Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 27.05.2014, Az.: 13 A 476/13

Vollzeitpflege für behinderten jungen Volljährigen

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
27.05.2014
Aktenzeichen
13 A 476/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 42626
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Einer Leistung nach §§ 41, 33 SGB VIII steht nicht entgegen, dass der körperlich und geistig behinderte junge Volljährige niemals zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung in der Lage sein wird.

Die Betreuung eines jungen Volljährigen im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII in einer Pflegefamilie sieht das SGB XII nicht vor.

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 21. Dezember 2012 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, die erforderlichen Aufwendungen für die von Frau  H. in der Zeit vom 28. Oktober 2012 bis zum 27. Mai 2014 geleistete Vollzeitpflege zu übernehmen und dem Kläger ab dem  28. Mai 2014 Hilfe für junge Volljährige in Form einer Vollzeitpflege zu gewähren.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Hilfe für junge Volljährige.

Der am 28. Oktober 1994 geborene Kläger leidet an einem Johanson-Blizzard-Syndrom und ist schwerbehindert (Minderwuchs, fehlende Nasenflügel, Hautdefekte am Kopf, unvollständige Anlagen für Zähne, eingeschränkte Sehfähigkeit, Schwerhörigkeit, Verzögerung der geistigen Gesamtentwicklung, Minderung der Bauchspeichelfunktion, Schilddrüsenfunktionsstörung, sauerstoffpflichtige Lungenfunktionsstörungen. Zu der daraus resultierenden allgemeinen Entwicklungsverzögerung kommen mangelnde Abwehrkräfte und hohe Anfälligkeit hinzu.)

Er lebte nach seiner Geburt zunächst in Fürstenau bei Osnabrück mit seinen leiblichen Eltern (damals Asylbewerber) zusammen. Im Frühjahr 1996 brachte der Landkreis Osnabrück ihn in der Pflegefamilie H. unter und leistete in der Folgezeit seinen Eltern Hilfe zur Erziehung in Form einer Vollzeitpflege. Die Pflegefamilie lebt in J. Nach längerem Schriftverkehr des Landkreises Osnabrück mit dem Beklagten erkannte letzterer im Sommer 2001 seine Zuständigkeit als Jugendhilfeträger an und führte die Hilfemaßnahme bis zur Volljährigkeit des Klägers am 28. Oktober 2012 fort.

Mit Schreiben vom 17. August 2012 beantragte die Pflegemutter des Klägers für diesen Hilfe für junge Volljährige nach §§ 41, 33 SGB VIII. Am 29. November 2012 fand das letzte Hilfeplangespräch beim Beklagten statt. In der Hilfeplanfortschreibung vom 5. Dezember 2012 heißt es u.a., dass der Kläger seit 2002 die Sonderschule G in N. besuche und am Vollzeitunterricht teilnehme. Er mache dort Fortschritte. Um die Sprech-, Sprach- und Stimmstörung positiv zu beeinflussen, erhalte er Logopädie und Ergotherapie in der Schule sowie Sprachtherapie zu Hause. Die Pflegemutter versuche, im Alltag fein- und grobmotorische unterstützende Angebote einzubringen und den Kläger zu fördern (er könne z.B. mit Messer und Gabel essen). Er sei grundsätzlich in der Lage, sich selbst zu wickeln, mache das allerdings nur in der Schule, aber nicht zu Hause. Er sei inzwischen 1,51 m groß und wiege 36 Kilogramm und habe insgesamt 7 Zähne. Er mache Fortschritte in seiner Sprachentwicklung. Er habe einige neue Begriffe im Bereich der Gebärdensprache dazugelernt und bei der häuslichen Sprachtherapie beginne er jetzt, einzelne Silben zu formulieren. Er könne schon Mut-ter und Au-to sagen. Das große langfristige Ziel der Pflegemutter sei - außer dass man den Kläger am Leben erhalte –,  dass er später für ca. 6 Stunden täglich in die Werkstatt des CVJM gehen könne. Dafür müsse er aber seinen Wortschatz im Bereich der Gebärdensprache noch deutlich erweitern, damit er sich dort mitteilen könne. Außerdem müsse seine Konzentrationsfähigkeit noch weiter ausgebaut werden. Der Pflegemutter sei mitgeteilt worden, dass der Antrag auf Jugendhilfe abgelehnt worden sei, weil es sich beim Kläger um einen behinderten jungen Volljährigen handele. Ihr sei geraten worden, einen Antrag auf Eingliederungshilfe an den FD 50 zu richten und bis zur Entscheidung Grundsicherung zu beantragen.

