Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.01.2011, Az.: 4 LB 154/10
Erfordernis eines neuen Antrags auf Kostenübernahme gegenüber einem Jugendhilfeträger bei Beendigung und späterem Neubeginn statt kurzzeitiger Unterbrechung einer Therapie; Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachlage und Rechtslage für die Feststellung des Bestehens einer seelischen Behinderung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 19.01.2011
- Aktenzeichen
- 4 LB 154/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 11063
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0119.4LB154.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - 28.05.2009 - AZ: 3 A 18/08
Rechtsgrundlage
- § 35a SGB VIII
Fundstelle
- ZfF 2012, 21
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Wird eine Therapie, für die bei dem Träger der Jugendhilfe ein Kostenübernahmeantrag gestellt worden ist, nicht nur für kurze Zeit unterbrochen, sondern beendet und soll die Therapie später erneut begonnen werden, bedarf es eines neuen Antrags auf Kostenübernahme bei dem Jugendhilfeträger.
- 2.
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage und damit auch für die Feststellung des Bestehens einer seelischen Behinderung ist regelmäßig der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt die Übernahme von Kosten einer Dyskalkulietherapie im Rahmen der Jugendhilfe.
Die 1999 geborene Klägerin leidet unter einer Rechenschwäche (Dyskalkulie). Sie besuchte ab Herbst 2005 die Grundschule C.. Dort nahm sie an dem Förderunterricht im Fach Mathematik teil. Im April 2007 begann sie bei der Kinderheimat D., einer pädagogischen Einrichtung für Kinder, junge Menschen und Familien, eine Dyskalkulietherapie, die sie Ende August 2008 beendete.
Unter dem 10. Mai 2007 beantragte die Mutter der Klägerin für die Klägerin die Übernahme der Kosten der Dyskalkulietherapie bei dem Beklagten. Diesem Antrag waren Fotokopien der Zeugnisse der Klägerin beigefügt.
Nachdem die Mutter der Klägerin dem Beklagten ein fachärztliches Attest des Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Sozialpsychiatrie Dr. E. vom 22. Oktober 2007 vorgelegt hatte, erstellte der Beklagte am 3. Dezember 2007 einen Hilfeplan, der besagt, dass eine seelische Behinderung der Klägerin nicht vorliege, weil eine Beeinträchtigung der Teilhabe an der Gesellschaft über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten nicht gegeben sei.
Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 20. Dezember 2007 den Antrag auf Übernahme der Kosten der Dyskalkulietherapie mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nach § 35 a SGB VIII nicht gegeben seien, weil eine seelische Behinderung der Klägerin nicht habe festgestellt werden können.
Die Klägerin hat daraufhin am 21. Januar 2008 Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen Folgendes geltend gemacht: Die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme lägen vor, weil sie einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII habe. Das fachärztliche Attest von Dr. E. vom 22. Oktober 2007 bestätige nicht nur das Vorliegen einer Dyskalkulie, sondern auch, dass emotionale Auffälligkeiten ihre Teilhabe an einem altersgerechten Leben beeinträchtigten. Im Übrigen zeigten sich neben einem reduzierten Selbstwertgefühl auch depressive Züge. Dr. E. habe deshalb die Durchführung einer integrativen Lerntherapie empfohlen. Sie erhalte für Mathematikarbeiten regelmäßig die Note ungenügend, obwohl sie sich sehr darum bemühe, ordentliche Arbeitsergebnisse zu erzielen. Wegen ihrer Zensuren werde sie immer wieder ausgelacht und angegriffen. Oft komme sie weinend nach Hause und leide nachts unter Albträumen. Seit der Stellung des Kostenübernahmeantrags habe sich die Situation erheblich verschlechtert. Früher habe sie noch einige Freunde und in der Klasse einen besseren Stand gehabt. Das habe sich jedoch deutlich geändert. Sie betreibe keinen Sport mehr, obwohl sie vorher geturnt und getanzt habe sowie geritten sei. Zum Sport habe sie keinen Antrieb mehr. Sie sitze häufig zu Hause und sei in sich gekehrt. Sie verlasse dann ihr Zimmer nicht mehr. Auch in der Schule leide sie unter ihrer Situation. Sie spreche nicht mehr mit den Lehrern und sei zur Außenseiterin geworden. Mittlerweile sei sie auch aus dem Schulchor ausgeschieden, in dem sie zuvor aktiv gewesen sei und sogar Soloparts übernommen habe. Das traue sie sich nicht mehr zu. Wegen ihrer schlechten Leistungen werde sie in der Schulgemeinschaft verstärkt ausgegrenzt. Auch bei Gruppenarbeiten der Klasse, wie z.B. bei Referaten, werde die Zusammenarbeit mit ihr nicht mehr gewünscht.
Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 20. Dezember 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die im Mai 2007 beantragte Bezuschussung für die Kosten der Dyskalkulietherapie zu bewilligen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen,
und die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung der Eingliederungshilfe nicht erfüllt seien, weil die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft weder bei Antragstellung beeinträchtigt gewesen sei noch heute beeinträchtigt sei.
Das Gericht hat zu der Frage, ob die Klägerin in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist, durch Vernehmung von Frau F. als Zeugin Beweis erhoben.
Danach hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 28. Mai 2009 den Beklagten verpflichtet, für sechs Monate die Kosten einer Dyskalkulietherapie bei der Kinderheimat Gifhorn oder einer vergleichbaren Einrichtung in Höhe von maximal 140,- EUR monatlich zu übernehmen, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Klage nur teilweise begründet sei. Die Klägerin habe zwar einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Dyskalkulietherapie in den nächsten sechs Monaten, könne einer Kostenübernahme für die Vergangenheit, d.h. für die Zeit bis zum 31. August 2008, jedoch nicht beanspruchen. Damals hätten die Voraussetzungen für die Gewährung einer Eingliederungshilfe nicht vorgelegen. Zwar habe Dr. E. eine seelische Störung im Sinne des§ 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII festgestellt. Eine seelische Behinderung im Sinne des § 35 a SGB VIII setze aber voraus, dass die Klägerin auch in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei. Diese Voraussetzung habe in der Vergangenheit nicht vorgelegen. Die fachärztliche Stellungnahme von Dr. E. enthalte zur Teilhabebeeinträchtigung keine substanziellen Ausführungen. Deshalb komme es auf die Feststellungen der fachpädagogischen Fachkräfte des Beklagten an. Diese seien nicht zu beanstanden. Daher gelange das Gericht für die Zeit bis Ende August 2008 zu dem Ergebnis, dass eine Teilhabebeeinträchtigung damals nicht vorgelegen habe und auch nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit gedroht habe. Anders stelle sich die Sachlage indessen heute dar. Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sei die Klägerin von einer seelischen Behinderung bedroht, weil aufgrund der Schilderungen der Mutter der Klägerin im Erörterungstermin und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen sei, dass ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft jetzt beeinträchtigt sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten, die der Senat durch Beschluss vom 28. Mai 2010 (4 LA 180/09) wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zugelassen hat.
Der Beklagte trägt zur Begründung der Berufung vor, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils bestünden. Die Prüfung, ob die Teilhabe eines Kindes am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei, obliege den Fachkräften des Jugendamtes. Eine solche fachliche Beurteilung habe der zuständige Bezirkssozialarbeiter G. vorgenommen. Das Ergebnis dieser Beurteilung sei, dass bei der Klägerin keine Teilhabebeeinträchtigung vorliege. Hieraus folge, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Eingliederungshilfe nicht erfüllt seien. Das Verwaltungsgericht sei dieser Auffassung für den Zeitraum bis Ende August 2008 gefolgt. Dass diese Beurteilung für die Zukunft nicht gelten solle, sei nicht nachvollziehbar. Das Verwaltungsgericht habe sich insoweit über die Beurteilung des fachkundigen Bezirkssozialarbeiters G. hinweggesetzt und sich nur auf die Zeugenaussage von Frau F. sowie die Angaben der Mutter der Klägerin im Erörterungstermin gestützt. Frau F. besitze aber nicht die erforderliche Qualifikation, eine drohende seelische Behinderung festzustellen. Weitergehende fachliche Informationen seien nicht eingeholt worden. Im Übrigen habe das Verwaltungsgericht auch verkannt, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung und nicht im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgebend sei.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 3. Kammer - vom 28. Mai 2009 zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt und sich zur Sache nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
II.
