Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 01.07.2006, Az.: S 19 SF 25/06
Akte; Akteneinsicht; Angelegenheit; Anwalt; anwaltliche Tätigkeit; Anwaltsvergütung; Auseinandersetzung; Auswertung; Bedeutung; Betragsrahmengebühr; Durchschnittlichkeit; Einkommensverhältnisse; Festsetzung; Feststellung; Gutachten; Rahmengebühr; Rechtsanwalt; Rechtsanwaltsvergütung; Sachverständigengutachten; Schwerbehinderteneigenschaft; Schwierigkeit; sozialgerichtliches Verfahren; Unbilligkeit; Verfahrensgebühr; Vergütung; Vermögensverhältnisse
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 01.07.2006
- Aktenzeichen
- S 19 SF 25/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 53234
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 315 Abs 2 BGB
- § 14 Abs 1 S 1 RVG
- § 14 Abs 1 S 3 RVG
- § 2 Abs 2 S 1 Anl 1 Nr 3102 RVG
- § 3 Abs 1 S 1 RVG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Als durchschnittliches Verfahren ist ein Gerichtsverfahren, das die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft zum Ziel hat, erst dann zu bewerten, wenn der Prozessbevollmächtigte Klage einlegt, die Verwaltungsvorgänge zur Akteneinsicht anfordert, diese auswertet und sich mit denjenigen Befundberichten und mindestens einem Sachverständigengutachten inhaltlich auseinandersetzt, die anlässlich des laufenden Klageverfahrens eingeholt werden.
Tenor:
Die Erinnerung der Erinnerungsführerin gegen den Beschluss des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Lüneburg über die Festsetzung der Prozesskostenhilfevergütung vom 15. Februar 2006 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 22. Februar 2006 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
In dem Hauptsacheverfahren, in dem dem Kläger die Erinnerungsführerin im Wege der Prozesskostenhilfe antragsgemäß beigeordnet worden war, ging es um die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 und damit um die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX). Die Erinnerungsführerin hat nach der medizinischen Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht, insbesondere der Einholung von Befundberichten des Internisten Dr. C. vom 5. November 2004, des Internisten Dr. med. D. - ohne Datum -, des Facharztes für Neurochirurgie Dr. med. E. vom 20. September 2004 sowie des Facharztes für Orthopädie Dr. F. vom 3. November 2004 und der Abgabe von zwei gutachterlichen Stellungnahmen des Ärztlichen Dienstes des Beklagten vom 26. Januar 2005 sowie vom 5. Oktober 2005, die Klage mit Schriftsatz vom 7. Februar 2006 zurückgenommen.
Die Erinnerungsführerin beantragte die Festsetzung der Rechtsanwaltsvergütung mit Schriftsatz vom 7. Februar 2006 wie folgt:
Verfahrensgebühr (VV-Nr. 3102) | 460,00 € |
Post- und Telekommunikationsentgelte | 20,00 € |
Umsatzsteuer (VV-Nr. 7008) | 76,80 € |
Summe | 556,80 € |
Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hatte sodann die PKH-Vergütung mit Beschluss vom 15. Februar 2006 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 22. Februar 2006 auf 255,20 € festgesetzt und dabei eine Verfahrensgebühr in Höhe von 200,00 € zugrunde gelegt. Zur Begründung der abweichenden Festsetzung der PKH-Vergütung führt er aus, das Verfahren sei als unterdurchschnittlich anzusehen, der Zeitaufwand sei mit insgesamt 405 Minuten angegeben. In der Regel habe sich der Prozessbevollmächtigte neben der Würdigung von Befundberichten mit mindestens einem Gutachten inhaltlich auseinander zu setzen. Im vorliegenden Fall sei ein Gutachten nicht zu bearbeiten gewesen. Auch sei der angegebene Zeitaufwand mit insgesamt 405 Minuten gering ausgefallen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers habe sich zunächst in die zu diesem Zeitpunkt 38 Seiten umfassende Gerichtsakte und die Verwaltungsakte einzuarbeiten. Anschließend sei von ihr eine zweiseitige Klagebegründung verfasst worden.
