Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.12.1997, Az.: 5 Sa 1424/97
Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; Deklaratorische oder konstitutive Regelung im Tarifvertrag
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 01.12.1997
- Aktenzeichen
- 5 Sa 1424/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 14946
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1997:1201.5SA1424.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Stade - 17.06.1997 - AZ: 1 Ca 204/97
- nachfolgend
- BAG - 21.10.1998 - AZ: 5 AZR 155/98
Rechtsgrundlagen
- § 10 MTV Sanitär-, Heizungs-, Klima- und Klempnertechnik
- § 4 Abs. 1 S. 1 EFZG
Fundstellen
- FA 1998, 265-266
- FAr 1998, 265-266
Verfahrensgegenstand
Forderung
In dem Rechtsstreit
hat die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Landesarbeitsgericht ... der ehrenamtlichen
Richterin ... und
des ehrenamtlichen Richters
der mündlichen Verhandlung vom 01. Dezember 1997
fürRecht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung wird das Teil-Urteil des Arbeitsgerichts Stade vom 17. Juni 1997 - 1 Ca 204/97 - geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 170,66 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den Nettobetrag seit dem 10. März 1997 zu zahlen.
Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz darüber, ob die Beklagte dem Kläger für einen Arbeitsunfähigkeitszeitraum von fünf Tagen im Februar 1997 nicht nur einen Betrag von 682,56 DM brutto, sondern einen weiteren Betrag von 170,66 DM brutto schuldet. Bei diesem Betrag handelt es sich um die Differenz zwischen 100 und 80 v.H. des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts.
Der Kläger meint, ihm stehe nach dem auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft beiderseitiger Tarifbindung anwendbaren Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer, Angestellten und Auszubildenden der Sanitär-, Heizungs-, Klima- und Klempnertechnik Niedersachsen vom 03.09.1993 (MTV) Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % zu, während die Beklagte die Auffassung vertritt, die Höhe der Entgeltfortzahlung betrage gemäß § 4 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz nur 80 %.
Der MTV enthält u. a. folgende Bestimmungen:
§ 10 Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfall
1. Für gewerbliche Arbeitnehmer, die einen Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 1 und/oder § 7 des Lohnfortzahlungsgesetzes haben, berechnet sich die Lohnfortzahlung gemäß § 2 Ziff. 3 des Lohnfortzahlungsgesetzes wie folgt:
- a)
Die Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgeltes richtet sich für Zeitlohnarbeiter nach § 6 Ziff. 1 a).
- b)
Bei regelmäßiger Arbeitszeit ist für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit die Stundenzahl zugrunde zu legen, die der Arbeitnehmer bei Arbeitsfähigkeit hätte arbeiten müssen.
Im Falle der Arbeitszeitmodelle 1 c) und 1 d) sind
- ab 01. Januar 1994 7,3 Stunden
- ab 01. Januar 1998 7,3 Stunden
- ab 01. Juli 1998 7,2 Stunden
täglich zu vergüten.
§ 6 Berechnungsgrundlage für Durchschnittsverdienste
- 1.
In Fällen, in denen der Durchschnittsverdienst als Berechnungsgrundlage für die geleistete Arbeit berechnet werden muß, wird der Stundenverdienst wie folgt definiert:
- a)
Effektiver Stundenverdienst ist der regelmäßige tatsächliche Arbeitsverdienst.
Zur Darstellung der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug sowie der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung, die dieses Vorbringen dort erfahren hat, wird auf das Teil-Urteil des Arbeitsgerichts Stade vom 17. Juni 1997 (Bl. 39 bis 44 d.A.) Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage in Höhe von 170,66 DM abgewiesen, die Kostenentscheidung dem Schlußurteil vorbehalten, den Streitwert auf 170,66 DM festgesetzt und die Berufung zugelassen.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dem Kläger stehe kein Anspruch auf die begehrte Zahlung in Höhe von 170,66 DM brutto zu.
Nach der gesetzlichen Regelung des § 4 Abs. 1 EntgeltFG bestehe ein Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe von 80 %. Diesen Anspruch habe die Beklagte erfüllt. Weitergehende gesetzliche Regelungen über die Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % existierten nicht.
Auch aus der Regelung in § 10 MTV könne der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung von 170,66 DM herleiten. Auch diese Regelung gewähre keinen über 80 % hinausgehenden Entgeltfortzahlungsanspruch. Der Prozentsatz der tariflichen Entgeltfortzahlung sei in § 10 MTV nicht ausdrücklich geregelt. Eine 100%ige Entgeltfortzahlung ergebe sich auch nicht durch den Verweis auf die Regelung der §§ 1 und 7 LohnFG in § 10 MTV. Hierbei handele es sich um eine rein deklaratorische Bezugnahme auf die zum Zeitpunkt des Abschlusses des MTV geltenden Gesetzeslage.
