Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.06.2010, Az.: 8 ME 159/10

Aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung hinsichtlich des Schutzes von Ehe und Familie für die Vaterschaft des Ausländers eines ungeborenen Kindes einer deutschen Staatsangehörigen; Zwangsweise Beendigung des Aufenthalts eines Ausreisepflichtigen als Verletzung der Rechtspositionen der zurückbleibenden Mutter oder des ungeborenen Kindes; Zwingendes rechtliches Ausreisehindernis im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.06.2010
Aktenzeichen
8 ME 159/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 24177
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0629.8ME159.10.0A

Fundstelle

  • FamRZ 2010, 1600

Amtlicher Leitsatz

Eine Vaterschaft des Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen Staatsangehörigen entfaltet für sich genommen keine aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen in Ansehung des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG. Nur wenn sich aus besonderen Umständen des Einzelfalles ergibt, dass die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts des Ausreisepflichtigen eine Verletzung der Rechtspositionen der zurückbleibenden Mutter oder des ungeborenen Kindes, insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG, konkret befürchten lässt, folgt hieraus zugunsten des Betroffenen ein zwingendes rechtliches Ausreisehindernis.

Gründe

1

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.

2

Die Beschwerde der Antragstellerin zu 3. ist bereits unzulässig. Denn diese ist schon nicht beteiligtenfähig im Sinne des § 61 Nr. 1 VwGO. Die Leibesfrucht ist nur insoweit fähig, am verwaltungsgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein, als sie in entsprechender Anwendung der Grundsätze des bürgerlichen Rechts als rechtsfähig behandelt werden kann oder ihr nach öffentlichem Recht eigene Rechte zustehen können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 5.2.1992 - 7 B 13/92 -, NJW 1992, 1524). Daran fehlt es hier. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, welche eigenen Rechte dem gemeinsamen ungeborenen Kind der Antragsteller bezogen auf den diesem Verfahren zugrunde liegenden Streitgegenstand zustehen und dem Antragsteller zu 1. einen Anspruch auf Aussetzung seiner Abschiebung vermitteln könnten.

3

Im Übrigen ist die Beschwerde zulässig, aber unbegründet. Aus den von den Antragstellern im Beschwerdeverfahren angeführten und vom Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfenden Gründen ergibt sich nicht, dass ihnen ein nach § 123 VwGO sicherungsfähiger Anspruch auf Erteilung einer Duldung des Antragstellers zu 1. für die Dauer der Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2. bzw. bis zur Geburt der Antragstellerin zu 3. zusteht.

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Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange diese aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Eine rechtliche Unmöglichkeit in diesem Sinne kann sich auch aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind.

5

Nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers dann entgegen stehen, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.6.1997 - 1 C. 9.95 -, BVerwGE 105, 35, 39 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 20.5.2009 - 11 ME 110/09 -, [...] Rn. 10 m.w.N.). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1, 42). Eine Vaterschaft des Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen Staatsangehörigen entfaltet für sich genommen aber noch keine aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen in Ansehung des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG. Nur wenn sich aus besonderen Umständen des Einzelfalles ergibt, dass die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts des Ausreisepflichtigen eine Verletzung der Rechtspositionen der zurückbleibenden Mutter oder des ungeborenen Kindes, insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG, konkret befürchten lässt, folgt hieraus zugunsten des Betroffenen ein zwingendes rechtliches Ausreisehindernis. Bestehen solche besonderen Umstände hingegen nicht, ist es dem Ausländer regelmäßig zuzumuten, eine beabsichtigte Herstellung der Lebensgemeinschaft mit dem noch nicht geborenen Kind vom Heimatland aus zu betreiben (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 15.9.2008 - 10 ME 328/08 -, [...] Rn. 11; OVG Saarland, Beschl. v. 24.4.2008 - 2 B 199/08 -, [...] Rn. 23; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 15.4.2008 - 2 M 84/08 -, [...] Rn. 3; Bayerischer VGH, Beschl. v. 1.2.2006 - 24 CE 06.265 -, [...] Rn. 34 f.; weniger restriktiv Sächsisches OVG, Beschl. v. 2.10.2009 - 3 B 482/09 -, [...] Rn. 5 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 30.3.2009 - 12 S 28.09 -, [...] Rn. 5; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 14.8.2008 - 4 Bs 84/08 -, [...] Rn. 5 ff.).

