Sozialgericht Stade
Beschl. v. 09.06.2015, Az.: S 29 KR 17/15 ER
Nachweis der Arbeitsunfähigkeit (AU) im Rahmen der weiteren Zahlung von Krankengeld an einen Arbeitnehmer
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 09.06.2015
- Aktenzeichen
- S 29 KR 17/15 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2015, 17912
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2015:0609.S29KR17.15ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V
- § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V
Redaktioneller Leitsatz
1.
Im Regelungssystem der § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in Verbindung mit § 192 Abs. 1 Nr. 2 und § 44 Abs. 1 SGB V ist eine nachträgliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (AU) grundsätzlich nicht möglich.
2.
Die Folgen einer unterbliebenen oder nicht rechtzeitigen ärztlichen Feststellung der AU sind grundsätzlich vom Versicherten zu tragen.
3.
Der nachgehende Leistungsanspruch aus § 19 Abs. 2 S. 1 SGB V verdrängt eine ansonsten regelmäßig vorrangige Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V (Versicherungspflicht der Nichtversicherten nach Ende eines gesetzlichen Versicherungsverhältnisses) oder - wie hier - eine Mitversicherung als Familienangehöriger nach § 10 SGB V nur dann, wenn bei einer prognostischen Betrachtungsweise davon auszugehen ist, dass der Versicherte innerhalb eines Monats eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall erlangen wird.
Tenor:
Der Antrag, die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, Krankengeld über den 28. Januar 2015 hinaus zu gewähren, wird abgelehnt. Kosten des Antragsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Frage, ob die Antragsgegnerin der Antragstellerin Krankengeld über den 28. Januar 2015 hinaus zahlen muss. Es geht um das Problem einer Lücke im Nachweis der Arbeitsunfähigkeit (AU). Die 1996 geborene Antragstellerin war aufgrund einer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin seit Oktober 2013 bei der Antragsgegnerin gesetzlich gegen das Risiko der Krankheit versichert. Das Ausbildungsverhältnis endete durch Kündigung am 31. März 2014. Noch im Verlaufe der Probezeit, nämlich am 17. Februar 2014, erkrankte die Antragstellerin arbeitsunfähig (au). Bei den AU-begründenden Diagnosen wiederkehrender depressiver Störungen, organischaffektiver Störungen sowie depressiver Episoden befand sie sich in laufender Behandlung bei dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Jugendpsychotherapie Jung sowie stationär im D. E. in F ... Die Antragsgegnerin zahlte ab dem 1. April 2014 laufend Krankengeld. Die Zahlungen endeten zunächst am 25. Juli 2014, weil der Facharzt G. die AU lediglich bis zu diesem Datum bescheinigt und eine Folgebescheinigung erst am 28. Juli 2014 ausgestellt hatte. Unter anderem im Hinblick auf eine eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin vom 1. Oktober 2014, wonach die Arztpraxis einen Wiedervorstellungstermin am 25. Juli 2014 abgelehnt und eine Wiedervorstellung am 28. Juli 2014 vorgegeben habe, zahlte die Antragsgegnerin das Krankengeld ungeachtet der entstandenen Lücke im Nachweis fort. Der zwischenzeitlich von der Antragstellerin konsultierte Diplom-Mediziner H., der die Diagnosen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und einer Dystonie gestellt hatte, bescheinigte im Verlaufe des weiteren Krankengeldbezuges zuletzt am 21. Januar 2015 AU bis zum 28. Januar 2015. Eine Folgebescheinigung über das Weiterbestehen von AU stellte dieser Arzt erst wieder am 19. Februar 2015 aufgrund der an diesem Tag erfolgten Wiedervorstellung aus. Die Antragsgegnerin erließ daraufhin den Bescheid vom 6. März 2015, mit dem sie das Ende der Krankengeldzahlungen auf den 28. Januar 2015 festsetzte. Über den 28. Januar 2015 hinaus könne Krankengeld nicht gezahlt werden. Die Antragstellerin habe sich spätestens an diesem Tag erneut au schreiben lassen müssen. Die erst am 19. Februar 2015 ausgestellte AU-Bescheinigung habe einen erneuten Anspruch auf Krankengeld nicht begründen können. Denn am 28. Januar 2015 habe nicht nur der Anspruch auf Krankengeld, sondern darüber hinaus auch das - über das Ende des Ausbildungsverhältnisses hinaus - den Anspruch auf Krankengeld begründende, nachgehende