Sozialgericht Stade
Beschl. v. 16.11.2015, Az.: S 9 R 8/15 ER

Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
16.11.2015
Aktenzeichen
S 9 R 8/15 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 30642
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2015:1116.S9R8.15ER.0A

Tenor:

Der von der Antragstellerin gestellte Antrag vom 19. Oktober 2015, den Bescheid vom 30. Januar 2014 aufzuheben und die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, ihr auf ihren am 12. Dezember 2013 gestellten Antrag Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren, wird abgelehnt. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I. Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, der Antragstellerin auf ihren am 12. Dezember 2013 gestellten Antrag Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu zahlen. Die 1976 geborene Antragstellerin, die einen Haushalt mit Ehemann und drei 1999 bzw. 2003 geborenen Kindern versorgt (D., geb. am 28. Dezember 1999; E. und F., jeweils geb. am 13. Januar 2003), ist Altenpflegehelferin im ambulanten Pflegedienst (zuletzt Firma G., H.). Nachdem die Antragstellerin ab dem 18. Juni 2013 dauerhaft arbeitsunfähig geschrieben worden war, stellte sie am 6. August 2013 formlos bei der Antragsgegnerin den Antrag, Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren. In Anbetracht einer Rückenerkrankung, Wassereinlagerungen und Lymphabflussstörungen bei Übergewicht, einer Unterfunktion der Schilddrüsen, Diabetes mellitus Typ II, Eisenmangel, einer zu hohen Anzahl weißer Blutkörperchen, eines Zustandes nach operiertem Gebärmutterkrebs, Gallensteinen und eines Faktor V-Syndroms bestehe eine allgemeine körperliche Schwäche und die Unmöglichkeit, einen vollen Arbeitstag zu bewältigen. Insbesondere könne sie weder schwer heben noch dauerhaft im Stehen tätig sein. Die Antragsgegnerin forderte die Antragstellerin zunächst ohne Erfolg auf, den Antrag auch formularmäßig zu stellen. Mit ihrem Bescheid vom 15. Oktober 2013 lehnte es die Antragsgegnerin sodann bereits aus Gründen fehlender Mitwirkung ab, die begehrte Rente zu gewähren. Nachdem die Antragstellerin das Versäumte nachgeholt hatte und nachdem I. unter dem 26. November 2013 zu dem parallel im August 2013 gestellten Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ein Gutachten erstellt hatte und zu der Einschätzung eines weiterhin sechs Stunden und mehr umfassenden Leistungsvermögens gelangt war, lehnte die Antragsgegnerin den Rentenantrag mit ihrem Bescheid vom 30. Januar 2014 ab. Die Antragstellerin erhob unter dem 24. Februar 2014 Widerspruch. Parallel bewilligte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 26. Februar 2014 eine medizinische Leistung zur Rehabilitation im Rehazentrum J ... Zur Durchführung der angedachten Reha-Maßnahme kam es in der Folgezeit nicht. Denn unter dem 6. März 2014 hatte der behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin Will der Antragstellerin in Anbetracht einer bevorstehenden Operation eines Nabelbruchs fehlende Rehafähigkeit bescheinigt. Unter dem 2. Oktober 2014 attestierte der Facharzt Will, die Antragstellerin sei auch weiterhin nicht für eine Reha-Maßnahme belastbar. Es stünden zunächst noch weitere Operationen an. Zum Rentenverfahren erstatteten sodann die Fachärzte für Innere Medizin und Angiologie K. und Frau Dr. L. unter dem 15. Dezember 2014 ein Gutachten mit der abschließenden Beurteilung, die Antragstellerin sei in Anbetracht einer aktuell auftretenden Schwellneigung nur noch weniger als drei Stunden pro Tag beruflich zu belasten. Im Vordergrund der Diagnosen stehe ein schlecht kompensiertes Lymphödem II der Arme und Beine. Die Antragstellerin habe glaubhaft berichtet, ungeachtet einer Kompressionstherapie und manueller Lymphdrainagen bildeten sich bereits am späten Vormittag und bei nur geringer Belastung Ödeme. Zu dem von der Antragsgegnerin aufrechterhaltenen Angebot an die Antragstellerin, eine medizinische Heilmaßnahme zu durchlaufen (Bescheid vom 26. Februar 2014), gingen in den Folgemonaten mehrere Schriftsätze der Antragstellerin ein. Am 17. Februar 2015 teilte sie mit, derzeit aus persönlichen Gründen die Maßnahme nicht bzw. nicht in der angedachten Form antreten zu können. Vorrangig müsse sie ihrer elterlichen Sorge gegenüber der Tochter und den beiden Söhnen nachkommen. Im Schriftsatz vom 19. März 2015 hieß es, die - von der Antragsgegnerin diesbezüglich angebotene - Haushaltshilfe bzw. Kinderbetreuung komme in ihrem Einzelfall nicht in Frage. So sei beispielsweise D. sei im letzten Jahr für die Eröffnung eines Strafverfahrens verantwortlich geworden. In Betracht komme lediglich, die Reha-Maßnahme ambulant durchzuführen. Am 8. Mai 2015 erklärte die Antragstellerin, die Reha-Maßnahme könne wohnortnah auch in stationärer Form durchgeführt werden. Zunächst stünden jedoch weitere Krankenhausbehandlungen im Klinikum M. an. Nach weiterem Schriftverkehr führte die Antragstellerin am 17. September 2015 aus, ihr Gesundheitszustand habe sich weiter verschlechtert. Sie sei nunmehr - ohne den vorherigen Versuch einer Rehabilitation - zu berenten. Demnächst werde sie von ihrer Krankenkasse ausgesteuert. Die Antragsgegnerin veranlasste daraufhin eine prüfärztliche Stellungnahme. Für den Ärztlichen Dienst erklärte Frau Dr. N. am 25. September 2015, die Durchführung einer Reha-Maßnahme sei auch weiterhin sowohl aus lymphologisch-angiologischer als auch aus orthopädisch-rheumatologischer Sicht angezeigt. Es bestünden realistische Aussichten auf Besserung des Gesundheitszustandes. Zur weiteren Klärung sei allerdings vorerst eine erneute Begutachtung anzuraten. Noch im Vorwege dieser angeratenen Begutachtung ging am 19. Oktober 2015 der zum vorliegenden gerichtlichen Rechtsstreit führende Antrag ein, die Antragsgegnerin bereits einstweilen zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung zu verpflichten. Die Bundesagentur für Arbeit, die die finanzielle Absicherung zwischenzeitlich übernommen habe, zahle Arbeitslosengeld I voraussichtlich nur noch bis zum 5. November 2015. Die Antragstellerin beantragt sinngemäß nach ihrem Vorbringen im schriftlichen Verfahren,

