Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 13.07.2006, Az.: S 15 SB 115/05
Voraussetzungen der Zuerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung); Begriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 13.07.2006
- Aktenzeichen
- S 15 SB 115/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 47570
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2006:0713.S15SB115.05.0A
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV
- § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG
- § 46 Nr. 11 StVG
- Abschn. II Nr. 1 S.1 - 3 VwV-StVO
Tenor:
Der Bescheid des Versorgungsamts Hannover vom 26. November 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 16. Juni 2005 wird aufgehoben und der Beklagte wird verpflichtet, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" seit dem 21. Mai 2004 festzustellen.
Tatbestand
Die Klägerin des vorliegenden Rechtsstreites begehrt die Zuerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Bei der 1958 geborenen Klägerin hatte das Versorgungsamt Hannover mit Bescheid vom 23. Oktober 2002 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 ab dem 24. April 2002 festgestellt, die Merkzeichen "G" und "B" blieben - wie bisher - bestehen. Die Voraussetzungen für die Merkzeichen "aG" und "RF" wurden nicht anerkannt. Dieser Entscheidung lagen folgende dauernde Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
- 1.
Teillähmung beider Beine nach Rückenmarkserkrankung (Einzel-GdB: 60)
- 2.
Hüftgelenkserkrankung beidseits (Einzel-GdB: 20)
- 3.
Magenleiden (Einzel-GdB: 20).
Das daneben bestehende psychosomatische Leiden blieb für den Gesamt-GdB ohne Bedeutung.
Die Klägerin beantragte - vertreten durch ihre Betreuerin - sodann am 21. Mai 2004 die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "H". Dabei gab sie an, die Hüftdysplasie, die beidseitige Hüftluxation sowie die Dauerschmerzen hätten sich wesentlich verschlimmert.
Nach Einholung verschiedener medizinischer Unterlagen, insbesondere eines Befundberichts des Orthopäden Dr. med. G. vom 21. Juni 2004 sowie eines Gutachtens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI des MDK vom 16. Juli 2003 lehnte das Versorgungsamt Hannover den Antrag mit Bescheid vom 26. November 2004 unter Zugrundelegung der gutachtlichen Stellungnahme der ärztlichen Beraterin des Beklagten - Frau Dr. H. - vom 10. November 2004 ab.
Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 22. Dezember 2004 Widerspruch, den der Beklagte unter Zugrundelegung der gutachtlichen Stellungnahme der ärztlichen Beraterin des Beklagten - Frau Dr. I. - vom 13. April 2005 mit Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 2005 zurückwies.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer am 15. Juli 2005 beim Sozialgericht Lüneburg erhobenen Klage. Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und führt aus, die im Widerspruchsverfahren beigezogenen medizinischen Unterlagen bestätigten, dass sich die Klägerin dauernd nur noch mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung fortbewegen könne. Insbesondere werde bereits im Befundbericht des Orthopäden Dr. G. vom 03. Dezember 2000 eine Gehstrecke der Klägerin von lediglich 50 Metern dokumentiert, ferner bestätige er ein hinkendes, unsicheres Gangbild. Darüber hinaus attestiere das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit einen langsamen leicht schaukelnden schlurfenden Gang an Wänden und Möbeln abstützend, das rechte Bein werde danach nachgezogen.
Sie beantragt,
den Bescheid des Versorgungsamts Hannover vom 26. November 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die medizinischen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, dass sich nach den Befundunterlagen keine Anhaltspunkte dafür ergäben, dass die Klägerin selbst unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel praktisch von den ersten Schritten außerhalb ihres Kraftfahrzeuges an nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung gehen könne.
Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das Gericht folgende medizinische Unterlagen beigezogen: einen Befundbericht des Internisten Dr. med. J. vom 13. Februar 2006, einen Befundbericht des Orthopäden G. vom 13. Februar 2006, einen Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. K. vom 22. Februar 2006, denen jeweils weitere medizinische Unterlagen beigefügt waren.
