Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 03.04.2008, Az.: S 30 AS 508/08 ER

Anspruch auf Mehrbedarf nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) aufgrund einer Diabetes-mellitus-Erkrankung i.R.d. einstweiligen Anordnung

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
03.04.2008
Aktenzeichen
S 30 AS 508/08 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 34629
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2008:0403.S30AS508.08ER.0A

Tenor:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückzahlung verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 4,20 EUR monatlich zu zahlen.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

1

Die Antragstellerin lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Großvater in einem Haus, das im Eigentum des Großvaters steht. Die Antragstellerin und ihre Mutter haben die Pflege und Versorgung des pflegebedürftigen Großvaters (Pflegestufe I) übernommen. Sie erhalten vom Großvater Pflegegeld in Höhe von 205,00 EUR. Die Leistungen, die die Antragstellerin und ihre Mutter für die Pflege des Großvaters erbringen, werden hierdurch nicht gedeckt, weswegen sie im Haus des Großvaters kostenfrei wohnen.

2

Die Antragstellerin stellte am 6. November 2007 einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II. Im Verlauf des Antragsverfahrens gab sie an, dass sie von ihrer Mutter Leistungen erhalte, nämlich Geldleistungen in Höhe von ca. 100,00 EUR bis 200,00 EUR monatlich, volle Verpflegung frei, Kleidung, Telefon, Krankenkasse, Auto und Versicherung, sowie Medikamente und Geld für Rechnungen. Die Antragstellerin reichte im Laufe des Antragsverfahrens auch einen Bescheid der Bundesagentur für Arbeit ein (Blatt 92 bis 94 der Verwaltungsakten), in dem ihrer Mutter Arbeitslosengeld nach dem SGB III in Höhe von 620,40 EUR monatlich bewilligt wird. Der Bescheid datiert vom 23. Oktober 2007.

3

Mit Bescheid vom 14. Dezember 2007 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin mit der Begründung ab, sie erhalte von ihren Angehörigen Sach- und Geldleistungen und sei daher nicht hilfebedürftig. Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin am 4. Januar 2008 Widerspruch bei der Antragsgegnerin ein. Diesen begründete sie damit, dass ihre Mutter sie zwar finanziell unterstütze, deren Einkünfte jedoch für zwei Personen nicht ausreichten. Gemeinsam lebten sie von 620,40 EUR, von denen Strom, Wasser, Kleidung, Lebensmittel, Krankenversicherung und Dinge des täglichen Bedarfs bezahlt würden. Des Weiteren leide sie an Diabetes und sei nicht mehr in der Lage, das Geld für die besondere Ernährungsweise und die Medikamente aufzubringen. Über den Widerspruch wurde bisher nicht entschieden.

4

II.

Der Antrag hat im tenorierten Umfang Erfolg.

5

Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vor-läufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszuges.

6

Voraussetzung für den Erlass der hier von der Antragstellerin begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG, mit der er die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II begehrt, ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch der Antragstellerin auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

7

Im vorliegenden Fall wurde ein Anordnungsanspruch in Höhe von 4,20 EUR monatlich glaubhaft gemacht.

8

Das Gericht geht davon aus, dass das Einkommen der Mutter der Antragstellerin monatlich 620,40 EUR beträgt, wie sich dies aus dem Bescheid der Agentur für Arbeit vom 23. Oktober 2007 ergibt und von der Antragstellerin in ihrem Widerspruch vom 4. Januar 2008 erneut vorgetragen wird. Die Höhe des Einkommens der Mutter ist daher im Eilverfahren hinreichend glaubhaft gemacht. Das an die Mutter der Antragstellerin weitergegebene Pflegegeld des Großvaters in Höhe von 205.- EUR monatlich ist nicht als Einkommen anzurechnen (Brühl in LPK-SGB II, Rd.-Nr. 63 zu § 11).