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG sei durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit die Tarifvertragsparteien eine selbständige, d. h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung hätten treffen wollen. Dieser Wille müsse im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden haben (BAG NZA 1996 S. 539 f. [BAG 05.10.1995 - 2 AZR 1028/94]) Dies werde vom BAG selbst dann verneint, wenn eine gesetzliche Regelung inhaltlich in den Tarifvertragübernommen werde. Vielmehr verlange das BAG zumindest seit Festigung seiner Rechtsprechung mit der Entscheidung vom 28.01.1988 (AP Nr. 24 zu § 622 BGB), daß die Tarifvertragsparteien bei einer beabsichtigten normativen Regelung einen entsprechenden Hinweis auf die Eigenständigkeit der Regelung vornähmen, was in der hier streitgegenständlichen Regelung des § 10 MTV nicht der Fall sei.
Auch die Normierung einer eigenständigen Berechnungsgrundlage in § 6 MTV, auf den für die Zeitlohnarbeiter in § 10 Ziff. 1 a MTV verwiesen werde, könne zu keiner abweichenden Beurteilung führen. Bei dieser Regelung handele es sich lediglich um die Ausnutzung der den Tarifvertragsparteien in § 2 Abs. 3 LohnFG und nunmehr in § 4 Abs. 4 EntgeltFG eingeräumten Befugnis, eine von den gesetzlichen Bemessungsgrundlagen abweichende tarifliche Bemessungsgrundlage zu normieren. Die Bemessungsgrundlage wirke sich jedoch nicht auf die prozentuale Höhe der Entgeltfortzahlung aus, sondern diene allein der Ermittlung eines von den gesetzlichen Bestimmungen abweichenden Ausgangswertes für die Entgeltfortzahlung.
Gegen dieses Urteil, das ihm am 30. Juni 1997 zugestellt worden ist, hat der Kläger mit einem am 30. Juli 1997 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz seiner Prozeßbevollmächtigten Berufung eingelegt, die er, nachdem die Berufungsbegründungsfrist bis zum 06. Oktober 1997 verlängert worden war, mit einem am 06. Oktober 1997 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz seiner Prozeßbevollmächtigten begründet hat.
Der Kläger weist darauf hin, daß die vom Arbeitsgericht wiedergegebene und als zutreffend übernommene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in der Literatur vielfältige Kritik erfahren habe. Im übrigen sei die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Frage der Wirksamkeit von Bestimmungen über gesetzliche oder tarifliche Kündigungsfristen nicht ohne weiteres auf den Problemkreis der Höhe der Entgeltfortzahlung zu übertragen.
Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts handele es sich bei der Regelung der Lohnfortzahlung in § 10 MTV um eine eigenständige, vom Gesetz unabhängige Regelung. So hätten die Tarifvertragsparteien in § 10 Ziff. 1 Satz 1 MTV ausdrücklich bestimmt, daß sich die Berechnung der Lohnfortzahlung gemäß § 2 Ziff. 3 (gemeint sei Abs. 3) LohnFG nach§ 10 Ziff. 1 a - f MTV richte. Wenn nun aber § 2 Abs. 3 LohnFG gerade abweichende Regelungen vom Gesetz in einem Tarifvertrag zulasse, sei wohl kaum deutlicher als durch die vorgenannte Formulierung zum Ausdruck zu bringen, daß die Tarifvertragsparteien von dieser Möglichkeit hätten Gebrauch machen wollen. Sie hätten nämlich in den Buchst. a-f des § 10 Ziff. 1 MTV detailliert geregelt, wie die Berechnung der Lohnfortzahlung bei Krankheit erfolgen solle.
Eine solche Berechnung schließe notwendigerweise mit einem bestimmten Ergebnis ab. Die Berechnung nach § 10 Ziff. 1 a-f MTV führe konkret zur zu beanspruchenden Lohnhöhe eines Arbeitnehmers bei Krankheit. Auch das neue EntgeltFG verwende in § 4 Abs. 1 Satz 2 diese Methode. Dabei sei unstreitig, daß nach§ 4 Abs. 1 Satz 2 EntgeltFG der Arbeitnehmer Lohnfortzahlung in Höhe von 100 % der üblichen Vergütung zu beanspruchen habe, obwohl auch dies nicht ausdrücklich im Gesetzestext formuliert sei.
Das Arbeitsgericht baue seine unzutreffende Argumentation lediglich auf § 10 Ziff. 1 a MTV auf und lasse den Gesamt Zusammenhang der Norm, insbesondere § 10 Ziff. 1 b MTV unberücksichtigt. Dort heiße es nämlich, daß bei regelmäßiger Arbeitszeit für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit die Stundenzahl zugrunde zu legen sei, die der Arbeitnehmer bei Arbeitsfähigkeit hätte arbeiten müssen. Auch diese Formulierung entspreche der gesetzlichen Regelung in § 4 Abs. 1 Satz 2 EntgeltFG.