Außerdem hat das Gericht im Termin zur mündlichen Verhandlung das fachinternistische Gutachten des Dr. med. L. nach vorheriger ambulanter Untersuchung der Klägerin erstatten lassen. Der Sachverständige stellte aufgrund seiner ambulanten Untersuchung eine Teillähmung beider Beine und Arme bei Rückenmarkserkrankung, eine Hüftgelenkserkrankung beidseits sowie ein Magenleiden fest. Insgesamt bestätigte der Sachverständige den der Klägerin bereits zuerkannten Gesamtgrad der Behinderung mit 80. Zur Frage der Geh- und Stehfähigkeit führte er aus: Das Stehvermögen der Klägerin auf Praxisebene und bei der Untersuchung sei ausreichend sicher, so lange sie sich an Gegenständen festhalten könne. Sie bewege sich nach ihren eigenen Angaben unter Festhalten an Tischen und Wandteilen ohne Hilfsmittel im Bereich der eigenen Wohnung. In den Untersuchungsräumen der Praxis habe sie ebenfalls keine Hilfsmittel benötigt. Sie habe sich an Türen und Gegenständen festgehalten und legte vom Wartezimmer bis zum Sprechzimmer eine Strecke von 10 Metern zurück, dann zum Untersuchungsraum weitere 5 Meter. Die Klägerin habe sechs Treppenstufen hoch und auch wieder hinunter bewältigen können, während sie sich am Geländer festgehalten habe. Sie habe sich die Strecken vom Wartezimmer bis zum Untersuchungszimmer und zurück humpelnd, nach links gebeugt und hinkend voranbewegt. Der Gang sei schaukelnd, der Rumpf werde nach vorne gebeugt. Beim Halten beider Hände sei der Stand sicher, beim Gehversuch sei der Gang nach vorne humpelnd und kleinschrittig. Nach der Untersuchung habe die Klägerin vor der Tür unter einem Unterstand an die Wand gelehnt auf das Taxi gewartet. Das dann zehn Meter entfernte Taxi habe sie eigenständig erreicht und sei eigenständig ohne Hilfe des Taxifahrers eingestiegen. Der Gang sei dabei vornüber gebeugt und nach links humpelnd gewesen.
Insgesamt kam er zu dem Ergebnis, dass die Gehfähigkeit der Klägerin ohne Zweifel deutlich eingeschränkt sei. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" orientierten sich an der Gehfähigkeit von Querschnittsgelähmten und doppelt Unterschenkelamputierten oder Behinderten, die zugleich unterschenkel- und armamputiert seien. Die Klägerin weise aber ein besseres Gehvermögen auf als die genannte Vergleichsgruppe, so dass ihr das Merkzeichen "aG" nicht zustehe.
Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend Bezug genommen, auf die Prozessakten und die die Klägerin betreffenden Schwerbehindertenakten zum Aktenzeichen 70-00112, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Bei der Klägerin liegen die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) seit dem Zeitpunkt der Antragstellung am 21. Mai 2004 vor.
1.
Nach § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) stellt der Beklagte neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung ("aG"). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises das Merkzeichen "aG" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Nach Abschnitt II Nr. 1 Satz 1 bis 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr. 11 der Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO, BAnz 1998, Beilage Nr. 246b und BAnz 2001, S. 1419) sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die - auch aufgrund von Erkrankungen - dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Hier gehört die Klägerin offensichtlich nicht zu der in der Verwaltungsvorschrift ausdrücklich genannten Gruppe von schwerbehinderten Menschen.
2.
