Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.01.2011, Az.: 7 ME 20/11

Vorwegnahme der Hauptsache bei vorläufiger Nutzungsgestattung ohne bleibende Folgen für den Antragsgegner und Zurückbleiben hinter der Einräumung eines grundbuchrechtlich gesicherten Wegerechts in der Hauptsache; Voraussetzungen der Erschließung eines Wohngrundstücks

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.01.2011
Aktenzeichen
7 ME 20/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 10357
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:0128.7ME20.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 22.10.2010 - AZ: 7 B 3792/10

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Aus der Vorläufigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO abgeleitete Begrenzungen müssen sich stets am Verfassungsgebot der Effektivität des Rechtsschutzes messen lassen.

  2. 2.

    Wohngrundstücke können aus Gründen des Brandschutzes nur dann noch als erschlossen angesehen werden, wenn die Entfernung zwischen dem möglichen Standort für ein Feuerwehrfahrzeug und dem jeweiligen Wohngrundstück nicht mehr als 50 m beträgt und dieser Standort mindestens 4,20 m breit ist.

  3. 3.

    Eine willkürliche Handlung im Sinne des § 918 BGB ist nur eine auf freier Entscheidung beruhende Maßnahme, die der ordnungsgemäßen Grundstücksnutzung widerspricht und die gebotene Rücksichtnahme auf nachbarliche Interessen außer Acht lässt.

Gründe

1

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts hat im Ergebnis keinen Erfolg.

2

Das Begehren scheitert allerdings nicht an einem "Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache" (vgl. hierzu Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rn. 88). Der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers weist zutreffend darauf hin, dass im Rahmen des Antrages nach § 123 VwGO von ihm lediglich eine vorläufigen Nutzungsgestattung erstrebt wird, die keine bleibenden oder unzumutbaren Folgen für die Antragsgegnerin auslösen würde, und dass die begehrte faktische Gestattung des Fahrens und Gehens bis zur Entscheidung in der Hauptsache deutlich hinter der Einräumung eines grundbuchrechtlich gesicherten Wegerechts zurückbliebe. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass aus der Vorläufigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO abgeleitete Begrenzungen sich stets am Verfassungsgebot der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) messen lassen müssen (Schoch u.a., a.a.O., § 123 Rn. 90). Auch macht der Antragsteller keinen (bundesrechtlichen) Anspruch auf Herstellung einer Erschließungsanlage geltend. Er begehrt im Rahmen seines Antrages nach § 123 VwGO (lediglich) den Erlass einer Regelungsanordnung, die ihm die Mitbenutzung einer - im städtischen Eigentum stehenden - vorhandenen Zuwegung der Antragsgegnerin gestattet, um auf diese Weise sein (Hinterlieger-) Grundstück besser erreichen zu können.