Die Erinnerungsführerin hält mit ihrer am 13. März 2006 eingelegten Erinnerung, der der Urkundsbeamte nicht abgeholfen hat, an der begehrten Kostenfestsetzung fest und führt ergänzend aus, der Schwierigkeitsgrad in Bezug auf die medizinische Einschätzung des Falles sei überdurchschnittlich gewesen, insbesondere erforderten die verschiedenen Krankheitsbilder des Klägers, wobei insoweit einige ärztliche Diagnosen unklar gewesen seien, einen erhöhten Gesprächsbedarf mit dem Kläger. Im Übrigen sei bei der Berechnung des Zeitaufwandes diesseits (also bei der Erinnerungsführerin) ein Rechenfehler unterlaufen; der Zeitaufwand habe 595 Minuten betragen.
II.
Die gemäß § 56 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG -) zulässige Erinnerung gegen den Beschluss des Urkundsbeamten ist zulässig. Antragsberechtigt ist der Rechtsanwalt selbst (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 34. Auflage, § 56 RVG, Anm. 2).
Die Erinnerung ist jedoch nicht begründet. Die Erinnerungsführerin hat keinen höheren Entschädigungsanspruch aus der Staatskasse. Die Gebührenfestsetzung für die Verfahrensgebühr unterhalb der Mittelgebühr ist nicht zu beanstanden.
Die Höhe der Gebühr richtet sich auch im Falle der Festsetzung von Gebühren für die bewilligte Prozesskostenhilfe nach den §§ 3, 14 RVG. Nach § 3 Abs. 1 S. 1 RVG entstehen in den Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das GKG nicht anwendbar ist, Rahmengebühren. Der Gebührenrahmen für eine Verfahrensgebühr ergibt sich aus Nr. 3102 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV-RVG). Danach beträgt die Verfahrensgebühr in sozialrechtlichen Angelegenheiten 40,00 € bis 460,00 €. Hieraus ergibt sich eine Mittelgebühr in Höhe von 250,00 €. Die Vorschrift des RVG bezeichnet eine Rahmengebühr, und zwar in Form einer Betragsrahmengebühr, d. h. dass der untere und der obere Rahmen jeweils durch eine Mindest- und eine Höchstgebühr bestimmt wird. Welche konkrete Höhe eine Gebühr hat, bestimmt der Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 und S. 3 RVG. Er muss dabei sein Ermessen ausüben, wobei er zur Berücksichtigung aller in § 14 Abs. 1 RVG aufgezählten Umstände verpflichtet ist. Bei der Bestimmung der Gebühr im konkreten Einzelfall durch den Rechtsanwalt gelten die allgemeinen Grundsätze der Ausübung des Ermessens nach § 315 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), wobei der Rechtsanwalt die für seine Ermessensausübung vorgenommenen Erwägungen darlegen muss (vgl. Baumgärtel/Hergenröder/Hoben/Lompe, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 6. Auflage, April 2005, § 14 Rn. 1 und 2). Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit wird im Wesentlichen durch die zeitliche Inanspruchnahme bestimmt. Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit ist anhand der Intensität der Tätigkeit zu bewerten. Die Bedeutung der Angelegenheit ist zu bestimmen anhand der konkreten Bedeutung für den Mandanten. Zusätzlich sind die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers maßgeblich. Wenn sich ergibt, dass die Tätigkeit besonders umfangreich oder besonders schwierig war oder die weiteren Kriterien des § 14 Abs.1 RVG sich als überdurchschnittlich darstellen, kommt eine Gebühr oberhalb der Mittelgebühr in Betracht, im umgekehrten Fall kann entsprechend von der Mittelgebühr nach unten abgewichen werden. Gemäß § 14 Abs. 1 S. 4 RVG ist schließlich die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung dann nicht verbindlich, wenn die Gebühr - wie hier - von einem Dritten zu ersetzen und sie unbillig ist.
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist die Gebührenfestsetzung des Urkundsbeamten nicht zu beanstanden, die geltend gemachte Gebühr erweist sich demgegenüber als unbillig und ist daher nicht verbindlich.