die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Bescheides vom 30. Januar 2014 einstweilen zu verpflichten, ihr Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf ihren Antrag vom 12. Dezember 2013 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

den einstweiligen Rechtsschutzantrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin verweist darauf, eine orthopädisch-psychiatrische Begutachtung am 5. Oktober 2015 bereits eingeleitet zu haben. Daraufhin sei vorerst der Schriftsatz der Antragstellerin eingegangen, der zum Gutachter bestellte Arzt sei fachlich nicht zuständig. Der Ärztliche Dienst habe dies zwischenzeitlich geprüft, sei den Bedenken gegen die Auswahl des Sachverständigen allerdings nicht gefolgt. Soweit sich die Antragstellerin nunmehr entschließen könne, an der angedachten Begutachtung teilzunehmen, könne das Rentenverfahren zügig zum Abschluss gebracht werden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der von der Antragsgegnerin übersandten Renten- und Reha-Akten verwiesen. Des weiteren wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte zu der am 19. Oktober 2015 gleichzeitig von der Antragstellerin erhobenen Untätigkeitsklage (Az. S 9 R 414/15). II. Der zulässige Antrag ist in der Sache nicht begründet. Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache - sofern, wie hier, ein Fall des Absatzes 1 der Vorschrift nicht vorliegt - eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn 1. im Hinblick auf die Aussichten, mit dem materiell geltend gemachten Recht in der Hauptsache zu obsiegen, ein Anordnungsanspruch vorliegt und wenn 2. im Hinblick auf eine durch eine drohende Notlage bedingte Eilbedürftigkeit ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden ist. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr bilden beide Aspekte ein bewegliches System in dem Sinne, dass sich die Anforderungen an die Darlegung der drohenden Notlage umso mehr verringern, je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache einzuschätzen sind.

Hohe Erfolgsaussichten, die die Anforderungen an die Darlegung einer drohenden Notlage entscheidend mindern würden, sind nicht zu bejahen. Vielmehr stellt sich ein Erfolg für die Antragstellerin als auf der Grundlage der aktenkundig gewordenen Erkenntnisse eher ungewiss dar.

Anspruchsgrundlage für die begehrte Rente wegen voller Erwerbsminderung ist § 43 Abs. 2 S 1und S 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte bis zur Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Anspruchsgrundlage für einen - zumindest dem Sinne nach hilfsweise gestellten - Antrag auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, ist § 43 Abs. 1 S 1 und S 2 SGB VI, wonach dieselben versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Nrn. 2 und 3 wie in Abs. 2 der Norm gelten, jedoch lediglich ein Herabsinken des Leistungsvermögens in Folge von Krankheit oder Behinderung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf weniger als 6 Stunden täglich gefordert wird. Aufgrund einer auf 3 bis unter 6 Stunden, nicht aber auf unter 3 Stunden herabgesunkenen Erwerbsfähigkeit hat ein Versicherter demnach eigentlich nur Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI. Er erhält aber tatsächlich in den meisten Fällen Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI, weil nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG; vgl. BSGE 30, 167 [BSG 11.12.1969 - GS 4/69]; 43, 74) regelmäßig eine Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes zu unterstellen ist dergestalt, dass weder die zuständige Agentur für Arbeit noch der Rentenversicherungsträger innerhalb eines Jahres einen zumutbaren Teilzeitarbeitsplatz vermitteln können. Die zunächst entgegen den Buchstaben des Gesetzes vom BSG entwickelte Berücksichtigung des Teilzeitarbeitsmarktes (konkrete Betrachtungsweise) hat zwischenzeitlich Billigung und Bestätigung in § 43 Abs. 3 SGB VI gefunden. Da es dort heißt, bei den mindestens 6 Stunden pro Arbeitstag leistungsfähigen Versicherten sei die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht zu berücksichtigen, ist das Gegenteil für alle weniger als 6 Stunden leistungsfähigen Versicherten anzunehmen. Im Falle der Antragstellerin kann diese Rechtsprechung zum Tragen kommen vor dem Hintergrund einer ab dem 18. Juni 2013 dauerhaften Arbeitsunfähigkeit auf ihrem - ihr nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht mehr zuzumutenden - Arbeitsplatz einer Altenpflegehelferin im ambulanten Pflegedienst (Firma G., H.).

