Sozialgericht Lüneburg
v. 19.04.2006, Az.: S 25 AS 773/05
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 19.04.2006
- Aktenzeichen
- S 25 AS 773/05
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2006, 53215
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Tenor:
Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheides vom 11. Juli 2005 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 28. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2005 verpflichtet, der Klägerin Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) in gesetzlicher Höhe ohne Anrechnung ihres Existenzgründungszuschusses als Einkommen zu bewilligen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im Kern um die Berücksichtigung des der Klägerin zugewandten Existenzgründungszuschusses als laufendes Einkommen aus Selbstständigkeit.
Die Klägerin bezieht laufend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II). Mit Bescheid vom 11. Juli 2005 bewilligte die Beklagte für den Zeitraum vom 1. August 2005 bis 31. Januar 2006 Leistungen in Höhe von monatlich 267,00 €. Hierbei berücksichtigte sie neben den - im Hauptsachverfahren - nicht mehr streitgegenständlichen Unterkunftskosten laufendes Einkommen aus Selbstständigkeit in Höhe von 480,- €. Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 3. August 2005 Widerspruch und beantragte mit Schriftsatz vom 24. August 2005 bei dem erkennenden Gericht die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Das Gericht verpflichtete die Beklagte der Klägerin ab dem 24. August 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ohne Anrechnung des gewährten Existenzgründungszuschusses zu gewähren (Beschluss vom 30. August 2005, - S 25 AS 493/05 ER -). Die von der Beklagten eingelegten Beschwerde zum Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (Az.: L 7 AS 304/05 ER) wurde zurückgenommen. Mit Änderungsbescheid vom 28. Oktober 2005 bewilligte die Beklagte der Klägerin für den Zeitraum vom 1. August 2005 bis 30. September 2005 273,90 € und für den Zeitraum vom 1. Oktober 2005 bis 31. Januar 2006 513,90 €. Hierbei berücksichtigte sie für den erstgenannten Zeitraum Einkommen in Höhe von 600,- € sowie für den Zeitraum vom 1. Oktober 2005 bis 31. Januar 2006 ein Einkommen in Höhe von 360,- €. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 31. Oktober 2005 bewilligte die Beklagte der Klägerin in Ausführung des Beschlusses des Sozialgerichtes Lüneburg vom 30. August 2005 Leistungen für den Zeitraum vom 1. August 2005 bis 31. Januar 2006 in Höhe von insgesamt 765,90 €. Der Existenzgründungszuschuss ist dabei nicht berücksichtigt worden. Ferner heißt es in dem Bescheid: "Die Leistungen erfolgen unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Fall einer anders lautenden Entscheidung im Beschwerde- oder Hauptsacheverfahren.
Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2005 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 11. Juli 2005 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 28. Oktober 2005 zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Existenzgründungszuschuss sei als Einkommen nach § 11 SGB II zu berücksichtigen. Es handele sich nicht um zweckbestimmte Einnahmen im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 1 a SGB II, die bei der Anrechnung als Einkommen unberücksichtigt bleiben müssten. Ferner stützt sie sich auf den Zweck der Regelung des § 421 I Abs. 1 SGB III und auf die Begründung zum Gesetzesentwurf. Im Übrigen werde Überbrückungsgeld im Sinne des § 57 SGB III zur Sicherung des Lebensunterhaltes gewährt, nichts anderes gelte dann für den Existenzgründerzuschuss. Es sei jedenfalls Intension des Gesetzgebers gewesen, eine Lohnersatzleistung zu schaffen, die zum Lebensunterhalt einzusetzen sei. Vom Einkommen aus dem Existenzgründerzuschuss seien jedoch die 30,- € Pauschale für Versicherungen und die Beiträge zur Rentenversicherung von 78,- € abzuziehen, dies ergebe die Einkommensbereinigung von 108,- €.
Mit Schriftsatz vom 10. November 2005 erhob die Klägerin am 22. November 2005 Klage bei dem Sozialgericht Lüneburg. Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen im Beschluss des erkennenden Gerichts vom 30. August 2005.
Sie beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen (sinngemäß),
die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 11. Juli 2005 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 28. Oktober 2005 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2005 aufzuheben und der Klägerin Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung ihres Existenzgründerzuschusses als Einkommen zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf die Begründung in ihrem Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2005.
Den Beteiligten wurde schließlich durch Verfügung vom 03. März 2006 Gelegenheit gegeben, zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid Stellung zu nehmen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der genannten Gerichtsakte des Eilverfahrens sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren, ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht kann über den Rechtsstreit gemäß § 105 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten auf Anfrage keine Gründe vorgetragen haben, die einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid entgegen stehen würden.