Sie ist jedoch nach Überzeugung der Kammer der oben genannten Gruppe gleichzustellen. Bei der Prüfung einer Gleichstellung ist maßgeblich auf Satz 1 der o.g. Verwaltungsvorschrift abzustellen. Denn die in Satz 3 der VwV-StVO genannte Gruppe von Schwerbehinderten ist nicht homogen. Vielmehr können einzelne der in der Vorschrift genannten Schwerbehinderten bei einem Zusammentreffen von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler orthopädischer Versorgung nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, BSGE 90, 180 [BSG 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R]; LSG Berlin, Urteil vom 25. März 2004 - L 11 SB 15/02). Es ist deshalb nicht erforderlich, dass der Betroffene - wie etwa ein Querschnittsgelähmter - nahezu unfähig ist, sich fortzubewegen. Ausreichend ist vielmehr, dass er auch unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kfz nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung gehen kann (BSG, a.a.O.). Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich deshalb weder quantifizieren noch qualifizieren; eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugt dazu grundsätzlich nicht. Entscheidend ist, dass die Gehfähigkeit so stark eingeschränkt ist, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (BSG a.a.O., unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien; vgl. insbesondere auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Urteile vom 14. Dezember 2005, - L 5 SB 173/04 - sowie - L 5 SB 23/05 - ). Zur Verdeutlichung, wann es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen, hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in den genannten Urteilen ausgeführt:
"Vielmehr ist -wie bereits ausgeführt- der Einleitungssatz des Abschnitts II Nr. 1 der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr. 11 StVO maßgeblich, wobei bei dessen Anwendung der Gesetzeszweck des 9. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) hinreichend zu beachten ist (Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilnahme des Behinderten am Leben in der Gesellschaft). Dieser Gesetzeszweck kann bei außergewöhnlich gehbehinderten Schwerbehinderten insbesondere durch die Nutzung von sog. Behindertenparkplätzen erreicht werden. Erst durch die Vermeidung längerer Fußwege wird dem außergewöhnlich gehbehinderten Menschen das Erreichen vieler z.B. öffentlicher und medizinischer Einrichtungen überhaupt erst ermöglicht. Ob im Einzelfall die Gehbehinderung so stark ist, dass der Nachteilsausgleich aG zuerkannt werden kann, stellt sich damit letztlich als eine wertende Entscheidung dar, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Kriterium der Zumutbarkeit zu (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, a.a.O.). Wäre der Kläger auf die Nutzung allgemeiner Parkmöglichkeiten angewiesen, müsste er praktisch ausnahmslos auf dem erforderlichen Fußweg zwischen Kraftfahrzeug und eigentlichem Ziel (z.B. Arztpraxis, Geschäft, Veranstaltungsort) Pausen einlegen. [ ] Da bei Großparkplätzen (wie z.B. bei Einkaufszentren oder Großveranstaltungen) die Entfernung zwischen Parkplatz und Eingang oftmals deutlich mehr als 100 m beträgt, wäre der Kläger bei Nutzung der allgemeinen Parkmöglichkeiten gezwungen, auf dem Fußweg zwischen Auto und Eingang noch auf dem Parkplatzgelände (u.U. sogar mehrfach) zu pausieren. Dieses Pausieren zwischen parkenden Fahrzeugen bzw. im allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr auf einem Parkplatz ist dem multimorbiden Kläger unzumutbar. Dem schwer gehbehinderten Kläger würde bei einer Versagung des Nachteilsausgleiches aG die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unzumutbar erschwert (vgl. hierzu erneut § 1 SGB IX). Die vom Beklagten vorgenommene restriktive Auslegung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" (" ... kann zumindest kurze Strecken auch noch außerhalb des Hauses bewältigen", vgl. Stellungnahme der Dr. N. vom 25. April 2005) berücksichtigt im vorliegenden Fall nach Auffassung des Senats auch nicht hinreichend die in § 1 Absatz 1 SGB I formulierten Ziele des Sozialgesetzbuches (Ausgleich besonderer Belastungen des Lebens; Schaffung gleicher Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit; vgl. eingehend zu den sozialen Rechten zur Teilhabe behinderter Menschen: § 10 SGB I). Diese Ziele des Sozialgesetzbuches sind jedoch bei der Auslegung der Vorschriften aller Teile des SGB zu beachten; die sozialen Rechte sind möglichst weitgehend zu verwirklichen (§ 2 Abs. 2 SGB I). Zwar sprechen durchaus auch gewichtige Gesichtspunkte für eine restriktive Auslegung des Nachteilsausgleiches "aG" (wie insbesondere die Tatsache, dass Behindertenparkplätze nur beschränkt zur Verfügung stehen und deshalb bei einer zu großzügigen Vergabe des Nachteisausgleichs "aG" dem Kreis der vollständig gehunfähigen Behinderten u.U. zu wenig Behindertenparkplätze zur Verfügung stehen, vgl. hierzu BSG, Urteil vom 03.02.1988, SozR 3870 § 3 Nr. 28). Eine generell restriktive Normanwendung befreit jedoch nicht von der erforderlichen Einzelfallprüfung, in deren Rahmen insbesondere auch Zumutbarkeitskriterien zu beachten sind."