9

Die Antragstellerin und ihre Mutter bilden eine Bedarfsgemeinschaft. Bei der Berechnung der Bedürftigkeit der Antragstellerin ist das Einkommen der Mutter grundsätzlich anzurechnen. Hierbei ist für die Mutter von einem Regelsatz von 347,00 EUR monatlich auszugehen und für die Antragstellerin gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II von 80 vom Hundert der Regelleistung, hier also 277,60 EUR (80 Prozent des Regelsatzes in Höhe 347,00 EUR). Mutter und Tochter wohnen kostenfrei bei dem Großvater, so dass Kosten der Unterkunft augenscheinlich nicht anzusetzen sind. Der gesamte Bedarf für die Bedarfsgemeinschaft beträgt daher 624,60 EUR monatlich (347,00 EUR Regelsatz für die Mutter, 277,60 EUR Regelsatz für die Tochter). Von diesem Bedarf ist das Einkommen der Mutter der Antragstellerin in Höhe von 620,40 EUR abzuziehen. Es ergibt sich ein Anspruch in Höhe von 4,20 EUR monatlich.

10

Soweit die Antragstellerin die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwendiger Ernährung aufgrund von Diabetes mellitus geltend macht, wurde ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat mit Beschluss vom 26. Februar 2007 (Az.: L 6 AS 71/07 ER) entschieden wie folgt:

"Vorliegend ist bereits kein Anordnungsanspruch ersichtlich: Die von der Antragsgegnerin vorgelegten schriftlichen Unterlagen, die in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Ärztin Dr C. stehen, lassen nicht erkennen, dass bei einer Diabetes Mellitus-Erkrankung - gleich welchen Typs - wie auch bei einer Hyperurikämie und einer Hyperlipidämie eine besondere Diät oder Ernährung notwendig ist, die einen erhöhten finanziellen Aufwand erfordert. Der Senat schließt sich dem aktuellen medizinisch-ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisstand an, der in dem Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner u.a. (www.daem.de) abgedruckt in: Aktuel Ernaehr MdE 2004, S. 245 ff) sowie den Ernährungsempfehlungen für Diabetiker der Diabetes-Gesellschaft Deutschland (www.diabetes-deutschland.de) und der Stellungnahme des Ausschusses Ernährung der Deutschen Diabetologischen Gesellschaft dargestellt ist (so auch SG Lüneburg Urteil vom 29. August 2006, - S 25 AS 55/06-; SG Dresden , Beschluss vom 30. August 2006, - S 23 AS 1372/06 ER - jeweils m.w.N.w).

