Sozialgericht Stade
Urt. v. 07.04.2015, Az.: S 1 KR 139/12
Anspruch eines gesetzlichen Krankenversicherten auf Kostenübernahme für die Versorgung mit Zahnimplantaten
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 07.04.2015
- Aktenzeichen
- S 1 KR 139/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 15231
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2015:0407.S1KR139.12.0A
Rechtsgrundlagen
- § 27 Abs 1 S. 2 Nr 2a SGB V
- § 28 Abs 2 S. 1 SGB V
Redaktioneller Leitsatz
§ 28 Abs. 2 S. 9 Hs. 2 SGB V ist dahingehend auszulegen, dass implantologische Leistungen nur dann ausnahmsweise als Sachleistung zu erbringen sind, wenn sie ein notwendiger Teil einer medizinischen Gesamtbehandlung sind, die sich ihrerseits aus verschiedenen, nämlich aus humanen und zahnmedizinischen notwendigen Bestandteilen zusammensetzt, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Dies gilt insbesondere auch für Fälle einer genetischen Nichtanlage von Zähnen (Oligodontie), auch wenn diese in ihren Auswirkungen regelmäßig auf die Beeinträchtigung der Kaufunktion begrenzt ist und sich eine andere, damit verbundene medizinische Behandlungsbedürftigkeit in der Regel nicht ergibt.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für die Versorgung mit Zahnimplantaten von der Beklagten nach den Vorschriften des Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Die 1988 geborene Klägerin litt an einer genetischen Nichtanlage von Zähnen, sogenannte Oligodontie. Im Oberkiefer fehlten von Geburt an 8 Zähne (13, 14, 16, 18 sowie 23, 25, 26 und 28). Im Unterkiefer fehlten 11 Zähne (41-46, 48, 32, 35, 36, 38). Unter dem 24. November 2011 stellte die Klägerin einen Antrag auf implantologische Behandlung durch die Zahnärztin G ... Beigefügt war ein Heil- und Kostenplan über einen Gesamtbetrag von EUR 8.093,21. Geplant war der Ersatz der Zähne im Unterkiefer 32, 35, 36 durch implantatgetragene Einzelkronen und der Zähne 41-46 durch eine implantatgetragene Brücke. Im Oberkiefer war der Ersatz der fehlenden Zähne durch implantatgetragene Einzelkronen beabsichtigt. Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) kam im Gutachten vom 13. Dezember 2011 zu dem Ergebnis, dass die Kriterien einer Ausnahmeindikation der generellen Nichtanlage von Zähnen nur im Unterkiefer erfüllt seien. Im Oberkiefer hingegen sei die erforderliche Anzahl fehlender Zähne nicht erreicht, da lediglich 8 von 16 Zähnen nicht angelegt seien. Im Unterkiefer sei eine implantologische Versorgung der Zähne 41-47 mit vier Implantaten indiziert. Im Übrigen sei für die Zähne 31-37 die Versorgung der Klägerin mit einem konventionellen Zahnersatz ausreichend. Im Oberkiefer seien die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme der Implantate durch die Gesetzliche Krankenversicherung nicht gegeben, da hier nicht mehr als die Hälfte der Zähne fehle. Die Beklagte teilte der Klägerin im Schreiben vom 21. Dezember 2011 mit, dass eine Kostenübernahme nur begrenzt auf vier Implantate im Unterkiefer erfolgen könne. Nachdem die Klägerin weitere Kostenvoranschläge bzw Rechnungen eingereicht hatte, übernahm die Beklagte mit Bescheid vom 17. Februar 2012 die Kosten für Implantate für die Klägerin zur Versorgung der Zähne 41-46 nach folgenden Maßgaben: Laborkosten für Implantate und Zahnersatz des Unterkiefers wurden in voller Höhe übernommen. Die Beklagte begrenzte die Kostenübernahme auf den 2,3-fachen Satz nach GOZ für das zahnärztliche Honorar, soweit nicht im Einzelfall nach näherer Begründung ein höherer Kostenansatz gerechtfertigt sei. Hinsichtlich Röntgenaufnahmen übernahm die Beklagte den 1,8-fachen GOÄ-Satz. Eine Kostenübernahme für die Versorgung des Oberkiefers wurde unter Verweis die Stellungnahme des MDK hingegen