Mit Bescheid vom 21. Dezember 2012 lehnte der Beklagte den Antrag auf Jugendhilfeleistungen ab. Zur Begründung wies er darauf hin, dass der Kläger sein Leben lang auf Hilfe und Betreuung angewiesen sein werde. Eine selbständige Lebensführung sei aufgrund der Behinderung ausgeschlossen. Der Hilfebedarf des Klägers erstrecke sich im Wesentlichen auf den pflegerischen Bereich, der vom Jugendhilfeträger nicht abgedeckt werde.

Seit dem 3. Dezember 2012 ist die Pflegmutter Frau  H. zur Betreuerin des Klägers für sämtliche Angelegenheiten bestellt worden, Frau  W. als Ersatzbetreuerin und Rechtsanwalt  B. zum Ergänzungsbetreuer für u.a. den Aufgabenkreis „ Beantragung und gerichtliche Durchsetzung der Eingliederungshilfe“.

Am 21. Januar 2013 hat der Kläger Klage erhoben.

Er trägt im Wesentlichen vor, dass er - wenn auch nur eingeschränkt - in der Lage sei, seine Persönlichkeit weiterzuentwickeln.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 21. Dezember 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die erforderlichen Aufwendungen für die von Frau  H. in der Zeit vom 28. Oktober 2012 bis zum 27. Mai 2014 geleistete Vollzeitpflege zu übernehmen und ihm ab dem 28. Mai 2014 Hilfe für junge Volljährige in Form einer Vollzeitpflege zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, es sei kein Hilfebedarf nach § 41 SGB VIII gegeben. Dem Kläger werde aufgrund seiner Erkrankung ein eigenverantwortliches Leben ohne fremde Hilfe nie möglich sein. Eine Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung in spürbarer Weise sei nicht zu erwarten. Die Hilfe für junge Volljährige sei grundsätzlich nicht die geeignete Hilfeform, da es an pädagogisch zu formulierenden Zielen und deren Überprüfbarkeit mangele und die Hilfe erfolglos bleiben werde.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Der Prozessbevollmächtigten des Klägers war vor Klageerhebung eine Vollmacht von der der Ersatzbetreuerin W. erteilt worden, deren Aufgabenbereich „alle Angelegenheiten“ umfasst. Der Ergänzungsbetreuer RA B. hat die Klageerhebung nachträglich genehmigt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. Januar 2004 - 6 A 1/04 - juris).

Die Klage ist auch begründet. Soweit es dem Kläger um Leistungen für die Vergangenheit geht, hat er einen Anspruch gegen den Beklagten darauf, dass dieser die erforderlichen Aufwendungen für die von Frau  H. in der Zeit ab dem 28. Oktober 2012 geleistete Vollzeitpflege übernimmt. Für die Zukunft hat der Kläger bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres einen Anspruch auf Weiterführung der Vollzeitpflege gem. §§ 41, 33 SGB. Der angegriffene Bescheid des Beklagten vom  21. Dezember 2012 ist deshalb rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben.

Streitgegenstand dieses Verfahrens sind Ansprüche des Klägers in der Zeit vom 28. Oktober 2012 bis zum 27. Oktober 2015. Am 28. Oktober 2015 vollendet der Kläger sein 21. Lebensjahr. Denn zwar kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Hilfeanspruch bei einem Rechtsstreit um die Gewährung von Jugendhilfe grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat (BVerwG, Urteil vom 26. November 1981 – 5 C 56.80BVerwGE 64, 224). Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung. Eine Ausnahme von der Regel, dass Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung nur dieser Zeitraum ist, gilt aber dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat (OVG Lüneburg, Beschluss vom 19. Januar 2011 – 4 LB 154/10 – juris). Ebenso wie sich die Bewilligung über einen längeren Zeitraum erstrecken kann, kann auch die Ablehnung einer solchen Bewilligung einen längeren Zeitabschnitt erfassen. Der die Bewilligung bzw. Ablehnung betreffende Zeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid auch durch Auslegung ergeben (BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 – 5 C 9.94BVerwGE 99, 149). Hat der Jugendhilfeträger Hilfeleistungen für einen in die Zukunft hineinreichenden Zeitraum abgelehnt, so ist die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme nicht auf die Beurteilung der Sach- und Rechtslage beschränkt, wie sie bis zur letzten behördlichen Entscheidung bestanden hat. Es ist vielmehr auch die weitere Entwicklung in die Prüfung einzubeziehen. Denn für die gerichtliche Verpflichtung zur Hilfegewährung kann die Sach- und Rechtslage im gesamten Regelungszeitraum maßgeblich sein (vgl. zur parallelen Problemstellung in der Sozialhilfe: BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 – a.a.O.; BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 – B 8/9b SO 23/06 R – BSGE 99, 262; BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 – B 8/9b SO 12/06 R – FEVS 59, 481).

