankengeld und 100% der Nettourlaubsvergütung nach § 10 Abs. 1 AVR.
Der/die nicht krankenversicherungspflichtige Mitarbeiterin erhält einen Zuschuß, bei dem der Krankengeldhöchstsatz für Versicherungspflichtige der gesetzlichen Krankenversicherung zugrunde gelegt wird. (Er/sie muß sich so behandeln lassen, als ob er/sie Krankentagegeld in dieser Höhe erhielte).
Sollte das tatsächlich gezahlte Krankengeld niedriger sein als der Krankengeldhöchstsatz für Versicherungspflichtige, so wird dieser Höchstsatz zugrunde gelegt.
Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung gehen zu Lasten des/der Mitarbeiterin. (2)
§ 10 der AVR regelt in seinem Absatz 1 Satz 3 folgendes:
Während des Erholungsurlaubs werden die Bezüge in voller Höhe weitergewährt.
§ 9 AVR regelt deshalb vom Wortlaut her nicht den Zeitpunkt der Entgeltfortzahlung innerhalb der ersten 6 Wochen, vielmehr lediglich die Zahlung eines Zuschusses zum Krankengeld bzw. Krankentagegeld in der Weise, daß jeweils 100% der Nettourlaubsvergütung nach§ 10 Abs. 1 AVR erreicht werden.
Entgegen der Auffassung des Klägers kann § 9 der AVR auch nicht so ausgelegt werden, daß auch in den ersten 6 Wochen eine 100%ige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle zu erfolgen hat. § 9 Abs. 1 Satz 1 der AVR nimmt zunächst Bezug auf die Mitarbeiter, die wegen Krankheit aufgrund gesetzlicher Bestimmungen Anspruch auf Weitergewährung ihrer Vergütung bis zu 6 Wochen haben. Der Verweis auf die gesetzlichen Bestimmungen regelt insoweit aber nur die Anspruchsvoraussetzungen, unter denen ein Mitarbeiter Entgeltfortzahlung erhalten soll, sagt jedoch nichts über die Höhe selbst aus.
Gleichwohl kann ein Rückschluß aus der Tatsache, daß ein Zuschuß zum Krankengeld nach Ablauf von 6 Wochen gezahlt wird, der letztlich eine 100%ige Vergütung für den Arbeitnehmer sichert, nicht dazu führen, daß vorliegend auch ein Anspruch in dieser Höhe für die ersten 6 Wochen einer Krankheit gegeben ist. Das Bundesarbeitsgericht hat zu den Fällen, ob eine im Tarifvertrag geregelte Kündigungsfrist konstitutiv nur deklaratorischen Charakter hat, ausgeführt, daß eine eigenständige tarifliche Regelung regelmäßig anzunehmen ist, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spreche hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall sei bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen sei, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie hätten dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die an den Tarifvertrag gebundenen Arbeitsvertragsparteien möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten (so BAG, Urteil vom 05.10.1995 in BB 96, 220 [BAG 05.10.1995 - 2 AZR 1028/94]).
Voraussetzung für eine Anspruchsgrundlage im Tarifvertrag ist demzufolge, daß nicht lediglich ein Verweis auf die gesetzlichen Vorschriften erfolgt oder eine Übernahme des Gesetzestextes, sondern daß darüber hinaus eine inhaltlich eigenständige Regelung getroffen wird, die nach dem Willen der Tarifvertragsparteien eigenständig zu einer Anspruchsgrundlage führen soll.
Die Kammer überträgt zugunsten des Arbeitnehmers die Grundsätze auch auf die Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, ohne die Rechtsqualität weiter zu untersuchen. Festzustellen ist insoweit, daß § 9 der AVR jedochüberhaupt keine Aussage über die Höhe der Entgeltfortzahlung in den ersten 6 Wochen beinhaltet. Zu erkennen ist aus dieser Vorschrift lediglich, daß der Normgeber bei Erlaß der AVR davon ausgegangen ist, daß eine 100%ige Entgeltfortzahlung erfolgt. Nur dann ist es verständlich, daß ein Arbeitnehmer bzw. eine Arbeitnehmerin auch nach Ablauf von 6 Wochen einen Zuschuß zum Krankengeld erhält, um die Nettovergütung zu sichern. Ist aber der Normgeber ohne weiteres davon ausgegangen und hat der Arbeitnehmer diese AVR in seinem Arbeitsvertrag akzeptiert, so kann das Gericht lediglich feststellen, daß von der gesetzlichen Regelung ausgegangen wurde und diese anschließend aufgrund der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ausgeweitet wurde. Dieses ergibt sich auch bereits aus der Überschrift des § 9, weil hier ausdrücklich von der Fürsorge bei Krankheit ausgegangen wird. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, daß der Normgeber der AVR jedenfalls inhaltlich die 100%ige Entgeltfortzahlung sichern wollte, vielmehr lediglich, daß er von der gesetzlichen Grundlage, daß dieses erfolgt, ausgegangen ist. Bei Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes, wie vorliegend geschehen, hat der Normgeber deshalb zu prüfen, ob er an der Zuschußzahlung bis zu 100% der Nettourlaubsvergütung festhalten will oder diese an die zu leistende Entgeltfortzahlung anpassen will oder ob er letztlich die Entgeltfortzahlung für die ersten 6 Wochen dergestalt ausweitet, daß bei Krankheit regelmäßig 100% der Nettourlaubsvergütung erreicht werden. Die Regelung des § 9 hatte von vornherein nicht die Absicht, die Gesetzesregelung während der ersten 6 Wochen der Entgeltfortzahlung zu optimieren und eigenständig eine Sicherung vorzusehen, daß es bei der Höhe der Entgeltfortzahlung bleibt, vielmehr wollte sie lediglich bei längerer Betriebstreue die Arbeitnehmer belohnen, die längerfristig erkranken und sie so stellen, wie sie gestanden hätten, als wenn sie ansonsten Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber erhalten hätten.
Es ist deshalb nicht Sache des Gerichtes, sondern des Normgebers der AVR, die Regelung neu vorzunehmen, damit nicht die in sich nicht sinnvolle Regelung besteht, daß Arbeitnehmer, die längerfristig erkranken, mehr erhalten, als diejenigen, die nur kurzfristig erkranken.
Insoweit ist auch zuzugeben, daß es nicht ein unbedingt widersinniges und nicht zu rechtfertigendes Ergebnis ist, wenn ein Arbeitnehmer ab der 7. Woche ein höheres Entgelt erhält als in den ersten 6 Wochen der Arbeitsunfähigkeit. Gerade der Arbeitnehmer, der längere Zeit betriebstreu war und schicksalhaft länger erkrankt, kann auch sinnvollerweise besser gestellt werden bei längerer Erkrankung, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, weil eine längerfristige Absenkung zu einem größeren Eingriff in die Vermögensverhältnisse des Arbeitnehmers führt.
Damit ist festzustellen, daß der Normgeber der AVR die Vorschrift des § 9 nicht als eigenständige, auch gegenüber künftigen gesetzlichen Änderungen bezüglich der Höhe der Entgeltfortzahlung bestandskräftige Regelung treffen wollte. Ein Anspruch des Klägers auf eine 100%ige Entgeltfortzahlung für den streitbefangenen Zeitraum ist deshalb nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 97 ZPO i.V.m. § 64 Abs. 6 ArbGG.
Die Zulassung der Revision erfolgt gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
(1) Red. Anm.: