Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.01.2011, Az.: 1 ME 275/10
Widerspruch gegen die Baugenehmigug eines Nachbarvorhabens aufgrund der baulich unangemessenen Nutzbarkeit einer in einer älteren Baugenehmigung zugelassenen mit Glasbausteinen anstelle von Fenstern verwendeten zur zusätzlichen Belichtung eines Treppenhauses ausgebauten Grenzwand bzw. Brandwand durch Einhaltung des behördlich verlangten Abstands gem. § 8 Abs. 4 der Niedersächsischen Bauordnung (NBauO)
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 24.01.2011
- Aktenzeichen
- 1 ME 275/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 12917
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0124.1ME275.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 02.12.2010 - AZ: B 2812/10
Rechtsgrundlagen
- § 8 Abs. 4 NBauO
- § 22 BauNVO
- § 43 Abs. 1 NBauO
Fundstellen
- BauR 2011, 994-995
- DVBl 2011, 580
- DÖV 2011, 370
- FStNds 2011, 235-237
Amtlicher Leitsatz
Ist in einer älteren Baugenehmigung zugelassen worden, dass anstelle von ursprünglich vorgesehenen Fenstern in einer Grenzwand (Brandwand) Glasbausteine für die zusätzliche Belichtung eines Treppenhauses verwendet werden dürfen, kann sich der Genehmigungsinhaber bei faktisch geschlossener Bauweise jedenfalls dann nicht mit Erfolg gegen eine Baugenehmigung für ein Nachbarvorhaben wenden, das an diese Grenzwand angebaut werden soll, wenn das Nachbargrundstück bei einem behördlichem Verlangen nach Einhaltung eines Abstandes (§ 8 Abs. 4 NBauO) baulich nicht mehr angemessen nutzbar wäre.
Gründe
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Antragsgegnerin für ein benachbartes, in geschlossener Bauweise zu errichtendes Wohnhaus, weil die Genehmigung das "Verbauen" von genehmigten Glasbausteinen für ein Treppenhaus im Wohnhaus der Antragstellerin zulässt.
Das Verwaltungsgericht hat vorläufigen Rechtsschutz versagt, weil der Eigentümer eines seit langer Zeit an der Grundstücksgrenze stehenden Gebäudes in der geschlossenen Bauweise mit genehmigten seitlichen Fenstern ggf. deren Zumauern hinnehmen müsse, wenn dem Nachbarn eine zulässige Grenzbebauung genehmigt werde. Dies gelte nicht nur im Plangebiet, sondern auch im unbeplanten Innenbereich. Hier handele es sich nicht um notwendige Fenster im Sinne von § 43 Abs. 4 NBauO. Sie dienten auch weder der Belüftung noch eröffneten sie Ausblicksmöglichkeiten.
Mit ihrer dagegen gerichtete Beschwerde macht die Antragstellerin geltend, der Nachbarschutz reiche im unbeplanten Innenbereich weiter als im Plangebiet. In letzterem könne sich der Bauherr auf die Planfestsetzungen einrichten. Im unbeplanten Innenbereich gebe es derart feste Vorgaben nicht; so könne nicht pauschal darauf abgestellt werden, dass in der näheren Umgebung bis zu einer bestimmten Tiefe geschlossene Bebauung vorherrsche. Das Rücksichtnahmegebot schütze den konkreten Bestand; Licht spendende Öffnungen, auf deren Bestand man viele Jahre habe vertrauen können, dürften deshalb nicht zugebaut werden.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt nicht die Änderung des angegriffenen Beschlusses.
Unzutreffend ist die Annahme, der Nachbarschutz gehe im unbeplanten Innenbereich weiter als im Plangebiet. Grundsätzlich ist der Nachbarschutz im Innenbereich nur zögernd demjenigen im Plangebiet angenähert worden (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 - 4 C 28.91 -, BVerwGE 94, 151 = NJW 1994, 1546). Insbesondere die Frage, welche Bauweise im Sinne des § 22 BauNVO vorherrscht, stellt sich im Zusammenhang mit § 8 NBauO ganz regelmäßig auch im Innenbereich (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, 8. Aufl. 2006, § 8 Rdnr. 5; Boeddinghaus, BauR 2008, 1249); lässt sie sich - wie hier - eindeutig beantworten, besteht kein Grund, dem Nachbarn höheren Schutz zuzubilligen als bei gleicher Situation im Plangebiet. Hier zeigt der Auszug aus dem Liegenschaftskataster, dass die Grundstücke F.-straße 72 -88 im Übrigen bis zur Tiefe des jetzt genehmigten Hauses durchgängig bis zu den seitlichen Grenzen bebaut sind. Die einzige bisherige Lücke bestand danach auf dem Baugrundstück, das ebenfalls östlich an die Grenze gebaut war, entlang der Westgrenze jedoch einen schmalen Durchgang freiließ.
Der vorliegende Fall nötigt auch nicht zu einer abschließenden Beantwortung der Frage, ob die Genehmigung eines Fensters in einer Grenzwand Abwehrrechte gegen die Genehmigung eines an diese Grenze heranrückenden Gebäudes eröffnet. Bejaht hat dies weitgehend der frühere 6. Senat dieses Gerichts (Beschl. v. 20.10.1986 - 6 B 75/86 -, BRS 46 Nr. 179 = BauR 1987, 187; vgl. ferner Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/ Wiechert, a.a.O., § 8 Rdnr. 52 m.w.N.); bei nicht im Sinne des § 43 Abs. 4 NBauO "notwendigen" Fenstern, deren Genehmigung nicht nachgewiesen ist, hat der Senat eine andere Position vertreten (Urt. v. 27.8.2008 - 1 KN 153/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de).
Auch im vorliegenden Fall geht es nicht um notwendige Fenster, weil ein Treppenhaus kein Aufenthaltsraum im Sinne des § 43 Abs. 1 NBauO ist. Glasbausteine würden im Übrigen die Anforderungen an notwendige Fenster auch nicht erfüllen (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, a.a.O., § 43 Rdnr. 26).
Die 1912 erteilte Baugenehmigung hatte darüber hinaus nicht den Inhalt, dass auf Dauer ein Lichteinfall durch die Glasbausteine gewährleistet werden sollte. Ursprünglich sahen die Bauzeichnungen an dieser Stelle Fenster für das Treppenhaus vor. Das wurde beanstandet. Nach dem Gutachten der Baukommission vom 27. März 1912 hatten deshalb an die Stelle der Fenster in der Brandmauer Glasbausteine zu treten und war der Treppenflur mit Oberlicht zu versehen. Entsprechende Grüneintragungen erhielten die genehmigten Bauzeichnungen.
Daraus ergibt sich: Bereits aus damaliger Sicht hatte die Grenzwand die Funktion einer Brandmauer, was die Genehmigung von Fenstern ausschloss. Es stellte ein Entgegenkommen dem Bauherrn gegenüber dar, dass statt dessen Glasbausteine zugelassen wurden. Diese sind nicht ohne weiteres feuerbeständig (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/ Schmaltz/Wiechert, a.a.O., § 30 Rdnr 19). Gleichwohl war der Sinn dieses Kompromisses ersichtlich der, dass durch das Oberlicht die erforderliche Belichtung sicherzustellen war, dem Bauherrn aber die Chance belassen werden sollte, bis zu einem seitlichen Anbau durch den Nachbarn die zusätzliche seitliche Belichtung zu genießen. Dass diese Chance viele Jahre lang genutzt werden konnte, rechtfertigt es nicht, dem Eigentümer des Nachbargrundstücks auch für die Zukunft eine angemessene Nutzung seines Eigentums zu versagen.
Ein Widerspruch zur damaligen Entscheidung des 6. Senats liegt darin auch aus folgenden Gründen nicht:
Diese ging davon aus, dass die Baugenehmigungsbehörde dem damalige Bauherrn nach § 8 Abs. 1 Satz 2 NBauO a.F. (entspricht heutigem § 8 Abs. 4 NBauO) die Einhaltung eines Abstandes abverlangen durfte. Ermessenfehlerfrei konnte und kann sie dies nur tun, wenn der Bauherr auf seinem Grundstück genügend Platz für eine Standortverschiebung hat. Das ist hier nicht der Fall. Das Baugrundstück ist an der Straße nur 8 m breit. Selbst wenn man nicht in Rechnung stellt, dass im Erdgeschoss auch eine Durchfahrt zum dahinter liegenden Teil des Grundstücks angeordnet ist, verbleibt damit für eine angemessene Nutzung des straßenseitigen Teils des Grundstücks nur wenig Raum. Es kann dem Bauherrn nicht angesonnen werden, zusätzliche Teile seines Grundstücks zu "opfern". § 8 Abs. 4 NBauO verlangt die Einhaltung des Abstandes nach den § 7 bis 7 b NBauO, also mindestens 3 m, so dass ein Neubau in Gestalt des abgebrochenen Gebäudes nicht in Betracht kommt. Damit würde das Grundstück praktisch unbebaubar. Infolgedessen kommt hier dem Gesichtspunkt, dass der die Brandwand entgegen ihrer Funktion für Belichtungszwecke nutzende Genehmigungsinhaber auch auf "architektonische Selbsthilfe" verwiesen werden kann, weit größere Bedeutung zu als in dem damals entschiedenen Fall mehrerer Fenster zu Aufenthaltsräumen.