Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 06.12.2006, Az.: S 22 SO 167/06

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
06.12.2006
Aktenzeichen
S 22 SO 167/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44081
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2006:1206.S22SO167.06.0A

Fundstelle

  • SRA 2007, 181-182

Tenor:

  1. 1.

    Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Mai 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 verpflichtet, die vollen Kosten der Blasenkatheterisierung der Klägerin sowohl in den Räumen der Fördergruppe der K. als auch im Wohnheim L. der Beigeladenen zu 1.) zu übernehmen.

  2. 2.

    Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin erstrebt vom Beklagten die Übernahme der Kosten der viermaligen täglichen Blasenkatheterisierung während des Zeitraumes, in dem sie im Wohnheim M. der Beigeladenen zu 1.) untergebracht ist bzw. tagsüber sich in der Fördergruppe der Beigeladenen zu 1.) am N. (O.) aufhält.

2

Die 1981 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt schwerstbehindert und steht unter gesetzlicher Betreuung. Ihr Entwicklungsstand entspricht der einer 8- bis 10-Jährigen. Sie ist auf die Benutzung eines Rollstuhles, den sie selbst fortzubewegen vermag, angewiesen.

3

Bis zum 7. Februar 2006 lebte sie bei ihrer Mutter in P ...

4

Seit 8. Februar 2006 ist die Klägerin im Wohnheim M. der Beigeladenen zu 1.) untergebracht, um dort eigenverantwortlicher leben zu können.

5

Die Klägerin muss viermal pro Tag anhand eines Einmalblasenkatheters katheterisiert werden, damit der Restharn, der möglicherweise die Nieren schädigen könnte, abfließen kann. Zuvor hatte dies die Mutter erledigt. In der Vergangenheit übernahm offenbar die Beigeladene zu 2.) die Kosten der Katheterisierung in der Fördergruppe der Beigeladenen zu 1.). Um die Kosten dieser Maßnahme wird derzeit zwischen der Klägerin und der Beigeladenen zu 2.) gesondert gestritten.

6

Im Wohnheim M. wird die Klägerin nunmehr dreimal täglich katheterisiert, in der Fördergruppe der Beigeladenen zu 1.) einmal täglich. Die Katheterisierung wird durch den Q. aus Lüneburg übernommen, wobei beispielsweise im März 2006 Kosten in Höhe von 1.232,56 EUR anfielen. Die Beigeladene zu 1.) erklärte bereits vor Aufnahme der Klägerin in das Wohnheim, dass sie personell nicht in der Lage sei, die Katheterisierung selbst vorzunehmen (Schreiben vom 7. Februar 2006; Blatt 20 der Gerichtsakte).

7

Die Beigeladenen zu 1.) und das Land R. als überörtlicher Sozialhilfeträger schlossen im Jahre 2004 eine Leistungs- und Prüfungsvereinbarung für die Leistung: "Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung" ab (Blatt 21-29 der Gerichtsakte). Darüber hinaus wurde unter dem 29. Juli 2004 eine Vergütungsvereinbarung ab Betriebsaufnahme bis 31. Dezember 2005 abgeschlossen. Das Wohnheim M. wird als Heim der Eingliederungshilfe eingestuft.

8

In der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung sind unter 3.3.1 die einzelnen Leistungen der Beigeladenen zu 1.) aufgeführt, wobei unter g) Hilfen zur Gesundheitsförderung und - Erhaltung eingefügt sind:

9

- Hilfe bei der Ausführung ärztlicher oder therapeutischer Verordnungen - Absprache und Durchführung von Arztterminen - spezielle pflegerische Erfordernisse - Beobachtung und Überwachung des Gesundheitszustandes - Förderung gesunder Lebensführung.

10

Darüber hinaus wird angeführt, dass die aufgeführten Maßnahmen sich am HMB-Wohnen-Bogen von Dr. Heidrun Metzler orientieren.

11

Die Klägerin erreichte nach dem Auswertungsraster des HMB-Wohnen-Bogens Version 2 aus 2000, das den Hilfebedarf in der individuellen Lebensgestaltung ("Wohnen") feststellte, einen Wert von 141, der der Hilfebedarfsgruppe 4 entspricht, wobei sie unter dem Item 32 (spezielle pflegerische Erfordernisse) mit 4 Punkten eingestuft wurde (Blatt 31 der Gerichtsakte).