Hier hat der Beklagte die begehrte Jugendhilfeleistung am 21. Dezember 2012 für einen Zeitraum abgelehnt, der über den Zeitpunkt der Entscheidung weit hinausgeht. Er hat die Jugendhilfeleistung aus grundsätzlichen Erwägungen für die gesamte Zeit abgelehnt, in der dem Kläger Hilfe für junge Volljährige nach § 41 Abs. 1 Satz 2, 2. HS SGB VIII gewährt werden kann, nämlich bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres. Denn in dem Bescheid heißt es, dass der Kläger sein Leben lang auf Hilfe und Betreuung angewiesen sein werde. Eine selbständige Lebensführung, also das Ziel der Jugendhilfe, sei aufgrund der Behinderung ausgeschlossen. Diese Formulierungen legt das Gericht dahingehend aus, dass der Beklagte mit seinem Bescheid eine Hilfegewährung für den gesamten Zeitraum ab Vollendung des 18. Lebensjahres ablehnen  wollte.

Soweit es dem Kläger um Leistungen für die Zukunft geht, sind Rechtsgrundlage für das geltend gemachte Begehren §§ 41, 33 SGB VIII. Soweit es um Leistungen für die Vergangenheit geht, ist Rechtsgrundlage (mittlerweile) § 36 a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Diese Bestimmung verleiht einen Anspruch auf die Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für selbstbeschaffte Hilfen. Das sind Hilfen, die – wie hier – vom Leistungsberechtigten abweichend von §§ 36 a Abs. 1 und 2 SGB VIII beschafft werden, ohne dass eine Entscheidung des Trägers der Jugendhilfe oder eine Zulassung durch diesen vorangegangen ist. An einer solchen Zulassung des Beklagten fehlt es für die Zeit ab dem 28. Oktober 2012. Der Übernahmeanspruch setzt nach § 36 a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII voraus, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Beklagte hatte zu Beginn des Zeitraums, für den hier die Übernahme der Aufwendungen beansprucht wird, von dem Hilfebedarf des Klägers Kenntnis. Dass der Kläger weiter bei seiner Pflegemutter wohnen würde, ist im letzten Hilfeplangespräch im November 2012 thematisiert worden. Unstreitig ist ebenfalls, dass - bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe - die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.

Die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe liegen seit dem 28. Oktober 2012 vor. Die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 41, 33 SGB VIII sind erfüllt.

Gemäß § 41 Abs. 1 SGB VIII soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie über einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden. § 41 Abs. 2 SGB VIII bezieht ausdrücklich § 33 SGB VIII in die Ausgestaltung der Hilfe ein.

Aufgrund des Lebensalters des Klägers - er hat im streitgegenständlichen Zeitraum das 18. Lebensjahr bereits vollendet, ist aber noch nicht 21 Jahre alt - kommt eine Hilfe für junge Volljährige für ihn grundsätzlich in Betracht.

Für den Kläger war und ist eine Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung aufgrund seiner individuellen Situation auch möglich und notwendig. Dem steht - anders als der Beklagte meint - nicht entgegen, dass der Kläger offensichtlich nicht in der Lage ist, die Befähigung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres oder innerhalb eines begrenzten Zeitraums darüber hinaus zu erreichen. Denn die Hilfe für junge Volljährige ist nicht auf einen bestimmten Entwicklungsabschluss gerichtet, sondern auf einen Fortschritt im Entwicklungsprozess. Sie muss lediglich geeignet sein, die Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu fördern (BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 – 5 C 26.98BVerwGE 109, 325). Dabei ist das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung und der eigenverantwortlichen Lebensführung auf den jeweiligen jungen Volljährigen individuell bezogen zu definieren, denn die Vorschrift stellt auf die individuelle Situation des jungen Volljährigen ab (VG Oldenburg, Urteil vom 20. August 2012 - 13 A 1914/10 - v.n.b.; VG Düsseldorf, Urteil vom 19. April 2004 – 19 K 5953/02 – juris).