3.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Kammer der Überzeugung, dass es der Klägerin unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Die Klägerin hat vorgetragen, dass sie sich in der Wohnung an den Einrichtungsgegenständen festhalten müsse, um sich fortzubewegen. Dies - darauf hat die Klägerin zu Recht hingewiesen - wird auch durch das Pflegegutachten des MDK vom 16. Juli 2003 bestätigt, in dem deutlich der langsame leicht schaukelnde Gang an Wänden und Möbeln abstützend beschrieben wird. Gleiches beschreibt auch der Orthopäde G. in seinem Befundbericht vom 13. Februar 2006, wobei er zusätzlich eine Verminderung der Gehstrecke in seinem Untersuchungszeitraum vom Dezember 1996 bis November 2005 attestierte. Auch der Sachverständige hat entsprechende Beobachtungen vor, während und nach seiner ambulanten Untersuchung machen können, wenn er auch in seinen gutachtlichen Ausführungen die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" nicht befürwortete. Nach Überzeugung der Kammer steht - entgegen der Auffassung des Sachverständigen und des Beklagten - außer Zweifel, dass es auch der Klägerin aufgrund ihres Gangbildes und der Tatsache, dass sie sich überwiegend an Gegenständen u.Ä. festhaltend fortbewegen muss, unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Insoweit treffen die oben zitierten Erwägungen des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen zur Problematik bei Großparkplätzen auch uneingeschränkt auf die Klägerin dieses Verfahrens zu, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch die Verweigerung des Nachteilsausgleichs "aG" unzumutbar erschwert würde (vgl. § 1 SGB IX). Ferner ist es der Klägerin auch bei der Fortbewegung im sonstigen Fußgängerverkehr - etwa in Einkaufspassagen o. ä. - nicht zumutbar, sich beispielsweise von Schaufenster zu Schaufenster an der Wand entlang zu bewegen, da auch diese Bewegungsweise der erforderlichen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und der Integration Behinderter abträglich wäre.
4.
Ferner liegen die Voraussetzungen, die das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 2002 (Az.: B 9 SB 7/01 R) für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" herausgearbeitet hat und worauf die Klägerin zu Recht hingewiesen hat, auch bei der Klägerin vor. Nach dieser Rechtsprechung gehört nämlich derjenige zum berechtigten Personenkreis, dessen Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist (siehe dazu unter a)) und er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der Verwaltungsvorschrift genannten Personen (siehe dazu unter b)). Die erste Voraussetzung liegt dann vor, wenn sich der Betroffene nur mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und dann nur noch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortzubewegen vermag. Die zweite Voraussetzung liegt dann vor, wenn der Betroffene die von ihm nach 30 Metern einzulegende Pause deshalb macht, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann (BSG, a.a.O.).