Versicherungsverhältnis geendet. Mit ihrem Widerspruchsbescheid vom 22. April 2015 wies die Antragsgegnerin den von der Antragstellerin erhobenen Widerspruch zurück. Dagegen richtet sich die Antragstellerin einerseits mit der am 21. Mai 2015 eingegangenen Klage (zum Aktenzeichen S 29 KR 117/15), andererseits mit dem hier streitgegenständlichen einstweiligen Rechtsschutzantrag. Sie trägt zur Begründung vor, aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung bedürfe sie dauerhaft der Behandlung und Betreuung. Der Diplom-Mediziner H. habe ihr gegenüber im Übrigen versichert, einen möglicherweise einmal auftretenden Fehler in der fortlaufenden Bescheinigung der AU gegenüber der Antragsgegnerin zu korrigieren. Unter dem 21. Mai 2015 versichert die Antragstellerin darüber hinaus an Eides Statt u.a., ohne die Zahlungen der Krankenkasse mittellos zu sein. Ihre Eltern, bei denen sie kostenfrei wohne, unterstützten sie notdürftig. Den schon abgelaufenen Zeitraum habe sie aus eigenen Ersparnissen überbrücken können.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß nach ihrem Vortrag im schriftlichen Verfahren,
die Antragsgegnerin einstweiligen zu verpflichten, ihr Krankengeld auch über den 28. Januar 2015 hinaus zu zahlen.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzuweisen.
Die Antragsgegnerin hält die angefochtenen Bescheide für auch weiterhin zutreffend. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Der zulässige Antrag ist in der Sache nicht begründet. Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache - sofern, wie hier, ein Fall des Absatzes 1 der Vorschrift nicht vorliegt - eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn 1. im Hinblick auf die Aussichten, mit dem materiell geltend gemachten Recht in der Hauptsache zu obsiegen, ein Anordnungsanspruch und wenn 2. im Hinblick auf eine durch eine Notlage bedingte Eilbedürftigkeit ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr bilden beide Aspekte ein bewegliches System in dem Sinne, dass sich die Anforderungen an die Darlegung der drohenden Notlage umso mehr verringern, je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache einzuschätzen sind. Hohe Erfolgsaussichten, die die Anforderungen an die Darlegung einer drohenden Notlage entscheidend mindern würden, sind nicht zu bejahen. Vielmehr stellt sich ein Erfolg für die Antragstellerin in dem anhängigen Hauptsacheverfahren S 29 KR 117/15 als eher unwahrscheinlich dar. Ein Anspruch auf Krankengeld setzt nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) voraus, dass eine Krankheit den Versicherten au macht. Der Krankengeldanspruch entsteht von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der AU folgt, § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V. Er reicht bis zum letzten bescheinigten Tag. Da der Diplom-Mediziner H. im Vorwege des streitigen Zeitraumes zuletzt am 21. Januar 2015 AU bis zum 28. Januar 2015 bescheinigt hatte, endete der Anspruch auf Zahlung von Krankengeld mit diesem Tag, also mit dem 28. Januar 2015. Und weil der Grundsatz des Entstehens des Krankengeldanspruchs erst ab dem Folgetag nach einer (erneuten) Feststellung unabhängig davon gilt, ob es sich um eine erstmalige Gewährung handelt oder aber ein Anspruch bereits fortlaufend bestanden hatte, konnte die Feststellung vom 19. Februar 2015 keinen Anschluss an die bisherige und am 28. Januar 2015 beendete Krankengeldgewährung bewirken. Und genausowenig konnte die Feststellung vom 19. Februar 2015 ab dem Folgetag, also ab dem 20. Februar 2015, einen erneuten Anspruch auf Krankengeld bewirken. Dafür fehlte es nunmehr am Vorliegen eines den Krankengeldanspruch begründenden Versicherungsverhältnisses. Das ursprünglich nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V aufgrund des Ausbildungsverhältnisses bestehende Versicherungsverhältnis mit Anspruch auf Krankengeld war lediglich durch den fortlaufenden Bezug des Krankengeldes aufrechterhalten worden, § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V. Mit dem Ende der Zahlungen hatte zur selben Zeit die fortbestehende Mitgliedschaft ihr Ende gefunden. Und für das Entstehen eines neuen Krankengeldanspruchs hat es ab dem 29. Januar 2015 an der in § 44 Abs. 1 SGB V vorausgesetzten Versicherteneigenschaft gefehlt.