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Zu der Frage, ob der Existenzgründerzuschuss Einkommen, dass auf den allgemeinen Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes anzurechnen ist, darstellt, hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen im genannten Beschluss vom 23. Juni 2005 folgendes ausgeführt:
"Der Existenzgründungszuschuss nach § 421 I Abs. 1 SGB III ist eine zweckbestimmte Einnahme des § 11 Abs. 3 Nr. 1a SGB II. Er darf dem gemäß bei der Bedarfsberechnung zu Lasten der Antragsteller nicht berücksichtigt werden. Der Existenzgründungszuschuss dient nicht der Sicherung des Lebensunterhalts wie die Leistungen des ALG II, sondern anderen Zwecken.
Nach § 421 I Abs. 1 SGB III haben Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbstständigen (hauptberuflichen) Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden, Anspruch auf einen monatlichen Existenzgründungszuschuss. Der Zuschuss wird geleistet, wenn der Existenzgründer (Nr. 1) in einem engen Zusammenhang mit der Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III bezogen oder eine Beschäftigung ausgeübt hat, die als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nach dem SGB III gefördert worden ist, (Nr. 2) nach Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit Arbeitseinkommen nach § 15 des Vierten Buches erzielen wird, das voraussichtlich 25.000,00 EUR im Jahr nicht überschreiten wird. Der Zuschuss wird gemäß § 421 I Abs. 2 SGB III bis zu drei Jahre erbracht und wird jeweils längstens für ein Jahr bewilligt. Er beträgt im ersten Jahr nach Beendigung der Arbeitslosigkeit monatlich 600,00 EUR, im zweiten Jahr monatlich 360,00 EUR und im dritten Jahr monatlich 240,00 EUR. Die Vorschrift des § 421 I SGB III geht zurück auf Vorschläge der sog Hartz - Kommission zur "Ich - AG" bzw. "Familien - AG" (vgl. dazu Bericht der Hartz - Kommission in Soziale Sicherheit 2002, Seite 254, 259) und ist durch Art 1 Nr. 15 des Zweiten Gesetzes für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (vom 23. Dezember 2002, BGBl Seite 4621) in das SGB III eingeführt worden; nach Art 17 dieses Gesetzes trat die Vorschrift am 1. Januar 2003 in Kraft. Nach dem Bericht der Hartz - Kommission (aaO) und der Begründung des Gesetzesentwurfes maßgeblichen (Bundestagsdrucksache 15/26, Seite 19 dort § 421m) betrifft die Gewährung des Existenzgründungszuschusses einmal eine neue Form in der Bekämpfung von Schwarzarbeit, weil mittels der Aktivierung von Arbeitslosen im Wege des Existenzgründungszuschusses verhindert werden soll, dass Personen eine Lohnersatzleistung beziehen, welche potenziell den Charakter einer Subvention von Schwarzarbeit besitzt. Weiterhin bezweckt die Vorschrift des § 421 I SGB III (vgl. die vorgenannten Fundstellen) die Förderung einer selbstständigen Tätigkeit.
Doch ist der Existenzgründungszuschuss nicht darauf ausgerichtet, den Lebensunterhalt des Existenzgründers zu sichern. Dadurch unterscheidet sich die Regelung des § 421 I SGB III von der Vorschrift des § 57 SGB III, in welchem die Gewährung des Überbrückungsgeldes geregelt ist. Aus dieser Vorschrift ergibt sich der Gesetzeszweck auch der Sicherung des Lebensunterhaltes eindeutig aus der Vorschrift des § 57 Abs. 1 SGB III. Denn danach haben Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbstständigen (hauptberuflichen) Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden oder vermeiden, zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf Überbrückungsgeld. Diese ausdrückliche Nennung des Gesetzeszwecks Sicherung des Lebensunterhalts fehlt in § 421 I SGB III (vgl. zum vorstehenden: Voelzke in Hauck/Noftz, SGB III-Kommentar, K § 421e Rdnr. 7; Link in Eicher/Schlegel, Kommentar zum SGB III, Loseblattsammlung, Stand März 2005, § 57 Rdnrn. 1f; Marschner in Gemeinschaftskommentar zum SGB III, Loseblattsammlung, Stand Februar 2005, § 421 I Rdnrn. 3ff; Becker in Praxiskommentar - SGB III, § 421 I Rdnrn. 6f; Becker in Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, Seite 533, Rdnrn. 122f; - sämtliche Kommentatoren nehmen als Gesetzeszweck des Existenzgründungszuschusses nach § 421 I SGB III nicht die Sicherung des Lebensunterhalts an -).
Der Existenzgründungszuschuss dient daher neben dem o. g. Zweck der Bekämpfung der Schwarzarbeit weiterhin der sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung. Der Existenzgründer kann damit die anfallenden Sozialversicherungsbeiträge bezahlen. Die Rentenversicherungspflicht dieses Personenkreises ergibt sich aus § 2 Satz 1 Nr. 10 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI). Er wird weiterhin in die Lage versetzt, gegebenenfalls für seine (private) Krankenversicherung zu sorgen und eine zusätzlich private Altersvorsorge aufzubauen.