6

Hieran gemessen stehen die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2. und die voraussichtlich im September 2010 bevorstehende Geburt der gemeinsamen Tochter der Antragsteller der Abschiebung des Antragstellers zu 1. nicht entgegen. Die Antragsteller haben weder dargetan noch in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin zu 2. und das erwartete gemeinsame Kind in besonderer Weise auf die Hilfe des Antragstellers zu 1. angewiesen sind oder durch dessen Abschiebung eine Verletzung ihrer Rechte konkret zu befürchten ist. Es handelt sich offenbar um keine Risikoschwangerschaft. Die Antragstellerin zu 2. hat zwar durch ihre eidesstattlichen Versicherungen vom 20. und 24. Juni 2010 und ein ärztliches Attest vom 21. Juni 2010 glaubhaft gemacht, durch Hilfeleistungen des Antragstellers zu 1. unterstützt zu werden und sich aufgrund der bevorstehenden Abschiebung in einer psychischen Stresssituation zu befinden. Dass die Abschiebung des Antragstellers zu 1. eine konkrete Gefährdung der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes mit sich bringt, ergibt sich aus diesem Vorbringen indes nicht. Hierfür ist auch sonst nichts ersichtlich.

7

Es bestehen bereits erhebliche Zweifel, ob zwischen der Antragstellerin zu 2. und dem Antragsteller zu 1. vor dessen Inhaftierung am 16. Juni 2010 tatsächlich eine familiäre Lebensgemeinschaft und damit Verhältnisse bestanden haben, die eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes als sicher erwarten lassen (vgl. hierzu Sächsisches OVG, Beschl. v. 2.10.2009 - 3 B 482/09 -, [...] Rn. 6). Das Bestehen einer solchen familiären Lebensgemeinschaft hat die Antragstellerin zu 2. zwar in ihren eidesstattlichen Versicherungen behauptet; sie konnte den Senat hiervon indes nicht mit der erforderlichen Gewissheit überzeugen. Entgegen den Ausführungen der Antragstellerin zu 2., wonach sie zumindest seit Mai 2010 mit dem Antragsteller zu 1. in ihrer neuen Wohnung zusammen lebten, hat der Antragsteller zu 1. nach den unwidersprochenen Darstellungen im Schriftsatz des Antragsgegners vom 21. Juni 2010 in der Haftanhörung vor dem Amtsgericht E. am 18. Juni 2010 ausgesagt, sich nicht durchgängig bei der Antragstellerin zu 2., sondern auch bei anderen Familienmitgliedern im Bundesgebiet und in der Schweiz, in Österreich oder in Frankreich aufgehalten zu haben. Dem entsprechen auch die Angaben der Antragstellerin zu 2. gegenüber der ARGE E., wonach ein Zusammenleben mit dem Antragsteller zu 1. aufgrund der derzeitigen Umstände nicht möglich sei und Treffen vorwiegend in Frankreich stattfänden. Die Antragstellerin zu 2. hat zwar versucht, diese Ausführungen als falsch hinzustellen, ohne hierfür aber eine plausible Erklärung geben zu können. Insbesondere der angegebene Grund, die Antragstellerin zu 2. habe eine Verhaftung des Antragstellers zu 1. befürchtet, erscheint vorgeschoben. Denn die Antragsteller zu 1. und 2. gingen offenbar selbst am 16. Juni 2010, als sie bei der Ausländerbehörde vorsprachen, nicht von einer Verhaftung aus.