Multipliziere man die geleisteten Arbeitsstunden mit dem nach § 10 Ziff. 1 b MTV i.V.m. § 6 Ziff. 1 a MTV zu ermittelnden Stundenlohn, so erhalte man die gesamte Vergütungshöhe. So heiße es auch in § 10 Ziff. 1 b MTV, daß bei den Arbeitszeitmodellen 1 c und 1 d 7,3 Stunden täglich zu vergüten seien.
Sei ein Arbeitnehmer im Rahmen einer flexibleren Arbeitszeitregelung eingesetzt und erkrankt, so würden ihm bei einer Fünftagewoche nicht täglich 8, sondern lediglich 7,3 (im Original des Tarifvertrages heiße es 7,4) Stunden vergütet. Die Tarifvertragsparteien hätten somit zweifellos konstitutiv die Höhe der zu zahlenden Lohnfortzahlung tarifvertraglich bestimmt, und zwar in der Weise, daß die Berechnung der Lohnfortzahlung nach § 10 Ziff. 1 a-f MTV zu erfolgen habe. Die Tarifvertragsparteien hätten somit ihren eigenen Normierungswillen deutlich zum Ausdruck gebracht. Somit handele es sich in § 10 MTV um eine konstitutive und nicht um eine deklaratorische Bestimmung.
Zur Darstellung aller weiteren Einzelheiten seines Vorbringens wird auf die Berufungsbegründung des Klägers vom 06. Oktober 1997 nebst Anlagen (Bl. 57 bis 86 d.A.) Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
das Teil-Urteil des Arbeitsgerichts Stade vom 17. Juni 1997 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 170,66 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag seit Zustellung des Schriftsatzes vom 24. März 1997 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil als der Rechtslage entsprechend. Zur Darstellung der Einzelheiten ihres Vorbringens wird auf die Berufungserwiderung vom 03. November 1997 nebst Anlagen (Bl. 96 bis 118 d.A.) Bezug genommen.
Gründe
Die kraft Zulassung durch das Arbeitsgericht statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist damit zulässig.
Die Berufung ist auch begründet. Das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit der Parteien unzutreffend entschieden. Der Kläger hat für die Zeit seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 %. Das ergibt sich aus§ 10 MTV vom 03. September 1993, von dessen inhaltlicher Fortgeltung die Tarifvertragsparteien auch nach Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes vom 26. Mai 1994 ausgegangen sind. Obwohl in § 10 Ziff. 1 MTV von einem Anspruch auf Lohnfortzahlung nach§ 1 und/oder § 7 des Lohnfortzahlungsgesetzes die Rede ist, haben sie jedenfalls bis zur Tarifrunde 1997 keine Veranlassung gesehen, diese Bestimmung nach Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes und Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes den neuen Gegebenheiten anzupassen. Sie haben weder auf das Entgeltfortzahlungsgesetz als die neue Rechtsgrundlage noch auf die einschlägigen Bestimmungen (§§ 3 und 9) hinzuweisen für nötig befunden.
Daraus kann nur der Schluß gezogen werden, daß sie den Grundsatz der 100%igen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für selbstverständlich gehalten haben, so daß es für sie gleichgültig war, ob sich dieser Grundsatz nun aus den Bestimmungen des Lohnfortzahlungsgesetzes oder aus denen des Entgeltfortzahlungsgesetzes ergab. Der Hinweis in § 10 Ziff. 1 MTV ist daher als ein Hinweis auf die Geschäftsgrundlage des Tarifvertrages zu verstehen, von der u. a. in dieser Vorschrift ausgegangen wird. Dieses Verständnis des Tarifvertrages ist um so mehr gerechtfertigt, als das Prinzip der 100%igen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall das Ergebnis des längsten Arbeitskampf es in der Bundesrepublik Deutschland ist, von dem nicht angenommen werden kann, daß es die Gewerkschaften zur Disposition stellen wollten. Das am 01. Oktober 1996 in Kraft getretene arbeitsrechtliche Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung, durch das die Höhe des gesetzlichen Lohnfortzahlungsanspruchs auf 80 % des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts herabgesetzt worden ist, ist deswegen auf den auf der ... tarifvertraglichen Regelung beruhenden Anspruch des Klägers ohne Einfluß, so daß der Klage stattzugeben ist.
Die Entscheidung über den Zinsanspruch beruht auf den§§ 288 Abs. 1 und 291 BGB. Irrtümlich hat die Kammer dem Zinsanspruch bereits für die Zeit ab 10. März 1997 stattgegeben, während der Kläger Zinsen erst ab Zustellung des Schriftsatzes vom 24. März 1997 beantragt hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen worden.