Diesen Zweck dient das ALG II nicht; vielmehr bestimmt § 19 Satz 1 Nr. 1 SGB II, dass das ALG II der Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung dient. Zwar sind ALG II-Bezieher rentenversicherungspflichtig, § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI. Die Beiträge trägt der Bund gemäß § 170 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI; es handelt sich damit nicht um eine Leistung nach dem SGB II, sondern um eine Leistung nach einem anderen Sozialgesetzbuch. Entsprechendes gilt für die gesetzliche Krankenversicherung (§§ 5 Abs. 1 Nr. 2a, 251 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V)) sowie die soziale Pflegeversicherung, §§ 20 Abs. 1 Nr. 2a, 59 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI)).
Der (Haupt-) Zweck des Existenzgründungszuschusses liegt schließlich darin, die selbständige Tätigkeit an sich, den Betrieb der Firma, sicherzustellen. Die Belastungen durch den Betrieb (Anschaffungen und Erhalt der Betriebsmittel) sollen durch den Existenzgründungszuschuss aufgefangen werden. Der Bestreitung des Lebensunterhalts dient das ALG II sowie etwa verbleibende Gewinne aus dem Betrieb.
Mithin dient der Existenzgründungszuschuss nach § 421 I SGB III nicht der Sicherung des Lebensunterhalts wie das von den Antragstellern bezogene ALG II, sondern den o. g. anderen Zwecken, nämlich der Bekämpfung der Schwarzarbeit, der sozialen Sicherung und den Erhalt des neu begründeten Betriebes.
Zugunsten der Antragsteller ist weiterhin zu bedenken, dass das SGB II - ebenso wie das SGB III - Leistungen zur Existenzgründung vorhält, und zwar in § 29 SGB II. Danach kann bei Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit ein Einstiegsgeld erbracht werden, wenn dies zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist (vgl. dazu Spellbrink, Das Einstiegsgeld nach § 29 SGB II - oder von den Aporien "moderner" Gesetzgebung, Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) 2005, 231). Das Einstiegsgeld wird gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 SGB II als Zuschuss zum ALG II erbracht. Auch aus § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II ergibt sich, dass Leistungen nach dem SGB II - also das Einstiegsgeld gemäß § 29 SGB II - nicht als Einkommen berücksichtigt werden. Erhielte der Antragsteller zu 2. das Einstiegsgeld nach § 29 SGB II, würde es bei der Bedarfsberechnung nicht nachteilig berücksichtigt werden. Es wäre daher ein unverständlicher Wertungswiderspruch, wenn die entsprechende Leistung nach § 421 I SGB III als Einkommen berücksichtigt würde." (vgl. in diesem Sinne auch jüngst Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16. Februar 2006, - L 8 AS 477/05 ER -).
Diese Ansicht, die auch vom Sozialgericht Köln (Beschluss vom 15. August 2005, - S 24 AS 95/05 ER -) und dem Sozialgericht Leipzig (Beschluss vom 22. August 2005, - S 16 AS 350/05 ER - sowie vom Sozialgericht Lüneburg (Beschluss vom 21. Oktober 2005, - S 30 AS 647/05 ER -) geteilt wird, macht sich auch die erkennende Kammer zu eigen. Dabei ist sich die Kammer dessen bewusst, dass - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - durchaus auch in der Rechtsprechung die Ansicht vertreten wird, der Existenzgründungszuschuss sei eine zweckidentische Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes und mithin auf Leistungen nach dem SGB II anzurechnen sei (vgl. Landessozialgericht Hessen, Beschluss vom 29. Juni 2005, - L 7 AS 22/05 ER -, Verwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 20. Juni 2005, - S 1 V 873/05 -, Sozialgericht Augsburg, Urteil vom 13. September 2005, - S 1 AS 292/05 -, Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. November 2005, - L 2 B 44/05 AS ER -). Auch ist der Kammer bekannt, dass das Sozialgericht Berlin zu einer vermittelnden Lösung neigt (Beschluss vom 24. August 2005, - S 37 AS 7101/05 ER -). Indessen meint die Kammer, bei dieser Lage zur Rechtserkenntnis aus praktischen Gründen nicht vom Judikat des zuständigen Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen abweichen zu wollen.
Der Klage war mit der kostenrechtlichen Nebenentscheidung aus § 193 Abs. 1 SGG stattzugeben. Denn es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Klägerin der Beklagten aufzuerlegen, da sie mit ihrem Begehren vollumfänglich durchgedrungen ist.