8

Selbst wenn man allerdings entgegen den vorstehenden Ausführungen mit den Antragstellern letztlich eine nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Gemeinschaft bejahen würde, stünde der grundgesetzliche Schutz einer Abschiebung des Antragstellers zu 1. nicht entgegen. Denn der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG überlagert die öffentlichen Interessen nicht ausnahmslos (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682 f., und Beschl. v. 10.5.2008 - 2 BvR 588/08 -, [...], Rn. 11 ff. jeweils m.w.N.). Im Einzelfall können Belange der Bundesrepublik Deutschland das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte private Interesse des Ausländers an der Aufrechterhaltung der familiären Beistandsgemeinschaft überwiegen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Ausländer nicht nur gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen, sondern schwerwiegende Straftaten begangen hat und keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine grundlegende Verhaltensänderung des Ausländers gegeben sind. Für den Antragsteller günstige Umstände sind dabei etwa ein langes Zurückliegen der Straftat, eine geringe Wiederholungsgefahr und eine positive Sozialprognose. Auch das nachträgliche Entstehen einer von Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich geschützten Lebensgemeinschaft kann in der Lebensführung des Betroffenen einen Einschnitt bilden, der in Anbetracht aller Umstände erwarten lässt, dass er bei einem legalisierten Aufenthalt keine weiteren Straftaten mehr begehen wird. Andernfalls, d.h. etwa bei einer fortbestehenden Gefahr der Begehung erneuter schwerwiegender Straftaten, tritt das private Interesse des Ausländers an der Aufrechterhaltung der familiären Beistandsgemeinschaft jedenfalls bis zu einer dem Betroffenen günstigen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 Abs. 3 AufenthG regelmäßig hinter die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit zurück (vgl. Senatsbeschl. v. 8.12.2009 - 8 ME 169/09 -).

9

Hieran gemessen steht der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG der Abschiebung des Antragstellers nicht entgegen. Der Antragsteller zu 1. ist im September 2006 unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung wegen gemeinschaftlichen Diebstahls und versuchter Nötigung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von 8 Monaten unter Anrechnung erlittener Untersuchungshaft verurteilt worden. Allein deren Bezeichnung als lässliche "Jugendsünde" begründet Zweifel an der Einsichtsfähigkeit des Antragstellers zu 1. und dessen Willen, sich zukünftig rechstreu zu verhalten. Hinzu kommt, dass der Antragsteller zu 1. auch nach der Verurteilung über einen längeren Zeitraum in erheblicher Weise strafrechtlich in Erscheinung getreten. So werden gegen ihn Ermittlungsverfahren wegen des Tatverdachts der Unterschlagung (Tatzeit: 2. August 2008), des Besitzes von Betäubungsmitteln (Tatzeit: 6. September 2008), der gefährlichen Körperverletzung an sonstigen Tatörtlichkeiten (Tatzeit: 30. August 2008), der gefährlichen Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen (Tatzeit: 15. April 2009) und der Körperverletzung (Tatzeit: 19. April 2009) geführt. Hinzu kommt die nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbare unerlaubte Einreise des Antragstellers zu 1. in das Bundesgebiet im Laufe des Jahres 2009, mit der er nach der vorausgehenden Abschiebung erneut dokumentiert hat, sich nicht rechtsreu verhalten zu wollen. Der Berücksichtigung dieser Tatvorwürfe bei der zu treffenden Prognose einer Gefahr der Begehung erneuter schwerwiegender Straftaten steht die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht entgegen. Abgesehen davon, dass der Antragsteller zu 1. diesen Vorwürfen nicht entgegen getreten ist, ist mit der hier zu treffenden Gefahrenprognose weder ein strafrechtlicher Schuldvorwurf noch eine strafrechtliche Sanktion im Sinne eines sozialethischen Unwerturteils verbunden (vgl. Senatsbeschl. v. 4.5.2010 - 8 LA 56/10 -; und zur Ausweisung: BVerwG, Urt. v. 1.12.1987 - 1 C 29/85 -, [...] Rn. 13). Der Senat kann dem Vorbringen des Antragstellers zu 1. auch keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die familiäre Gemeinschaft mit der werdenden Mutter und dem erwarteten gemeinsamen Kind einen Einschnitt in der Lebensführung des Antragstellers zu 1. bildet, der in Anbetracht der übrigen Umstände erwarten lässt, er werde bei einem legalisierten Aufenthalt keine weiteren Straftaten mehr begehen, zumal hier erhebliche Zweifel daran bestehen, ob der Antragsteller zu 1. und die Antragstellerin zu 2. überhaupt eine familiäre Lebensgemeinschaft führen.