Hiervon ausgehend steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund des Inhalts der Verwaltungsvorgänge des Beklagten, des Vortrags der Beteiligten und der Erklärungen der Pflegemutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung fest, dass die Vollzeitpflege durch Frau  H. die Persönlichkeitsentwicklung des Klägers und seine Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung gefördert hat und künftig fördern kann und wird.

Dass die Pflegemutter des Klägers bis zu dessen 18. Lebensjahr seine Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich positiv mitgeprägt hat, liegt bereits deshalb nahe, weil auch der Beklagte diese Art der Hilfe als für den Kläger bis dahin geeignet angesehen hat. Sein Hinweis im Schriftsatz vom 19. Mai 2014 auf die Stellungnahme der Diplompädagogin P. vom 8. Oktober 2013 macht überdies deutlich, dass er die Unterbringung, Erziehung und Pflege I.s in einer Pflegefamilie für eine geeignete Hilfeart hält. In ihrer Stellungnahme führt Frau P. nämlich unter anderem aus, dass der Kläger weitere Schritte in seiner Persönlichkeitsentwicklung vollziehen werde, und dazu pflegerische und wohlwollende Unterstützungen, z.B. zwischenmenschliche Beziehungen im familiären Umfeld, nötig seien. Die zwischenmenschliche Beziehung zwischen dem Kläger und Frau H. sei dessen förderlichste Art der Betreuung. Dass die Pflegemutter die Persönlichkeitsentwicklung des Klägers nicht unerheblich (mit)gefördert hat, lässt sich sodann den Hilfeplanfortschreibungen entnehmen. So heißt es beispielsweise in der vorletzten Hilfeplanfortschreibung vom 24. Mai 2011: „Unter tatkräftiger Mitwirkung der Pflegemutter wird den diagnostischen Schwächen, Störungen, Behinderungen begegnet. Notwendige Behandlungen und spezielle Förderungen sind auch durch das Schulamt gut gewährleistet. Die Pflegemutter zeigt großes Interesse am Schulalltag, ist zur Zusammenarbeit und Unterstützung schulischer Aktivitäten bereit. I. ist voll in die Pflegefamilie integriert und findet hier seinen emotionalen Rückhalt.“ Zur Entwicklungsförderung heißt es, dass im Alltag und Spiel feinmotorische Fertigkeiten und kreative und handgeschickliche Fähigkeiten regelmäßig zu Hause und in der Schule geübt würden. Die Pflegemutter unterstütze und wirke bei den entsprechenden Förderangeboten mit. In der Hilfeplanfortschreibung vom 5. Dezember 2012 wird ausgeführt, dass die Pflegemutter versuche, im Alltag fein- und grobmotorische unterstützende Angebote einzubringen und den Kläger zu fördern. Er könne z.B. mit Messer und Gabel essen. Er sei in der Pflegefamilie vollständig integriert. Er komme mit den anderen Kindern – egal ob behindert oder nicht – gut zurecht. Er zeige gegenüber den Familienmitgliedern ein gutes Sozialverhalten. Es habe eine Phase gegeben, in der er auch heftige Wutanfälle gehabt habe, so mit 10 bis 11 Jahren. Diese hätten sich allerdings zurzeit gelegt. Auffällig sei, dass er überhaupt kein Schamgefühl und Probleme mit dem Nähe-Distanz-Verhalten habe. Dies werde von den anderen Familienmitgliedern nicht akzeptiert. Er werde dann in seine Grenzen gewiesen. Er mache Fortschritte in seiner Sprachentwicklung. Er habe einige neue Begriffe im Bereich der Gebärdensprache dazugelernt und in der häuslichen Sprachtherapie beginne er jetzt, einzelne Silben zu formulieren. Als langfristige Ziele sind u.a. formuliert worden, dass er seine Konzentrationsfähigkeit noch weiter ausbauen müsse, lernen müsse, seine Kräfte besser einzuteilen, lernen müsse, an seinem Platz sitzen zu bleiben und Anordnungen zu befolgen und lernen müsse, sich selbst abzugrenzen und auch die Grenzen anderer zu akzeptieren. Dafür der Kläger diese Entwicklungsziele künftig nicht erreichen können wird, sind in der Hilfeplanfortschreibung keine Anhaltspunkte benannt. Der Beklagte hat auch in seinem angegriffenen Bescheid sowie im Klageverfahren nicht vorgetragen, dass beim Kläger keine weiteren Entwicklungen möglich sind und gerade die Vollzeitpflege bei der Betreuerin des Klägers nicht geeignet ist, dessen Entwicklung zu fördern. Vielmehr geht der Beklagte selbst davon aus, dass es zu Fortschritten im Bereich der Sprache und weiterer lebenspraktischer Fähigkeiten kommen wird (Schriftsatz vom 21. März 2013, dort 2.1.2. und Schriftsatz vom 19. Mai 2014 unter Hinweis auf die Stellungnahme der Diplompädagogin P., dort Seite 2). Der Beklagte hält die Entwicklungsschritte I.s allerdings für unbeachtlich, weil es minimale bzw. nur kleinschrittige Fortschritte seien und diese fortgedacht den Kläger niemals befähigen werden, selbständig zu leben. Darauf, ob die Fortentwicklungen des Klägers am Maßstab eines gesunden Menschen gemessen nur als nicht spürbar bzw. geringfügig bezeichnet werden können, kommt es aber gerade nicht an. Wie oben bereits dargelegt ist allein entscheidend, dass der Kläger seine Persönlichkeit noch zu entwickeln vermag und überhaupt Entwicklungsschritte in Richtung einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu verzeichnen sind. Maßgeblich ist die individuelle Situation des Klägers.

