Sozialgericht Stade
Urt. v. 07.04.2015, Az.: S 1 KR 369/13
Anspruch eines gesetzlich Krankenversicherten auf Kostenübernahme für die Anfertigung orthopädischer Schuhe einschließlich der Leisten
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 07.04.2015
- Aktenzeichen
- S 1 KR 369/13
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 15867
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2015:0407.S1KR369.13.0A
Rechtsgrundlagen
- § 33 Abs 1 S. 1 SGB V
- § 34 Abs 4 SGB V
Redaktioneller Leitsatz
Soweit orthopädische Schuhe nicht ohne die Erstellung von Leisten angefertigt werden können, sind auch die hierauf entfallenden Kosten erforderlich im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Das gilt auch dann, wenn die Erstellung der Leisten nur bei einem vom Patienten neu gewählten Schuhmacher anfällt, während sie beim bisherigen Schuhmacher nicht angefallen wäre. Insofern ist aus dem Zusammenspiel von § 33 Abs. 6 S. 1 SGB V - die einschränkenden Voraussetzungen des § 33 Abs. 6 S. 2 und 3 SGB V sind nicht erfüllt - mit § 33 Abs. 1 S. 5 SGB V zu folgern, dass für eine solche Konstellation ein Vorrang der freien Wahl des Hilfsmittelerbringers besteht.
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2013 verpflichtet, die Kosten für orthopädische Stiefel gemäß des Kostenvoranschlages der Fa. Heins zu übernehmen. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits. Die Berufung wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für die Anfertigung orthopädischer Schuhe einschließlich der Leisten von der Beklagten nach den Vorschriften des Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).
Die 1952 geborene Klägerin leidet an einem Zustand nach einer Arthrodese im rechten Oberschenkelgelenk sowie einem Senk-, Spreiz- und Knickfuß beiderseits. Die Beklagte hatte sie zuletzt im Jahr 2011 mit orthopädischem Schuhwerk versorgt.
Unter Vorlage einer Verordnung für ein Paar orthopädische Stiefel als Straßenschuhe mit Einlagen vom 13. Juni 2013, ausgestellt von G., H., sowie eines Kostenvoranschlages der Firma Heins Orthopädie-Schuhtechnik vom 8. August 2013 über einen Gesamtbetrag von EUR 1.251,03 beantragte die Klägerin die Kostenübernahme ein Paar orthopädischer Schuhe. In dem Betrag des Kostenvoranschlages waren enthalten die Kosten für die Anfertigung neuer Leisten in Höhe von EUR 255,73.
Mit Bescheid vom 19. August 2013 lehnte die Beklagte die Bewilligung ab. Bei einem Wechsel des Orthopädie-Schuhmachers, wie er jetzt von der Klägerin beabsichtigt sei, entstünden zusätzliche Kosten. Die Anfertigung neuer Leisten wäre bei der Anfertigung des neuen orthopädischen Schuhwerks, dessen Notwendigkeit anerkannt werde, beim bisherigen Orthopädie-Schuhmacher nicht erforderlich.
Die Klägerin erhob hiergegen unter dem 17. September 2013 Widerspruch. Dieser wurde mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 2013 zurückgewiesen. Die Klägerin habe kein berechtigtes Interesse an einem Wechsel des Leistungserbringers. Nur wenn die Klägerin die Mehrkosten für die Leisten selbst trage, könne die Versorgung insgesamt befürwortet werden.
Hiergegen erhob die Klägerin unter dem 19. Dezember 2013 Klage zu dem Sozialgericht Stade.
Sie ist der Auffassung, es seien die Kosten für die Leistenanfertigung zu übernehmen.
Sie beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2013 zu verpflichten, die Kosten für die Anfertigung orthopädischer Schuhe gemäß des Kostenvoranschlages der Firma Heins zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, ihre Bescheide seien nicht zu beanstanden.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Befundberichteds bei G., der am 17. Oktober 2014 erstattet worden ist. Im Jahr 2015 ist ein Vergleichsvorschlag des Gerichts seitens der Beklagten abgelehnt worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Bewilligung auch der Kosten für die Anfertigung neuer Leisten durch den Orthopädie-Schuhmacher gegen die Beklagte. Nur dies war zwischen den Beteiligten noch streitig. Der Anspruch hieraus folgt aus § 33 SGB V.
Nach dessen Absatz 1 Satz 1 haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die von der Klägerin begehrten orthopädischen Schuhe sind, wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, medizinisch erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. Weder handelt es sich bei den besonders für die Klägerin angefertigten Schuhen um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, noch ist ein Ausschluss nach § 34 Abs 4 SGB V ersichtlich. Da die Schuhe nicht ohne die Erstellung von Leisten angefertigt werden können, sind auch die hierauf entfallenden Kosten erforderlich iSd § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V.
Es liegt auch kein Verstoß gegen § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V vor. Danach haben Versicherte Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen, wenn sie Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen wählen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen. Dies ist im Fall der Klägerin nicht erfüllt. Weder geht das Paar orthopädischer Schuhe über das Maß des Notwendigen hinaus, noch ist die Anfertigung von Leisten eine zusätzliche Leistung iS der Vorschrift, sondern, wie dargelegt, erforderlich zur Herstellung der Schuhe.
Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot die Leistungspflicht auf die Anfertigung der Schuhe, nicht aber der Leisten, beschränke. Nach § 12 Abs 1 Satz 1 SGB V müssen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkasse nicht bewilligen (Satz 2). Nach § 2 Abs 4 SGB V haben auch die Versicherten darauf zu achten, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden.
Das Einzelkriterium der Wirtschaftlichkeit iSd § 12 SGB V ist in erster Linie für die Relation zwischen Kosten und Heilerfolg bedeutsam: Nur jene Leistung ist wirtschaftlich, bei der das günstigste Verhältnis zwischen Aufwand und Wirkung besteht. Beide Gesichtspunkte sind in einem Kosten-Nutzen-Vergleich gegeneinander abzuwägen, wobei auf der Nutzenseite Art, Dauer und Nachhaltigkeit des Heilerfolges einbezogen werden müssen (BSG, Urteil vom 22. Juli 1981, 3 RK 50/79). Steht nur eine wirksame Methode zur Verfügung, sind die Kosten grundsätzlich irrelevant. Existieren mehrere wirksame Methoden, sind die Kosten der jeweils benötigten Quantität der Leistung und voraussichtlichen Behandlungserfolg zu prognostizieren. Nur die kosteneffektivste unter den wirksamen Behandlungen darf erbracht werden. Eine Behandlung der Kosten ist somit (erst) geboten, wenn mindestens zwei zweckmäßige, ausreichende und wirtschaftliche Leistungen indiziert sind (Roters, in: Kasseler Kommentar, 84. EL 2014, § 12 SGB V Rdnr 41 und 42).
Gemessen an diesen Vorgaben hat das Gericht bereits Zweifel, ob das Wirtschaftlichkeitsgebot an sich hier einschlägig sein kann. Im Vergleich stehen nicht zwei unterschiedliche Leistungen, sondern die Anfertigung eines Paares orthopädischer Schuhe durch den zuvor gewählten orthopädischen Schuhmacher und den nunmehr zu beauftragenden Anbieter. Gegen die Anwendbarkeit des § 12 SGB V spricht auch, dass sich der bereits vorstehend erörterte § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V letztlich als für den Bereich des Hilfsmittelrechts modifizierte Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsbegriffes darstellt.
Aber auch wenn man das Wirtschaftlichkeitsgebot - gem § 12 SGB V und oder i.V.m. § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V - mit der Beklagten grundsätzlich für einschlägig hält, trägt ihre Auffassung nicht. Denn dies ist mit dem Recht der Klägerin auf freie Wahl der Hilfsmittelerbringer unvereinbar. Gemäß § 33 Abs 6 Satz 1 SGB V können die Versicherten alle Leistungserbringer in Anspruch nehmen, die Vertragspartner ihrer Krankenkasse sind. Nach § 33 Abs 6 Satz 2 SGB V erfolgt die Versorgung durch einen Vertragspartner, der den Versicherten von der Krankenkasse zu benennen ist, wenn die Krankenkasse Verträge nach § 127 Abs 1 SGB V über die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln geschlossen hat. Satz 3 der Vorschrift sieht vor, dass abweichend von Satz 2 Versicherte ausnahmsweise einen anderen Leistungserbringer wählen können, wenn ein berechtigtes Interesse besteht; dadurch entstehende Mehrkosten haben sie selbst zu tragen.
Aus dem Zusammenspiel von § 33 Abs 6 Satz 1 SGB V - die einschränkenden Voraussetzungen des § 33 Abs 6 Sätze 2 und 3 SGB V sind nicht erfüllt - mit § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V folgert das Gericht, dass für die vorliegende Konstellation ein Vorrang der freien Wahl des Hilfsmittelerbringers besteht. Anderenfalls würde die Vorgabe des § 33 Abs 6 Satz 1 SGB V unterlaufen, wonach alle Leistungserbringer in Anspruch genommen werden, die Vertragspartner der Krankenkasse sind. Durch die Wahl eines Orthopädie-Schuhmachers wäre die Klägerin an diesen gebunden, bis sie entweder aus dem Einzugsbereich dieses Schuhmachers verzieht oder sich ihr Gesundheitszustand insofern ändert, als dass für neue Schuhe ohnehin die Anfertigung angepasster Leisten erforderlich wäre. Eine solche Bindungswirkung lässt sich § 33 SGB V indes nicht entnehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz. Diese Entscheidung ist unanfechtbar, da der Berufungsstreitwert von § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz nicht erreicht ist. Zwar beträgt der lauf Kostenvoranschlag voraussichtliche Gegenwert der angefertigten Schuhe insgesamt EUR 1.251,03, dies ist jedoch vorliegend nicht der maßgebliche Streitwert. Vielmehr ist streitig zwischen den Beteiligten lediglich die Anfertigung neuer Leisten, die nach Mitteilung der Beklagten einen Gegenwert von EUR 255,73 haben. Gründe für die Zulassung der Berufung waren für das Gericht nicht ersichtlich, da hier eine einfache Rechtsanwendung vorgenommen wurde.