1. a) Nach Einschätzung des Gerichts ist vorliegend zunächst nicht von einer schwierigen oder umfangreichen anwaltlichen Tätigkeit auszugehen. Keinesfalls ist die anwaltliche Tätigkeit geeignet gewesen, den Gebührenrahmen nach oben voll ausschöpfen zu können.
b) Vielmehr liegt nach Auffassung der Kammer in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Urkundsbeamten nicht einmal ein durchschnittliches schwerbehindertenrechtliches Verfahren vor. Als durchschnittliches Verfahren ist ein Gerichtsverfahren, das die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft zum Ziel hat, erst dann zu bewerten, wenn der Prozessbevollmächtigte Klage einlegt, die Verwaltungsvorgänge zur Akteneinsicht anfordert, diese auswertet und sich mit denjenigen Befundberichten und mindestens einem Sachverständigengutachten inhaltlich auseinandersetzt, die anlässlich des laufenden Klageverfahrens eingeholt werden.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Gericht der Auffassung, dass die Beurteilung des Urkundsbeamten, es handele sich um eine unterdurchschnittliche anwaltliche Tätigkeit, nicht zu beanstanden ist. Streitgegenständlich war vorliegend die Feststellung eines Grades der Behinderung von mindestens 50, die Vergabe eines Merkzeichens wurde nicht gefordert. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, vielmehr stellten sich die Entscheidungen des Beklagten als rechtmäßig dar. Die Verfahrensdauer war recht kurz und es mussten letztlich nur diejenigen ärztlichen Unterlagen ausgewertet werden, die das Gericht eingeholt hat sowie von dem Beklagten eingereicht worden sind. Dabei handelt es sich insgesamt nur um ein vergleichsweise geringes Aktenvolumen. Die Erhebung der Klage, die Durcharbeitung der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Prozessakte sowie die sonstige Korrespondenz der Prozessbevollmächtigten des Klägers und die in diesem Zusammenhang durchgeführten Besprechungen wiesen im vorliegenden Fall nach Einschätzung des Gerichts keinen Umfang oder eine Schwierigkeit auf, die die Zuerkennung der Mittelgebühr rechtfertigen könnten. Vielmehr weicht der geschilderte Aufwand der Prozessbevollmächtigten nach Auffassung des Gerichts sogar von einer durchschnittlichen Bearbeitung durch einen im Sozial- und Sozialversicherungsrecht tätigen Rechtsanwalt - wobei sich eine Spezialisierung auf diese Rechtsgebiete selbstredend nicht nachteilig auswirken darf - nach unten ab, das Verfahren ist daher als unterdurchschnittlich einzustufen. Insoweit sind die von der Erinnerungsführerin genannten Tätigkeiten - auch unter Berücksichtigung ihrer im Verlaufe des Erinnerungsverfahrens noch nach oben korrigierten Zeitangabe - für einen ordnungsgemäß beratenden und vertretenden Rechtsanwalt obligatorisch, so dass sich hieraus nicht ergibt, dass die Mittelgebühr erreicht wird.
c) Auch die Auffassung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, wonach regelmäßig erst dann von einem durchschnittlichen sozialgerichtlichen Verfahren im Schwerbehindertenrecht ausgegangen werden kann, welches geeignet ist, die Mittelgebühr auszulösen, wenn zumindest ein fachärztliches Gutachten ausgewertet werden muss, ist insoweit nicht zu beanstanden. Diese Einschätzung teilt die Kammer für den Regelfall ausdrücklich. Kriterien, die von dem Regelfall - also der Voraussetzung der Auswertung mindestens eines fachärztlichen Sachverständigengutachtens für die Einstufung als durchschnittlich - abweichen ließen, insbesondere die Auswertung besonders umfangreicher ausführlicher Befundberichte, ein langer Beurteilungszeitraum oder die Prüfung der medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung mindestens eines Merkzeichens anhand mehrerer Befundberichte, liegen hier offensichtlich nicht vor und sind von der Erinnerungsführerin auch nicht geltend gemacht worden.
d) Soweit die Erinnerungsführerin darauf abstellt, dass immerhin zwei gutachtliche Stellungnahmen auszuwerten waren, stellen diese keine fachärztlichen Gutachten im vorgenannten Sinne dar, sondern gehören zu dem üblichen Beteiligtenvortrag des Beklagten.
2. Die Erinnerungsführerin hat darüber hinaus für die in § 14 Abs. 1 S. 1 und S. 3 RVG genannten sonstigen Kriterien, mithin die Bedeutung der Angelegenheit sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse oder ein besonderes Haftungsrisiko, nichts vorgetragen, was eine Anerkennung der Mittelgebühr rechtfertigen könnte; auch ist dafür im Übrigen nichts ersichtlich.
3. Folglich ist die Bemessung der Verfahrensgebühr in Höhe von 200,00 € angemessen, ein höherer Erstattungsanspruch besteht nicht.