Der Beklagte hat bei seiner Bewertung des Weiteren außer Acht gelassen, dass der Kläger noch bis Mitte dieses Jahres die Schule (voraussichtlich auch ein Jahr länger) besuchen wird und er sich seit dem 28. Oktober 2012 in einer Phase befindet, in der auch geistig und körperlich gesunde Jugendliche und junge Volljährige regelmäßig noch der Anleitung des Elternhauses oder einer Pflegefamilie bedürfen (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 19. April 2004, a.a.O.).

Sodann hat der Beklagten im Rahmen seiner Bewertung des Hilfefalles nicht genügend berücksichtigt, welche Bedeutung das sich noch stetig verbessernde Sprachvermögen des Klägers für seine Persönlichkeitsentwicklung hat. Er, der taub ist, kann sich mittels der Gebärdensprache verständigen, die auch seine Pflegemutter für ihn ab dem Jahr 2000 erlernt hat, um mit ihm kommunizieren zu können. Zudem kann er Situationen teils so verstehen, dass seine Pflegemutter davon ausgeht, er könne möglicherweise einiges von den Lippen ablesen. Den Schulzeugnissen der Förderschule ist zu entnehmen, dass der Kläger in jedem Schuljahr seine Gebärdenkenntnisse erweiterte (Schuljahr 2008/2009: Begriffe aus dem lebenspraktischen Bereich (Nahrungsmittel), dem Freizeitbereich, den Themenbereichen des Sachunterrichts sowie um Begriffe aus dem Themenfeld Weihnachten; Schuljahr 2009/2010: Begriffe aus dem lebenspraktischen Bereich (Nahrungsmittel wie Reis, Salat), dem Freizeitbereich sowie den Themenbereichen des Sachunterrichts (Fahrzeuge, Pflanzen, Himmelskörper etc.); Schuljahr 2010/2011: Gebärden aus den Wortfeldern Nahrungsmittel, Jahreszeiten, Tätigkeiten und Dinge in der Schule, Wattenmeer, Sexualerziehung und Gefühle). In dem Zeugnis des Schuljahres 2010/2011 heißt es, dass der Kläger daran arbeiten müsse, gelernte Gebärden mehr in der Alltagskommunikation zu benutzen. Dieses erfolgte und erfolgt im Haushalt der Pflegemutter, in dem der Kläger mit ihr und Pflegegeschwistern zusammen lebt und sich im Alltag vielfältige Möglichkeiten zur Kommunikation und Übung der Gebärden ergaben und ergeben. Ein zunehmendes Sprachvermögen trägt indes bei allen Kindern, so auch beim Kläger, zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung bei. Sprache ist die Grundlage der Kommunikation mit anderen Menschen. Mittels Sprache werden Gedanken und Gefühle zum Ausdruck gebracht, Bedeutungen vermittelt, Erlebnisse verarbeitet, Erfahrungen ausgetauscht, Wünsche kundgetan, Zusammenhänge verstanden und Handlungen geplant. Über die Sprache wird ein Mensch mit den Sichtweisen seiner Umwelt und den dortigen Regeln vertraut gemacht.

