Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 01.12.2006, Az.: S 24 AS 1282/06 ER

Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung im Wege der Grundsicherung für Arbeitsuchende; Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung im Sozialgerichtsverfahren; Anforderungen an die Geltendmachung eines Anordnungsgrundes; Begriff der Aufwendungen i.S.d. § 11 Abs. 2 Nr. 5 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II)

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
01.12.2006
Aktenzeichen
S 24 AS 1282/06 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 47558
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2006:1201.S24AS1282.06ER.0A

Fundstelle

  • BtMan 2008, 34

Tenor:

  1. 1.

    Die Antragsgegnerin wird unter Abänderung des Bescheides vom 18.09.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2006 verpflichtet,

  2. 2.

    der Antragstellerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - (SGB II) in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung bis einschließlich Mai 2007 zu bewilligen. Die Bewilligung erfolgt unter dem Vorbehalt einer abändernden Entscheidung in der Hauptsache.

  3. 3.

    Die außergerichtlichen Kosten trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

1

I.

Die Antragstellerin begehrt die Übernahme ihrer Kosten für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe.

2

Die 1956 geborene Antragstellerin lebt mit ihren 1989 und 1985 geborenen Kindern in einer gemeinsamen Wohnung in E ... Die Wohnung ist 96 m² groß, das Gebäude, in dem sich die Wohnung befindet, ist 1977 fertig gestellt worden. Die Wohnung besteht aus 4 Zimmern zuzüglich Küche und Bad. Für die Wohnung zahlt die Antragstellerin eine Grundmiete in Höhe von 540,00 EUR zuzüglich Nebenkosten in Höhe von 175,00 EUR zuzüglich Heizkosten in Höhe von 96,00 EUR monatlich.

3

Die Antragstellerin lebt von ihrem türkischen Ehemann seit September 2004 getrennt. Nach Aussagen der Antragstellerin verfolgt und bedroht der getrennt lebende Ehemann die Antragstellerin und ihre Kinder. Die Antragstellerin ist deswegen seit Dezember 2003 in kontinuierlicher nervenärztlicher Behandlung.

4

Mit Schreiben vom 09.05.2006 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, die Kosten der Unterkunft und Heizung zu senken. Die Wohnung der Antragstellerin sei sowohl unangemessen groß, als auch unangemessen teuer. Für die Antragstellerin sei eine Kaltmiete inklusive Nebenkosten außer Heizkosten von monatlich 550,00 EUR angemessen. Die derzeitigen Kosten der Unterkunft könnten nur noch bis zum 30.11.2006 in dieser Höhe übernommen werden. Sollte die Antragstellerin die Kosten der Unterkunft nicht senken, würden die Kosten der Unterkunft bereits ab dem 01.11.2006 in angegebener Höhe übernommen werden.

5

Mit Schreiben vom 01.09.2006 wiese die Antragstellerin darauf hin, dass es ihr derzeit nicht möglich sei, günstigeren Wohnraum zu finden und umzuziehen. Sie legte ein Attest der behandelnden Nervenärztin Dr. med. F. bei. In diesem Attest bestätigte die behandelnde Nervenärztin, dass der Antragstellerin aufgrund der erheblichen Belastungssituation ein Wohnungswechsel derzeit nicht zugemutet werden könne.

6

Die Antragsgegnerin ließ dieses Attest unbeachtet. Mit Schreiben vom 11.09.2006 wurde der Antragstellerin lediglich mitgeteilt, dass dem Attest keine aufschiebende Wirkung bezüglich der Senkung der Unterkunftskosten zukomme. Weitere Sachverhaltsermittlungen wurden nicht durchgeführt.

7

Mit Bescheid vom 18.09.2006 setzte die Antragsgegnerin die Kosten der Unterkunft ab dem 01.11.2006 auf die für angemessen erachtete Höhe fest.

8

Hiergegen erhob die Antragstellerin am 20.09.2006 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, dass es ihr aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich gewesen sei, fristgerecht eine günstigere Wohnung zu finden. Sie bat darum, einen Aufschub von 6 Monaten für die Wohnungsfindung gewährt zu bekommen.