12

Der Beklagte gab mit Bescheid vom 2. Februar 2006 ein Kostenanerkenntnis für die Unterbringung der Klägerin ab, und zwar in Höhe von 3656,30 EUR monatlich. Dabei ging er davon aus, dass damit sämtliche Leistungen der Beigeladenen zu 1.), d.h. auch das Katheterisieren abgegolten seien. Dies entnahm der Beklagte der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung.

13

Mit Schreiben vom 6. Februar 2006 führte der Beklagte gegenüber der Klägerin aus, dass er nach Rücksprache mit dem Landessozialamt an seiner Auffassung festhalte. Dies würde sich auch aus der Norm des § 55 SGB XII ergeben, nach der die Eingliederungshilfe in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe auch sämtliche Pflegemaßnahmen umfasse.

14

Am 8. Februar 2006 legte die Klägerin gegen das Kostenanerkenntnis Widerspruch ein, den sie zunächst damit begründete, dass die Beigeladene zu 1.) kein Pflegeheim betreibe und auch keine Behandlungspflege zu leisten habe.

15

Am 23. Februar 2006 stellte die Klägerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (Az.: S 22 SO 37/06 ER). Daraufhin verpflichtete das Sozialgericht Lüneburg den Beklagten, die Kosten der Blasenkatheterisierung während des Aufenthaltes in der Behindertenwerkstatt zu übernehmen. Diesen Beschluss setzte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Mai 2006 um, wogegen die Klägerin Widerspruch einlegte. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Dagegen legte die Klägerin Beschwerde ein ( L 8 SO 54/06 ER). Nach einem Hinweis des Landessozialgerichtes Niedersachsen - Bremen erklärte sich der Beklagte am 14. Juli 2006 bereit, vorläufig auch die Kosten der Katheterisierung im Wohnheim der Beigeladenen zu 1 zu übernehmen. Der Beklagte setzte dies mit Bescheid vom 11. August 2006 um und gab ein entsprechendes Kostenanerkenntnis ab.

16

Der Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 11. August 2006 zurück und begründete dies im Wesentlichen folgendermaßen:

17

Die Katheterisierung sei bei der HMB - Einstufung berücksichtigt worden und die Klägerin in die Hilfebedarfgruppe 4 eingestuft worden. Die Pflegemaßnahme der Katheterisierung sei von der Beigeladenen zu 1 zu erbringen, weil diese Maßnahme der Behandlungspflege Bestandteil der Leistungs- und Vergütungsvereinbarung mit dem Land R. und daher abgegolten sei. Allein das Nichtvorhalten des notwendigen Personals könne kein Grund zur Weigerung sein.

18

Dagegen hat die Klägerin am 11. September 2006 Klage erhoben.

19

Die Klägerin trägt vor:

20

Der Beklagte habe die Kosten der Katheterisierung vollumfänglich zu übernehmen. Dies habe entweder im Rahmen der Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII oder im Rahmen der Eingliederungshilfe zu geschehen. Zu diesem Ergebnis sei auch das Bundessozialgericht in einem ähnlich gelagerten Fall gelangt (Urteil vom 01. September 2005, - B 3 KR 19/04 R -).

21

Der Beigeladene zu 1.) sei dazu aus der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung von 2004 nicht verpflichtet, weil diese nicht die medizinische Behandlungspflege umfasse. Heime der Behindertenhilfe müssten gemäß § 71 SGB XI kein eigenes Pflegepersonal vorhalten. Eine solche Verpflichtung ergebe sich auch nicht aus § 55 Satz 1 SGB XII. Ein Wechsel der Einrichtung sei nur dann notwendig, wenn allein die Pflege im Vordergrund stehe. Dies sei hier nicht der Fall, weil die Klägerin in erster Linie einen Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe habe.

22

Auch die Beigeladene zu 2.) sei nicht zuständig, weil nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichtes Behandlungspflege durch die Pflegekasse nur in häuslicher Umgebung, nicht aber in einer stationären Einrichtung zu erbringen sei.