Schließlich ist aus den glaubhaften Schilderungen der Pflegemutter des Klägers ersichtlich geworden, in welchem Umfang er sich in den vergangenen eineinhalb Jahren fortentwickelt hat und selbständiger geworden ist. Sie hat u.a. dargelegt, dass der Kläger seine Gebärdensprache um 40 Zeichen erweitert habe. Er lerne in der Schule die deutsche Gebärdensprache, habe aber auch eigene Gebärden entwickelt. Die in der Schule verwandten Gebärden lerne sie selbst mit und versuche dann, diese situationsbedingt an den Kläger heranzutragen und so mit ihm zu üben. Er könne nun deutlich zum Ausdruck bringen, wenn etwas nicht seinem Willen entspreche, er etwas als ungerecht empfinde oder er traurig sei. Er könne mittlerweile auch das Wort Nein lautieren. In der Schule habe der Kläger weitere lebenspraktische Fähigkeiten in den Bereichen Einkauf oder Geld erworben. Auch zuhause sei er im lebenspraktischen Bereich selbständiger geworden. So habe er mittlerweile gelernt, seinen Wecker zu bedienen; es handele sich um einen Wecker mit Licht. Wenn dieser ihn morgens wecke, stehe er selbständig auf und ziehe sich an. Allein die Sache mit den Knöpfen bekomme er nicht ohne Hilfe hin. Sodann habe er gelernt, verantwortlich daran zu denken, dass und welche Medikamente er einnehmen müsse. In den vergangenen eineinhalb Jahren sei es sogar gelungen, dem Kläger angemessenes Benehmen beizubringen. So könne er jetzt am Tisch sitzen, mit seinen Ellbogen bei sich ohne die Nachbarn zu stören. Zudem habe er aufgehört, sich bei Mädchen auf den Schoß zu setzen und sie „anzugrabbeln“. Hintergrund dessen sei, dass er in der Schule immer als niedlicher Kleiner behandelt worden sei und die anderen sich ihn teils auf den Schoß gesetzt hätten. Als er in die Pubertät gekommen sei, habe er derartiges Auf-den-Schoß-setzen bei Mädchen eingefordert und angefangen, sie anzufassen. Diese Grenzverletzungen hätten die Mädchen nicht mehr gut gefunden und sie - die Pflegemutter - habe darauf geachtet, dass er verstehe, was sein persönlicher Bereich und was der persönliche Bereich anderer sei. Sie habe ihm diese Dinge verboten und mittlerweile sei das in der Familie kein Problem mehr. Von der Schule höre sie auch nichts Gegenteiliges.

Dem Kläger stand und steht nach alledem ein Anspruch auf Hilfe in Form der Vollzeitpflege und nicht lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung zu. Denn die Regelung des § 41 Abs. 1 SGB VIII ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet. Sie gewährt dem Leistungsberechtigten im Regelfall einen Rechtsanspruch auf die Gewährung der Leistung (Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2012, § 41 Rdnr. 25). Eine Ablehnung ist bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nur dann zulässig, wenn ein atypischer Sachverhalt dies ausnahmsweise erlaubt (Wiesner, a.a.O.). Hier ist jedoch keine atypische Situation vorgetragen noch sonst ersichtlich, die eine Ablehnung der Leistung ausnahmsweise rechtfertigen würde, sodass der Kläger einen Anspruch auf die Gewährung von Vollzeitpflege nach §§ 41 Abs. 1, 33 SGB VIII hatte und hat.