Zwar wird in der Kommentierung zu § 21 Abs. 5 SGB II eine Diabeteskost bzw. lipidsenkende und purinreduzierte Kost und ein damit verbundener erhöhter Mehrbedarf bejaht. Diese Einschätzung beruht auf den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge aus dem Jahre 1997, dem sich in der Folgezeit Gerichte angeschlossen haben (ua Landessozialgericht Sachsen , Beschluss vom 26. Januar 2006, - L 3 B 299/05 AS-ER sowie LSG Niedersachsen-Bremen vom 27. Oktober 2006, a.a.O.). Inzwischen gibt es aber - neben den oben bereits ausgeführten - Stellungnahmen namhafter Einrichtungen, die diese Einschätzung nicht mehr teilen und erhebliche Zweifel daran wecken, dass die Empfehlungen des Deutschen Vereins unverändert zutreffen. So wird in dem "Rationalisierungsschema 2004" ausdrücklich festgestellt, dass es nach der "heute deutlich vorherrschenden Überzeugung" eine eigentliche Diabetes- und Dyslipoproteinämiekost nicht mehr gibt. Stattdessen wird bei den bei dem Antragsteller bestehenden Gesundheitsstörungen - insbesondere auch bei Diabetes - eine Vollkost empfohlen, die sich in ihrer Zusammensetzung nicht von der im Rahmen der Primärprävention zur Gesunderhaltung empfohlenen Ernährungsweise unterscheidet. Auch der Ausschuss Ernährung der Deutschen Diabetologischen Gesellschaft (DGG, Stellungnahme vom 01. Oktober 2004; www.fkdb.pconnet.net ) vertritt die Auffassung, dass bei Diabetes mellitus keine Mehrkosten für Ernährung entstünden. Es sei von allen nationalen und internationalen Diabetes-Fachgesellschaften akzeptiert, dass es keine Nahrungsmittel gebe, die für die Ernährung von Diabetikern besonders vorteilhaft seien, weswegen die Ernährung mit denselben kostenneutralen Lebensmitteln erfolgen könne wie bei Nicht-Diabetikern. In den Ernährungsempfehlungen für Diabetiker 2001 (www.diabetes-deutschland.de) der DDG heißt es ebenfalls, für eine Empfehlung zum Verzehr spezieller Diabetikerprodukte oder Diätprodukte für Diabetiker finde sich keine Begründung. Nach diesen Stellungnahmen hat sich die wissenschaftliche Auffassung bezüglich der bei Diabetes und auch der Hyperurikämie und der Hyperlipidämie erforderlichen Diät in den letzten Jahren entscheidend geändert. Während früher die Auffassung vertreten wurde, dass ein Diabetiker besondere Nahrungsmittel mit so genannten "Zuckeraustauschstoffen" benötige, sind heute die führenden Diabetologen übereinstimmend der Meinung, dass eine ausgewogene Mischkost sowie die Einhaltung eines normalen Körpergewichts die besten Voraussetzungen bieten, eine optimale Blutzuckereinstellung mit oder ohne Medikamente zu erreichen und vor allem Spätkomplikationen und Folgeerkrankungen des Diabetes mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vermeiden. Die für den Diabetes mellitus wissenschaftlich empfohlene Diät entspricht nach dem Rationalisierungsschema 2004 und den Ernährungsempfehlungen für Diabetiker 2001 der allgemein für eine gesunde Ernährung empfohlenen ausgewogenen Mischkost (=Vollkost), die ohne Einschränkung alle Nahrungsbestandteile in einem ausgewogenen Verhältnis enthält. Eine solche Vollkosternährung sollte jeder gesundheits- und ernährungsbewusste Mensch zu sich nehmen. Hiervon geht nach der vom Senat eingeholten telefonischen Auskunft vom 13. Februar 2007 inzwischen auch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge aus, der sich ebenfalls dem Rationalisierungsschema 2004 anschließt und eine spezielle Diabeteskost nicht mehr für erforderlich hält. Auch aus diesem Grunde hat sich der Senat diesen aktuellen Stellungnahmen namhafter Einrichtungen und Verbänden angeschlossen. Sie beruhen auf der Einschätzung einer Vielzahl von Medizinern und Ernährungswissenschaftlern, und Dr C. hat diese Grundsätze auch hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Antragstellers für anwendbar erachtet. Demgegenüber lag der Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 27. Oktober 2006, a.a.O. der Begutachtungsleitfaden zu dem Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kosten-aufwändiger Ernährung des Arbeitsausschusses der Sozialdezernenten D. zugrunde, der auf der Einschätzung nur von Medizinern, nicht aber auch von Ernährungswissenschaftlern beruht."

11

Dieser Rechtsprechung sind auch die übrigen Senate des Landessozialgerichtes gefolgt. Auch das erkennende Gericht folgt dieser Rechtsprechung. Das Vorliegen einer Diabetes mellitusErkrankung - gleich welchen Typs - führt daher nicht zu einem Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II.

12

Ein Anordnungsgrund ist gegeben. Zwar ist der Anspruch auf Zahlung von 4,20 EUR monatlich so gering, dass der Anordnungsgrund, also die Eilbedürftigkeit, zweifelhaft sein könnte. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin, wenn sie im Bezug von Arbeitslosengeld II steht, gesetzlich in der Kranken- und Rentenversicherung versichert ist und ihre Mutter die hierfür notwendigen Beträge (insbesondere für die Krankenversicherung) von ihrem Einkommen nicht mehr aufbringen muss. Da die monatlichen Versicherungsbeiträge üblicherweise eine erhebliche Höhe erreichen, auch wenn die genaue Höhe im vorliegenden Fall nicht angegeben wurde, ist davon auszugehen, dass mit dem Wegfall der Ausgaben hierfür ein letztlich doch erheblicher finanzieller Vorteil für die Bedarfsgemeinschaft verbunden ist, der es rechtfertigt, vom Bestehen eines Anordnungsgrundes auszugehen.

13

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

14

Der Beschluss ist gemäß §§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 SGG unanfechtbar, da der Beschwerdewert nicht 750.- EUR übersteigt.