Die Kammer vermag die Kritik der Antragstellerin an den strengen gesetzlichen Vorgaben sowie an der diese Vorgaben betonenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nachzuvollziehen. Von Bedeutung ist dabei jedoch das Konzept des Gesetzgebers, das Krankengeld als nur kurzfristige und nur zeitabschnittsweise zu gewährende Leistung vorzusehen, nicht jedoch als Dauerleistung; außerdem, eine zeitnahe Überprüfbarkeit der AU-Feststellungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und eine eventuelle, rechtzeitige Einleitung von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation zu ermöglichen. In das so beschriebene Konzept passt es nicht, eine erst nachträgliche Feststellung der AU zuzulassen. Vielmehr passt zu diesem Konzept allein, an das jeweilige Ausstellungsdatum der AU-Bescheinigung anzuknüpfen und Feststellungen nur mit Wirkung für die Zukunft zuzulassen. Es spielt deshalb hier keine anspruchsbegründende Rolle, dass der Diplom-Mediziner H. im Nachhinein das Bestehen von AU auch für den Zeitraum der Lücke vom Ende der letzten Feststellung bis zum neuen Ausstellungsdatum bescheinigt hat. Es fehlt an Anhaltspunkten für einen von der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmefall, in dem die Rechtzeitigkeit der AU-Feststellung ausnahmsweise ohne Bedeutung ist. Eine derartige Konstellation wird dann angenommen, wenn das Fehlen der rechtzeitigen ärztlichen Feststellung der AU auf Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit des Versicherten beruht oder aber dem Verantwortungsbereich der Krankenkasse zuzurechnen ist (vgl Bundessozialgericht - BSG -, Urteile vom 5. Mai 2009, Az. B 1 KR 20/08, vom 30. Juni 2009, Az. B 1 KR 22/08, sowie vom 4. März 2014, Az. B 1 KR 17/13 R): a.) Die von der Antragstellerin betonte und fachärztlich bescheinigte psychische Erkrankung erreicht nicht den Grad einer Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit. Das Gegenteil, nämlich eine ungeachtet der psychischen Erkrankung fortdauernde Fähigkeit, die eigenen Angelegenheiten ausreichend wahrzunehmen, hat sich in der langen Zeit der Krankengeldzahlungen seit dem 1. April 2014 gezeigt. Die Antragstellerin war nämlich über den ganzen Zeitraum bis zum 28. Januar 2015 in der Lage, sich rechtzeitig beim jeweils behandelnden Arzt vorzustellen und sich AU bescheinigen zu lassen. Soweit sie dabei für einzelne Schritte Unterstützung benötigte, hat sie dies in ausreichender Weise sichergestellt. Die Bedeutung der rechtzeitigen Vorstellung beim behandelnden Arzt zur Sicherung der fortlaufenden Zahlungen des Krankengeldes ist der Antragstellerin durch den Vorgang der vorläufig am 25. Juli 2014 beendeten Krankengeldzahlungen vor Augen geführt worden. b.) Ein Anspruch gegen die Antragsgegnerin lässt sich auch nicht mit hinreichender Sicherheit auf das von der Antragstellerin vorgetragene Bekunden des Dipl.