3

Ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Öffnung der städtischen Zufahrt zum C. - Gymnasium nach den im öffentlichen Sachenrecht entsprechend anwendbaren Grundsätzen über die Einräumung eines Notwegerechts (§§ 917 f. BGB; vgl. auch OVG Koblenz, Urt. v. 21.10.2009 - 1 A 10481/09 -, [...]) erfüllt sind, kann gegenwärtig nicht eindeutig beurteilt werden. Die Erschließung des Grundstücks "D. " über das Grundstück "E. " ist nach dem Erlöschen der persönlichen Dienstbarkeit zu Gunsten des früheren Voreigentümers und deren inzwischen erfolgter Löschung im Grundbuch entfallen. Allerdings bleibt das Grundstück für den Antragsteller über das ebenfalls in seinem Eigentum stehende Grundstück "F. " erreichbar, das über einen Zugang zur öffentlichen Straße verfügt. Es kann zwar von dort nicht angefahren werden; jedoch besteht offenbar eine Verbindung über einen 1,20 m breiten "Weg" und eine Gartenpforte. Die fußläufige Verbindung ist für die Erreichbarkeit im Grundsatz ausreichend, es gibt keinen Anspruch des Eigentümers, sein Grundstück mit dem Fahrzeug unmittelbar anfahren zu können (vgl. BGH, Urt. v. 7.7.2006 - V ZR 159/05 -, NJW 2006, 3426; Brandenb. OLG, Urt. v. 30.10.2008 - 5 U 131/07 -, [...]). Die vorhandene Eigentumslage genügt auch als Nachweis der Erschließung (arg. e. § 5 Abs. 2 NBauO). Die Zugänglichkeit bebauter Grundstücke ist allerdings nicht nur eine Frage der persönlichen Bequemlichkeit für die Bewohner, sondern auch der zugleich im öffentlichen Interesse liegenden Erreichbarkeit für Rettungsdienste im Not- und Brandfall. Rettungsmöglichkeiten müssen auch im Interesse Dritter, wie Gästen, Besuchern, Familienangehörigen oder anderen Personen, die das Gebäude aufsuchen, etwa bei häuslichen Unfällen, sowie zum Schutz der Nachbarschaft im Brandfall gegeben sein. Ob die vorhandene Erschließung die Anforderungen des § 5 NBauO (vgl. Grosse-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz /Wiechert, NBauO, 8. Aufl. 2006, § 5 Rn. 12, 18; Nds.OVG, Urt. v. 7.5.2009 - 9 LB 329/06 - [...], Beschl. v. 21.7.2000 - 9 M 566/99 -, NdsRpfl. 2001, 93) in bauordnungsrechtlicher Hinsicht vollständig erfüllt, kann nach Aktenlage nicht abschließend beantwortet werden, so dass ein Anspruch auf Gestattung des Fahrens und Gehens auf der städtischen Zufahrt zum Gymnasium mangels Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 936, 294 Abs. 1 ZPO) derzeit nicht mit Erfolg geltend gemacht werden kann. Nach den vom 9. Senat des Nds. OVG aufgestellten Grundsätzen können Wohngrundstücke aus Gründen des Brandschutzes nur dann noch als erschlossen angesehen werden, wenn die Entfernung zwischen dem möglichen Standort für ein Feuerwehrfahrzeug und dem jeweiligen Wohngrundstück nicht mehr als 50 m beträgt und dieser Standort mindestens 4,20 m breit ist (Nds.OVG, a.a.O.). Die Antragsgegnerin verweist zwar auf die Zugänglichkeit über die Zufahrt des Grundstücks "G. ", dies bedürfte aber brandschutzfachlicher Verifizierung. In Betracht kommt allerdings auch, dass im Not- und Rettungsfall der Zugang über das Grundstück "E. ", sofern öffentlich zugänglich, oder die - dann von den Rettungskräften zu öffnende - Zufahrt zum Gymnasium gewährleistet wird. Ob dies nach den vorstehend genannten Grundsätzen gewährleistet ist, muss im Hauptsacheverfahren geprüft werden, einschließlich der Frage, ob etwa auch der Notarzt über hinlängliche Möglichkeiten verfügt, über die "Gartenpforte" heranzugelangen. Sollte sich erweisen, dass die Zugänglichkeit im notwendigen Maße gegeben ist oder vom Antragsteller selbst mit zumutbarem Aufwand geschaffen werden kann, wäre Abhilfe durch Einräumung des erstrebten Notwegerechts über städtischen Grund nicht erforderlich. Für die Beurteilung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geht der Senat von der Darstellung der Antragsgegnerin in deren Schriftsatz vom 29. September 2010 aus.

4

Ohne Bedeutung ist im Hinblick auf die dargelegten öffentlich-rechtlichen Erfordernisse daher, ob der Antragsteller die Zufahrtssituation bei dem Erwerb des Grundstücks gekannt hat. Im Übrigen schließt § 918 BGB den Anspruch auf ein Notwegerecht nur aus, wenn eine Verbindung des Grundstücks mit der öffentliche Straße durch eine "willkürliche Handlung" des Eigentümers aufgehoben worden ist. "Willkürlich" i.d.S. ist nur eine auf freier Entscheidung beruhende Maßnahme, die der ordnungsgemäßen Grundstücksnutzung widerspricht und die gebotene Rücksichtnahme auf nachbarliche Interessen außer Acht lässt (BGH, a.a.O.; OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.7.2010 - 6 U 105/08 -, [...]). Davon kann nach den näheren Umständen der Entwicklung der "Insellage" des Grundstücks "D. " hier aber keine Rede sein. Für den Untergang des zu Gunsten des früheren Voreigentümers bestellten Wegerechts ist der Antragsteller nicht verantwortlich. Auf Verhandlungen mit dem Eigentümer des Grundstücks "E. " muss er sich nicht vorrangig verweisen lassen, da ein Rechtsanspruch auf Gestattung der Überwegung nicht erkennbar ist. Immerhin mag die nach Angaben der Antragsgegnerin bestehende Bereitschaft des Eigentümers des "H. ", dem Antragsteller ein Wegerecht einzuräumen, ausgelotet werden. Sollte sie vorliegen, entfiele allerdings der subjektiv-öffentliche Anspruch auf ein Notwegerecht über die städtische Zufahrt, da das Notwegerecht "ultima ratio" ist.