Dem Beklagten kann schließlich nicht darin gefolgt werden, dass seine jugendhilferechtliche Zuständigkeit deshalb nicht mehr bestehe, weil das Sozialamt Osnabrück bereits eine Zuständigkeit gegenüber ihm - dem Beklagten - bejaht habe. Denn selbst wenn man davon ausgehen würde, dass im vorliegenden Falle überschneidende Zuständigkeiten des Jugendhilfeträgers einerseits und des Sozialhilfeträgers andererseits bestünden, könnte nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Hilfesuchende solange die benötigte Hilfe aussteht frei entscheiden, welche Leistung und welchen Leistungsträger er in Anspruch nimmt (BVerwG, Urteile vom 9. Februar 2012 – 5 C 3/11 – und vom 19. Oktober 2011, 5 C 6/11 -; dem folgend Landessozialgericht NRW, Urteil vom 28. Januar 2013 – L 20 So 170/11 – alle juris; Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 2. November 2012 – 4 LA 241/12 – V.n.b.). Der vom Gesetzgeber gewollte und in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII statuierte Vorrang der Sozialhilfe kann ggf. nur über eine Kostenerstattung zwischen den verschiedenen Sozialleistungsträgern hergestellt werden. Derzeit erhält der Kläger die begehrte Hilfe weder vom Beklagten noch vom Landkreis Osnabrück. Die benötigte Hilfe steht deshalb noch aus. Im Übrigen ist der Kläger weder verpflichtet, Hilfeleistungen nach §§ 53, 54 SGB XII in Anspruch zu nehmen noch besteht überhaupt ein Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB XII, der seinem Anspruch auf Vollzeitpflege nach dem SGB VIII entspricht. Eine Betreuung des Klägers in einer Pflegefamilie ist als Leistung der Eingliederungshilfe nach § 54 SGB XII nicht vorgesehen. Denn der Gesetzgeber hat in § 54 Abs. 3 SGB XII eine Regelung geschaffen, die lediglich Kinder und Jugendliche betrifft und somit nicht den Personenkreis, zu dem der Kläger als junger Volljähriger gehört (VG Oldenburg, Urteil vom 5 Juli 2010 - 13 A 1914/10 -; VG Frankfurt, Beschluss vom 5. August 2010 – 7 L 1241/10.F – zit.n.juris). Nach dem Wortlaut des § 54 Abs. 3 SGB XII ergibt sich kein Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe in Form der Unterbringung in einer Pflegefamilie. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Gesetzentwurf eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus (BT- Drs. 16/13417, S. 6) ausgeführt wird, dass durch den offenen Leistungskatalog des § 54 SGB XII die Möglichkeit der Betreuung von Erwachsenen in Pflegefamilien durch Einführung des § 54 Abs. 3 SGB XII unberührt bleibe. Denn jedenfalls im Hinblick auf junge Volljährige, die wie Kinder und Jugendliche in den Anwendungsbereich des SGB VIII fallen, ist eine Unterbringung in einer Pflegefamilie nach § 54 Abs. 3 SGB XII nicht vorgesehen (VG Frankfurt, a.a.O.; zur entsprechenden Vorschrift nach § 40 BSHG: VG Augsburg, Urteil vom 14. Juni 2005 – Au 3 K 04.1316 – zit.n.juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 19. April 2004 – 19 K 5953/02 – zit.n.juris).

Somit ist der Beklagte für die Zukunft zur Leistung der begehrten Hilfe für junge Volljährige in Form einer Vollzeitpflege verpflichtet. Der Anspruch auf Sicherstellung des notwendigen Unterhalts nach § 39 SGB VIII ist eine Annexleistung der Jugendhilfe (BVerwG, Urteil vom 31.3.1977 – V C 22.76BVerwGE 52, 214, Wiesner, SGB VIII, 4. Auf. 2011, Rdnr. 2). Dieser Anspruch besteht durch den Verweis in § 41 Abs. 2 SGB VIII auf § 39 SGB VIII auch im Falle der Gewährung von Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII. Dem Kläger steht daher auch ein Anspruch auf Pflegegeld zu.

Zudem ist der Beklagte für die Vergangenheit zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für die selbst beschaffte Maßnahme verpflichtet. Der Umfang der letzteren entspricht dem Betrag, der bei rechtzeitiger Gewährung der Hilfe vom Jugendhilfeträger nach den zugrunde liegenden öffentlich-rechtlichen Bestimmungen zu tragen gewesen wäre. Mithin sind hier nicht nur die tatsächlich nachweisbaren Vermögenseinbußen zu übernehmen, sondern auch die in § 39 SGB VIII vorgesehenen Pauschalen (s. BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 – 5 C 12/11 – juris).