Während die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch der Antragstellerin auf ihren gestellten Antrag von der Antragsgegnerin bejaht worden sind und daran aus Sicht der Kammer auch keine Zweifel bestehen, fehlt es hier z. Zt. an genügenden Aussichten, mit dem materiell geltend gemachten Recht, dem sozialversicherungsrechtlichen Tatbestand einer zumindest teilweisen Erwerbsminderung, in der Hauptsache zu obsiegen. Bedeutsam ist dabei, dass für die Klärung der Frage nach dem Vorliegen zumindest teilweiser Erwerbsminderung die Bedingungen auf dem Arbeitsplatz einer Altenpflegehelferin im ambulanten Pflegedienst keine Rolle spielen. Denn als nach dem 1. Januar 1961 geborene Versicherte vermag die Antragstellerin Berufsschutz nicht in Anspruch zu nehmen. Abzustellen ist allein auf die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Für die Annahme diesbezüglich dauerhafter, also länger als ein halbes Jahr vorhandener Leistungseinschränkungen bedarf es offenbar weiterer Prüfung:

Der Kammer erscheint es als sachgerecht und geboten, im Vorwege etwaiger Rentenleistungen das Ergebnis der von der Antragsgegnerin - auf die Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 25. September 2015 - bereits eingeleiteten Begutachtung abzuwarten. Die Antragsgegnerin hat deutlich gemacht, die Frage nach einer für die Antragstellerin günstig ausfallenden Entscheidung wesentlich vom Ergebnis dieser Begutachtung abhängig zu machen. Der Antragstellerin ist zwar darin recht zu geben, aus dem Gutachten des Facharztes K. vom 15. Dezember 2014 könnten schon erhebliche Anhaltspunkte für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenberechtigenden Grad abgeleitet werden. Zu einer überwiegenden und für den Erfolg im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ausreichenden Sicherheit führt diese Beurteilung allerdings nicht. Denn der Facharzt K. hat am 15. Dezember 2014 gleichzeitig mit seiner Leistungsbeurteilung vorgeschlagen, die - zum damaligen Zeitpunkt bereits eingeleiteten - Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation zu ergreifen, um die berufliche Leistungsfähigkeit zu bessern. Darüber hinaus war die Beurteilung aufgrund der Untersuchung vom 15. Dezember 2014 möglicherweise zu einem Teil der Aktualität geschuldet. Es hieß im Gutachten nämlich ua weiter, eine Besserung der Lymphödeme II. Grades sei - auch noch nach Jahren - möglich.

Indem die Antragsgegnerin den Blick auf die Therapieoptionen gelegt hat, hat sie dem Grundsatz "Reha vor Rente" (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) Rechnung getragen. Ob sich im Verlaufe des Jahres 2015 eine Änderung im Sinne nicht mehr ausreichender Rehafähigkeit ergeben hat, lässt die Kammer dahinstehen. Denn unabhängig davon, ob man auf diese Frage eine bejahende oder eine verneinende Antwort gibt, bleibt es bei einer nicht ausreichenden Grundlage für vorläufige Rentenleistungen. Entweder liegt es nämlich jeweils an der Antragstellerin, die bisher zur Kenntnis der Antragsgegnerin und zur Kenntnis des Gerichts gelangten Hindernisse betreffend den Antritt einer Reha-Maßnahme zu überwinden oder aber, die nunmehr von der Gegenseite eingeleitete Begutachtung durchführen zu lassen. Ungeachtet dessen, dass der von der Antragsgegnerin bestimmte Gutachter möglicherweise nicht alle vom Ärztlichen Dienst zunächst genannten Fachgebiete abdeckt, ist es der Antragstellerin zuzumuten, an der Untersuchung mitzuwirken. Etwaigen Mängeln kann nachfolgend Rechnung getragen werden.

Da nach alledem derzeit keine hohen Erfolgsaussichten in der Sache bejaht werden können, kam es nicht mehr auf Einzelheiten zur Darlegung einer eventuell drohenden Notlage an. Nur ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass Näheres zu einer Hilfebedürftigkeit, insbesondere zur Unterhaltsfähigkeit des Ehemannes, nicht zu den Akten gelangt ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.