-Psychologen H. gründen, für Fehler in der Ausstellung der AU-Bescheinigungen einzustehen. Eine Zurechnung einer solchen Erklärung mit Wirkung gegen die Antragsgegnerin dürfte nicht in Betracht kommen. Vielmehr dürfte aus einem derartigen Vorgang allenfalls ein Anspruch auf Übernahme oder Schadenersatz gegen den Arzt bzw. Ratgeber bestehen, nicht jedoch ein Anspruch auf Krankengeld gegen die Krankenkasse (vgl. BSG - Urteil vom 4. März 2014, Az. B 1 KR 17/13 R unter Bezugnahme auf BSGE 111, 9). Die Folgen einer unterbliebenen oder nicht rechtzeitigen ärztlichen Feststellung der AU sind grundsätzlich vom Versicherten zu tragen, hier von der Antragstellerin des vorliegenden Verfahrens. Die Antragstellerin hat auch keine sonstigen Umstände vorgetragen, die darauf schließen lassen könnten, dass das Unterbleiben einer ärztlichen Feststellung der AU bis spätestens am 28. Januar 2015 durch Umstände verhindert bzw. verzögert worden sein könnte, die nicht ihrem, sondern dem Verantwortungsbereich der Antragsgegnerin zuzurechnen sind. Die Antragsgegnerin dürfte ferner zutreffend darauf hingewiesen haben, dass die Antragstellerin weitergehende Rechte auch nicht aus § 19 SGB V herleiten kann. Zwar sieht § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V einen sog. nachgehenden Leistungsanspruch vor, hier ggf. in Gestalt des Anspruchs auf Krankengeld über einen bestimmten Leistungszeitraum hinaus. Die Regelung des § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V eröffnet den zusätzlichen Leistungsanspruch allerdings nicht voraussetzungslos. Vielmehr ist der Anspruch aus dieser Bestimmung auf Fälle von vornherein absehbar kurzfristiger Überbrückungszeiten bis zum Beginn eines neuen Versicherungsverhältnisses zu begrenzen (vgl. BSG-Urteil vom 10. Mai 2012, Az.: B 1 KR 19/11 R). Der nachgehende Leistungsanspruch aus § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V verdrängt eine ansonsten regelmäßig vorrangige Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V (Versicherungspflicht der Nichtversicherten nach Ende eines gesetzlichen Versicherungsverhältnisses) oder - wie hier - eine Mitversicherung als Familienangehöriger nach § 10 SGB V nur dann, wenn bei einer prognostischen Betrachtungsweise davon auszugehen ist, dass der Versicherte innerhalb eines Monats eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall erlangen wird. Um den Status des Versicherten nach Möglichkeit nicht im Ungewissen zu lassen, ist für die Beurteilung an den Zeitpunkt des Endes der Versicherungspflicht anzuknüpfen, hier also an den 28. Januar 2015. Die Anwendung auf den Fall der Antragstellerin führt somit zur Ablehnung eines Anspruchs aus § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V. Denn an die Aufnahme eines Versicherungspflicht begründenden Beschäftigungsverhältnisses war am 28. Januar 2015 nicht zu denken. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die zur AU führenden Diagnosen, die die Wiederaufnahme einer Beschäftigung erst im Anschluss an einen langen Heilungsprozess erwarten ließen bzw. lassen. Für die Zeit bis zur Stellung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz beim erkennenden Gericht, also für die Zeit bis zum 21. Mai 2015, dürfte es im Übrigen am Vorliegen eines Anordnungsgrundes fehlen. Denn das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes dient der Behebung einer gegenwärtigen Notlage. Eine solche gegenwärtige Notlage muss für Zeiten in der Vergangenheit zwangsläufig ausscheiden. Die Kammer unterstellt bei alledem die Versicherung der Antragstellerin an Eides Statt vom 21. Mai 2015 als zutreffend, ohne die Zahlungen der Krankenkasse mittellos zu sein. Ihre Eltern, bei denen sie kostenfrei wohne, unterstützten sie notdürftig. Nur den schon abgelaufenen Zeitraum habe sie aus eigenen Ersparnissen überbrücken können. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).