9

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.2006 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass für einen 3-Personen-Haushalt eine Wohnfläche von 75 m² als angemessen zu betrachten sei. Die Kaltmiete inklusive Nebenkosten sei für die Antragstellerin mit 550,00 EUR als angemessen zu beziffern, die Heizkosten mit 1,00 EUR pro Quadratmeter, mithin 75,00 EUR.

10

Hiergegen erhob die Antragstellerin am 20.11.2006 Klage.

11

Am selben Tag hat sie

den Erlass einer einstweiligen Anordnung

12

beantragt.

13

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

  1. 1.

    die Antragsgegnerin unter Abänderung des Bescheides vom 18.09.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2006 zu verpflichten,

  2. 2.

    ihr Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe unter Beachtung der Kosten der Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe zu bewilligen.

14

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzuweisen.

15

Sie verweist auf die Begründung im Widerspruchsbescheid.

16

Die Kammer hat im vorbereitenden Verfahren eine Auskunft der behandelnden Nervenärztin eingeholt. Die behandelnde Ärztin hat erklärt, dass bei der Antragstellerin ein Unvermögen bestehe, einen Umzug psychisch zu verkraften. In Belastungssituationen reagiere die Antragstellerin rasch mit vermehrten Schlafstörungen, Unruhezuständen, Ängsten, Rückzugstendenz sowie psychosomatischen Beschwerden. Es sei davon auszugehen, dass für die Antragstellerin in den nächsten Monaten bis einschließlich Mai 2007 ein Umzug nicht möglich sein werde.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen, die dem Gericht bei der Entscheidungsfindung vorgelegen haben.

18

II.

Der zulässige Antrag ist begründet.

19

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz richtet sich nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung nötig erscheint (Satz 2). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist deshalb, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber der Antragsgegnerin besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile müssen glaubhaft gemacht werden, § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung wegen des summarischen Charakters des Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz grundsätzlich nicht die Entscheidung der Hauptsache vorwegnehmen.

20

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihrer funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig u.a., SGG, 8. Aufl, § 86 b Rz, 27 ff m.w.N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn auf das vorliegen des Anordnungsgrunds nicht verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang der Hauptsache, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend zu berücksichtigen. Die Gerichte müssen sich dabei schützend und fördernd vor die Grundrechte der Einzelnen stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abgestellt wird, die Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (BVerfG a.a.O.). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen nur auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit fordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrunds (vgl. Meyer-Ladewig a.a.O. Rz. 16 b f.).

21

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 22 Abs. 1 SGB II. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf so lange zu berücksichtigen, wie es dem allein stehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für 6 Monate (Satz 3).

22

Der Ausnahmetatbestand des Satzes 3 liegt hier vor. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung geht das Gericht derzeit davon aus, dass der Antragstellerin ein Umzug psychisch nicht zuzumuten ist. Diese Einschätzung gründet sich auf das von der behandelnden Nervenärztin ausgestellte Attest vom 30.08.2006 sowie auf die vom Gericht eingeholte Erklärung vom 30.11.2006. Auf die Einholung eines umfangreicheren medizinischen Gutachtens musste hier aufgrund der gebotenen Eile im einstweiligen Rechtsschutzverfahren verzichtet werden. Nach der insoweit schlüssigen Aussage der behandelnden Nervenärztin, ist es der Antragstellerin derzeit nicht zuzumuten, einen Umzug durchzuführen.

23

Unverständlich ist es, wieso die Antragsgegnerin, die bereits seit Anfang September von der Erkrankung der Antragstellerin wusste, es versäumt hat, ihrer Verpflichtung zur Sachverhaltsaufzuklärung nachzukommen. Angesichts des eingereichten Attestes hätte ohne weiteres eine amtsärztliche Untersuchung veranlasst werden können. Möglicherweise hätte es sogar schon gereicht, der Antragstellerin bei der Suche einer Wohnung von angemessener Größe und Preis behilflich zu sein, um hier die in der Tat unangemessenen Kosten zu vermeiden.

24

Ein Anordnungsgrund ergibt sich ohne weiteres aus der finanziellen Situation der Antragstellerin.

25

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.