abgelehnt. Die Klägerin erhob gegen den Bescheid vom 17. Februar 2012 Widerspruch am 20. Februar 2012. Sie reichte in der Folgezeit weitere Rechnungen für Unter- bzw Oberkiefer im Gesamtrechnungsbetrag von EUR 6.138,62 inklusive Laborkosten ein. Mit Schreiben vom 28. Februar 2012 übernahm die Beklagte für die Implantatversorgung im Unterkiefer gemäß der Rechnung vom 20. Januar 2012 den Gesamtbetrag von EUR 3.284,13. Mit Bescheid vom 7. August 2012 bewilligte die Beklagte zusätzlich einen Festzuschuss von jeweils EUR 1.336,23 für die Versorgung mit Zahnersatz im Oberkiefer und im Unterkiefer. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. April 2012 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Sie nahm zur Begründung Bezug auf die Ausführungen des MDK zur Erforderlichkeit von einer Versorgung mit Implantaten. Hiergegen erhob die Klägerin am 30. Mai 2012 Klage zu dem Sozialgericht Stade. Die Klägerin ist der Auffassung, ihr seien die Gesamtkosten für die implantologische Behandlung zu erstatten. Sie beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Februar 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2012 zu verpflichten, die Gesamtkosten für die implantologische Behandlung zu übernehmen. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Sie ist der Auffassung, ihre Bescheide seien nicht zu beanstanden. Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Befundberichtes bei Frau Alpers, der unter dem 20. August 2012 erstattet worden ist, sowie durch die Einholung eines Gutachtens bei H., das auf die Beweisanordnung vom 1. Oktober 2013 am 17. April 2014 erstattet worden ist. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Erstattung der Kosten für zahnimplantologische Leistungen über die bereits von der Beklagten bewilligten Beträge hinaus nach den Vorschriften des Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte - wie die Klägerin - Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua zahnärztliche Behandlung und die Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 2a SGB V). Die zahnärztliche Behandlung ihrerseits umfasst die Tätigkeiten des Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist; sie umfasst auch konservierend chirurgische Leistungen und Röntgenleistungen, die im Zusammenhang mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen erbracht werden. Welche Tätigkeiten des Zahnarztes iSd § 28 Abs 2 Satz 1 SGB V zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig sind, konkretisiert die Behandlungsrichtlinie Zahnärzte auf der Grundlage des § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB V. Implantologische Leistungen schließt § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V von der zahnärztlichen Behandlung grundsätzlich aus. Versicherte haben nach dieser Vorschrift ausnahmsweise gleichwohl in seltenen, vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) in Richtlinien nach § 92 Abs 1 SGB V festzulegenden Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle Anspruch auf implantologische Leistungen, wenn sie einschließlich der Suprakonstruktion im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung als Sachleistung zu erbringen sind. Die Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Zahnbehandlungsrichtlinie, idF ab 1. Januar 2004) erfassen die Erkrankung der Klägerin nicht als Ausnahmeindikation im Sinne des SGB V. Dazu gehören gemäß Kapitel B VII Nr 2 Satz 4 Zahnbehandlungsrichtlinie nur folgende Krankheiten: Größere Kiefer- oder Gesichtsdefekte, die ihre Ursachen haben in Tumoroperation, Entzündung des Kiefers, Operation in Folge von großen Zysten, Operationen in Folge von Osteopathien, angeborenen Fehlbildungen des Kiefers oder Unfällen; dauerhaft bestehende extreme Mundtrockenheit (Xerostomie), insbesondere im Rahmen einer Tumorbehandlung; generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen; nicht willentlich beeinflussbare muskuläre Fehlfunktion im Mund oder Gestikgesichtsbereich (zB Spastiken). Bei der Klägerin ist unstreitig eine generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen (Oligodontie) gegeben. Jedenfalls gilt dies für den Unterkiefer, in dem 11 von 16 Zähnen fehlen. Das Gericht kann vorliegend offen lassen, ob aus der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. Juli 2004, B 1 KR 37/02 R, folgt, dass die Nichtanlage, dh das Fehlen von mehr als der Hälfte der Zähne, gesondert für jeden Kiefer zu beurteilen ist oder ob es allein darauf ankommt, ob insgesamt mehr als die Hälfte der Zähne in beiden Kiefern zusammengenommen fehlen. Diese Frage ist letztlich nicht entscheidungserheblich, weil aus der jüngeren Rechtsprechung des BSG abzuleiten ist, dass die Klage aus anderen Gründen keinen Erfolg haben kann. Denn die Voraussetzungen des § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V sind nicht erfüllt. Nach dem Urteil des BSG vom 7. Mai 2013, B 1 KR 19/12 R, ist § 28 Abs 2 Satz 9 Halbsatz 2 SGB V nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Regelungssystem bzw Zweck zu entnehmen, dass implantologische Leistungen nur dann als Sachleistung zu erbringen sind, wenn sie ein notwendiger Teil einer medizinischen Gesamtbehandlung sind, die sich ihrerseits aus verschiedenen, nämlich aus humanen und zahnmedizinischen notwendigen Bestandteilen zusammensetzt, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Diesen Voraussetzungen, die in einer weiteren Entscheidung des BSG vom 4. März 2014, B 1 KR 6/13 R, bestätigt worden sind, schließt sich das erkennende Gericht an. Die so umgrenzten Anforderungen an eine Leistungspflicht der Beklagten sind nicht erfüllt. Vorliegend war kein Gesamtkonzept in der medizinischen Behandlung gegeben, das über den zahnmedizinischen Eingriff zur Herstellung der Kaufähigkeit hinausging. Ein solches medizinisches Gesamtkonzept wird sich bei der bei der Klägerin vorhandenen Oligodontie auch kaum jemals feststellen lassen. Denn die genetische Nichtanlage von Zähnen ist in ihren Auswirkungen regelmäßig auf die Beeinträchtigung der Kaufunktion begrenzt, eine andere, damit verbundene medizinische Behandlungsbedürftigkeit ergibt sich in der Regel - und auch vorliegend - nicht. Dennoch kann hieraus nicht abgeleitet werden, dass die Voraussetzungen, wie sie das BSG in den genannten Entscheidungen für einen Leistungsanspruch des Versicherten auf Versorgung mit Implantaten voraussetzt, ausnahmsweise nicht greifen. Denn die Entscheidung des BSG vom 7. Mai 2013, aaO, erging gerade für einen Fall, in dem eine Oligodontie gegeben war. Die Herleitung der vorstehend dargestellten Einschränkung eines Leistungsanspruches gegen die gesetzliche Krankenversicherung auf die Versorgung mit Implantaten erging demnach gerade im Hinblick auf die Ausnahmeindikation Oligodontie, ließ den vorstehend dargelegten Umstand der bei dieser Erkrankung regelmäßig fehlenden Gesamtbehandlungsbedürftigkeit damit nicht außer Betracht. Auf die Feststellungen des vom Gericht beauftragten medizinischen Sachverständigen Dr. Seedorf kam es demnach nicht mehr an. Nur ergänzend ist daher darauf hinzuweisen, dass der Sachverständige die Einschätzung des MDK bestätigt hat, dass die Versorgung der Zähne 31-37 im Unterkiefer ebenso fachgerecht mit einer konventionellen Brückenversorgung hätte stattfinden können wie mit der implantologischen Versorgung. Vor diesem Hintergund wäre die Klage auch ohne die Vorgaben der nach Klageerhebung entstandenen Rechtsprechung des BSG nicht erfolgreich gewesen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.