23

Es handele sich bei der Katheterisierung vielmehr um eine zusätzliche Maßnahme, die durch einen externen Pflegedienst erbracht werden müsse.

24

Im Übrigen ergebe sich aus dem HMB-Wohnen-Bogen, dass Maßnahmen der Behandlungspflege nicht mit umfasst seien. Die Wertigkeit der speziellen pflegerischen Erfordernisse mit 4 Punkten sei in Relation zu den 33 Items gering, was gegen eine Einbeziehung der Behandlungspflege unter diesem Item spreche. Bestätigt werde diese Ansicht durch ein Schreiben von Dr. Metzler vom 27. Februar 2006 (Blatt 106 der Gerichtsakte), in dem diese darauf hinweist, dass nicht der gesamte potenzielle Bedarf durch den HMB-Wohnen-Bogen erfasst werde, sondern sich die Bewertung auf den Bereich Wohnen beschränke.

25

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Mai 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 zu verpflichten, die vollen Kosten der Blasenkatheterisierung der Klägerin sowohl in den Räumen der Fördergruppe der Werkstatt für behinderte Menschen als auch im Wohnheim Rabenstraße der Beigeladenen zu 1) zu übernehmen.

26

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

27

Die Beigeladene zu 1.) und die Beigeladene zu 2.) stellen keine Anträge.

28

Der Beklagte trägt vor:

29

Es bestehe kein Anspruch gegen ihn aus § 48 SGB XII, weil die Klägerin krankenversichert sei. Auch aus §§ 53, 54 SGB XII ergibt sich kein Anspruch auf Kostenübernahme, weil dieser Anspruch vollumfänglich durch das Kostenanerkenntnis vom 2. Februar 2006 abgedeckt sei. Durch diesen Bescheid seien auch die Kosten der Blasenkatheterisierung umfasst gewesen. Dies ergebe sich auch aus § 55 Abs. 1 SGB XII. Die medizinische Behandlungspflege sei in der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung von 2004 mit umfasst worden, und zwar unter dem Punkt spezielle pflegerische Erfordernisse. Die Katheterisierung sei gerade mit der Maximalpunktzahl 4 berücksichtigt worden.

30

Im Übrigen habe die Beigeladene zu 1.) genaue Kenntnis von der Behinderung der Antragstellerin gehabt.

31

Für den Fall, dass in der Einrichtung die Pflege nicht sicher gestellt sei, greife § 55 Satz 2 SGB XII, so dass die Klägerin in einer anderen, geeigneten Einrichtung unter zu bringen sei.

32

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

33

Die zulässige Klage ist begründet und hat Erfolg.

34

Der Bescheid des Beklagten vom 16. Mai 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten.

35

Der Beklagte ist zur Übernahme der Kosten der viermaligen täglichen Blasenkatheterisierung verpflichtet. Dies ergibt sich aus §§ 53, 54 SGB XII in Verbindung mit § 55 Absatz 1 SGB IX. § 48 SGB XII ist hier entgegen der Rechtsansicht der Klägerin nicht anwendbar, weil die Klägerin zum einen statusversichert ist. Zum anderen gilt über § 52 SGB XII auch § 37 SGB V, so dass häusliche Krankenpflege ausgeschlossen ist weil die Klägerin im Behindertenheim über keinen eigenen Haushalt verfügt und vollstationär untergebracht ist.

36

Die Klägerin ist wesentlich behindert im Sinne von § 2 SGB IX.

37

Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe gegenüber dem Beklagten als Sozialhilfeträger, der auch die Blasenkatheterisierung als Maßnahme der Behandlungspflege mit umfasst, besteht, weil kein anderer Leistungsträger vorrangig verpflichtet ist.

38

Die Klägerin hat keinen Anspruch gegenüber der Beigeladenen zu 2 als Krankenkasse gemäß § 37 Absatz 1 SGB V, weil es sich bei der konkreten Maßnahme der Blasenkatheterisierung nicht um häusliche Krankenpflege handelt. Denn die Klägerin befindet sich stationär in einem Heim der Behindertenhilfe, was eine Leistungserbringung im häuslichen Umfeld ausschließt (Urteil des Bundessozialgerichtes vom 21. November 2002, - B 3 KR 13/ 02 R -, BSGE 90, 143, 148 f.). Sie führt im Wohnheim der Lebenshilfe keinen eigenständigen Haushalt im Sinne der Anspruchsnorm.