a)
Zunächst ist die Gehfähigkeit der Klägerin in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt. Die Klägerin bewegt sich nämlich - wie ausgeführt - nach den Beobachtungen des Sachverständigen und seiner Schilderung im Rahmen der mündlichen Verhandlung sowie nach den bereits genannten Befundunterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzte nur noch schleppend, kleinschrittig und deutlich verlangsamt. Diese Beobachtungen des Sachverständigen stimmen auch mit den vom Sachverständigen erhobenen Befunden überein und erklären sich auch und gerade durch die bei der Klägerin festgestellten dauernden erheblichen Funktionsbeeinträchtigungen (Teillähmung beider Beine und Arme bei Rückenmarkserkrankung und Hüftgelenkserkrankung beidseits). Zwar werden von der Klägerin - wie sie selbst eingeräumt hat - keine orthopädischen Hilfsmittel benutzt. Jedoch führt dies nach Auffassung der Kammer zu keinem anderen Ergebnis. Die Klägerin hat dies nämlich für das Gericht nachvollziehbar damit begründet, dass die Benutzung insbesondere eines Gehstocks das bei ihr bestehende Leiden des linken Armes bzw. der linken Hand nur verstärken würde. Diese Angabe wird auch durch die von dem Sachverständigen objektiv festgestellte deutliche Kraftabschwächung der linken Hand um zwei Drittel im Vergleich zu rechts bestätigt. Auch hat der Neurologe und Psychiater Dr. J in seinem Befundbericht vom 22. Februar 2006 mitgeteilt, dass neben der langsam fortschreitenden Beinschwäche eine Schwäche der linken Hand vorliege. Ferner klagte die Klägerin bereits am 22. Oktober 2004 ausweislich des entsprechenden Befundberichts vom 13. Februar 2006 gegenüber ihrem Hausarzt, Herrn Dr. K, über Schmerzen in der linken Schulter und dem linken Arm, so dass sie den Gehstock wegen der Schulterschmerzen nicht benutzen könne. Die durch das Handleiden und die beschriebenen Schmerzen der linken Schulter und des Linken Arms hervorgerufene fehlende Kompensationsmöglichkeit durch die Zuhilfenahme eines Gehstocks o. ä. kann der Klägerin nach Auffassung der Kammer bei der Frage ob die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist, nicht zum Nachteil gereichen. Entscheidend muss letztlich bleiben, dass das beschriebene beschwerliche Gangbild auch ohne Hilfsmittel vorliegt und daher die Gehfähigkeit als in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt einzuschätzen ist (vgl. zur Problematik der fehlenden Kompensationsmöglichkeit durch Gehhilfen auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Urteil vom 10. Mai 2006, - L 5 SB 33/04 -).
b)
Darüber hinaus kann sich die Klägerin auch nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen, wie die in der Verwaltungsvorschrift genannten Personen. Dabei geht die Kammer zunächst davon aus, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1). Auch hat das eingeholte fachinternistische Gutachten, bestätigt durch die ergänzende Äußerung des Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Verhandlung, zur Bestätigung dessen ergeben, dass bei der Klägerin tatsächlich auch deutliche Kraftanstrengung erforderlich ist, um sich auch nur wenige Meter fortzubewegen. Ferner bereitete es der Klägerin im Rahmen des Termins zur mündlichen Verhandlung nach dem Eindruck der Kammer erhebliche Mühe, den Weg vom Warteraum bis in den Sitzungssaal des Gerichts - obwohl sie von einer Begleitperson gestützt worden ist - zu bewältigen.
Nach alledem liegen bei der Klägerin seit dem Zeitpunkt ihrer Antragstellung am 21. Mai 2004 die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleichs "aG" vor. Hinsichtlich des Zeitpunkts geht die Kammer davon aus, dass sich das Gehvermögen stetig verschlimmert hat; insbesondere ergibt sich aus dem Befundbericht des DrM. vom 13. Februar 2006, dass die Klägerin bereits im Oktober 2004 über eine Einschränkung der Gehstrecke geklagt hat, so dass der Beginn des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" im Zeitpunkt der Antragstellung plausibel ist.