Die Berufung des Beklagten ist begründet.
Diese Entscheidung trifft der Senat nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a Satz 1 VwGO durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für begründet hält und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren nicht als erforderlich ansieht.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Unrecht verpflichtet, für sechs Monate die Kosten einer Dyskalkulietherapie bei der Kinderheimat D. oder einer vergleichbaren Einrichtung in Höhe von maximal 140,- EUR monatlich zu übernehmen.
Der Verpflichtung des Beklagten steht schon das Fehlen eines entsprechenden Kostenübernahmeantrags der Klägerin entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, setzen Leistungen der Jugendhilfe grundsätzlich eine vorherige Antragstellung bei dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraus (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.5.2008 - 5 B 130.07 -; BVerwG, Urt. v. 28.9.2000 - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98; BVerwG, Urt. v. 11.8.2005 - 5 C 18.04 -, BVerwGE 124, 83). Das gilt auch im vorliegenden Fall. Die Klägerin hat zwar - vertreten durch ihre Mutter - unter dem 10. Mai 2007 einen Antrag auf Übernahme der Kosten einer Dyskalkulietherapie nach § 35 a SGB VIII bei dem Beklagten gestellt. Dieser Antrag auf Gewährung von Jugendhilfe bezog sich aber lediglich auf die Therapiemaßnahme, die sie im April 2007 bei der Kinderheimat D. begonnen hatte und die am 31. August 2008 beendet worden ist. Die Klägerin hat im erstinstanzlichen Verfahren mit Schriftsatz vom 27. Juni 2008 vorgetragen, aus finanziellen Gründen gezwungen zu sein, die Therapiemaßnahme "zunächst abzubrechen". Mit Schriftsatz vom 21. April 2009 hat sie erklärt, dass die Therapiemaßnahme am 31. August 2008 geendet habe. Daher ist davon auszugehen, dass die Therapiemaßnahme am 31. August 2008 nicht nur kurzzeitig unterbrochen, sondern tatsächlich beendet worden ist. Wird eine Therapie, für die ein Kostenübernahmeantrag gestellt worden ist, aber nicht nur für kurze Zeit unterbrochen, sondern beendet und soll die Therapie später erneut begonnen werden, bedarf es eines neuen Antrags auf Kostenübernahme bei dem Jugendhilfeträger, weil die Behörde zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen für die Gewährung der Jugendhilfe aufgrund der nunmehr bestehenden Umstände vorliegen. Ein solcher Antrag ist nach der Beendigung der ersten Therapie am 31. August 2008 bei dem Beklagten indessen nicht gestellt worden. Daher hätte das Verwaltungsgericht den Beklagten nicht zu der Übernahme der Kosten für eine weitere sechsmonatige Dyskalkulietherapie verpflichten dürfen.
Abgesehen davon ist das erstinstanzliche Urteil, soweit der Klage stattgegeben worden ist, auch deshalb zu beanstanden, weil der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage und damit auch für die Feststellung des Bestehens einer seelischen Behinderung maßgebend ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Hilfeanspruch bei einem Rechtsstreit um die Gewährung von Jugendhilfe grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung. Eine Ausnahme von der Regel, dass Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung nur dieser Zeitraum ist, gilt nur dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zahlungszeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.6.1995 - 5 C 30.93 -, NVwZ-RR 1996, 510 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor, weil der angefochtene Bescheid keine Anhaltspunkte dafür bietet, dass der Beklagte die Hilfegewährung für einen längeren in die Zukunft reichenden Zeitraum abgelehnt hat. Daher hätte das Verwaltungsgericht, das das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Eingliederungshilfe im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ausdrücklich verneint hat, der Klage nicht mit der Begründung teilweise stattgeben dürfen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Eingliederungshilfe im Zeitpunkt seiner Entscheidung vorlägen.