39

Eine Kostentragungspflicht der Pflegekasse scheidet ebenfalls aus, weil mit den entsprechenden Leistungen der Pflegeaufwand der Klägerin abgegolten ist.

40

Eine Leistungspflicht des Beigeladenen zu 1 als Träger des Heimes der Behindertenhilfe ist ebenfalls nicht gegeben:

41

Die Kammer geht nicht davon aus, dass die Maßnahme der Blasenkatheterisierung als Behandlungspflege in der Leistungs-/ Prüfungs-/ und Vergütungsvereinbarung von 2004 nach § 75 Absatz 3 SGB XII mit umfasst war.

42

Grundlage der Bewertung des Hilfebedarfes bei den Einzelmaßnahmen ist der HMB-Wohnen-Bogen von Dr. Metzler (3.3.1). In diesem Bogen, der auf den Hilfebedarf in der individuellen Lebensgestaltung (Wohnen) ausgerichtet ist, werden folgenden 7 heterogenen Bereiche abgedeckt:

43

Alltägliche Lebensführung, individuelle Basisversorgung, Gestaltung sozialer Bezie-hungen, Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichem Leben, Kommunikation, emotionale und psychische Entwicklung sowie Gesundheitförderung und -erhaltung.

44

Es erscheint der Kammer als ausgeschlossen, dass sich innerhalb dieses Bogens sämtlicher Pflegebedarf, den ein Betroffener haben kann, realistisch abbilden ließe.

45

In diesem Zusammenhang ergibt sich dies bei einer Betrachtung der einzelnen Wertigkeiten der Items. Spezielle pflegerische Erfordernisse können maximal mit 4 Punkten bewertet werden. Der Einfluss dieses Wertes auf die gesamte Bewertung mit 33 anderen Items, die zwischen 0 und 8 Punkten bewertet werden können, ist marginal. Dr. Metzler weist in ihrem Schreiben vom 27. Februar 2006 darauf hin, dass mit dem Bogen nicht der gesamte Unterstützungsbedarf eines Behinderten erfasst sei. Der Bogen beziehe sich nur auf den Bereich Wohnen, wie sich auch durch die Überschrift des Bogens und die Typisierung der Leistung in der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung "Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung" ergibt. Den Ausführungen von Dr. Metzler ist zu entnehmen, dass behandlungspfle-gerische Maßnahmen im engeren Sinne nicht erfasst sein sollen und diese vielmehr gesondert festzustellen seien.

46

Aus alledem folgt, dass nur der Beklagte als Leistungsträger in Beachtung des Nachrangigkeitsprinzipes verbleibt:

47

Nach dem Urteil des BSG vom 01. September 2005 (aaO.) bestehen zwei Möglichkeiten der Leitungserbringung, und zwar zum einen, indem das Heim selbst Pflegekräfte einstellt, deren Kosten dann über eine entsprechend abzuschließende Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung gemäß §§ 75 ff. SGB XII im Rahmen der Eingliederungshilfe zu erbringen wären.

48

Zum anderen kann der Beklagte seiner Leistungspflicht genügen, in dem im Rahmen von §§ 53, 54 SGB XII Leistungen erbringt bzw. darüber die Kosten des ambulanten Pflegedienstes deckt.

49

Die Leistungspflicht des Beklagten ist nicht durch die Tatsache ausgeschlossen, dass bei der Klägerin Maßnahmen der Behandlungspflege mit solchen der Grundpflege zusammen fallen. Dies hätte im Übrigen nur dann Auswirkungen, wenn der Beklagte Hilfe zur Pflege gemäß § 61 SGB XII leisten würde. Bei Leistungen der Eingliederungshilfe ist dies wegen § 13 Absatz 3 Satz 3 SGB XI unerheblich.

50

Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ergibt sich somit letztlich, dass § 40 a BSHG bzw. § 55 SGB XII im Bereich der Behandlungspflege keine Anwendung findet.

51

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG analog.