Sozialgericht Stade
Beschl. v. 31.08.2015, Az.: S 29 KR 27/15 ER

Versagung der weiteren Zahlung von Krankengeld aufgrund des behaupteten Fehlens einer nahtlosen Feststellung des Bestehens weiterer Arbeitsunfähigkeit

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
31.08.2015
Aktenzeichen
S 29 KR 27/15 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 23967
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2015:0831.S29KR27.15ER.0A

Tenor:

Der Antrag, die Antragsgegnerin einstweiligen zu verpflichten, Krankengeld für die Zeit ab 20. Mai bis zum 22. Juli 2015 zu gewähren, wird abgelehnt. Kosten des Antragsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

I. Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Frage, ob die Antragsgegnerin der Antragstellerin Krankengeld für die Zeit vom 20. Mai bis zum 22. Juli 2015 zahlen muss. Die 1967 geborene und bei der Antragsgegnerin gegen das Risiko der Krankheit versicherte Antragstellerin wurde von dem Arzt für Allgemeinmedizin C. für die Zeit ab dem 25. November 2014 mit der Diagnose F48.0 (psychovegetatives Erschöpfungssyndrom) bzw. mit der Diagnose einer mittelgradigen depressiven Störung arbeitsunfähig geschrieben. Bis zum 5. Januar 2015 zahlte der Arbeitgeber das Entgelt fort. Für die Zeit ab dem Folgetag gewährte die Antragsgegnerin Krankengeld. Am 27. Januar 2015 stellte der Medizinische Dienst der Kranken- versicherung (MDK) die Voraussetzungen für das Bestehen einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit fest und empfahl, eine medizinische Heilmaßnahme zur Rehabilitation durchzuführen. Nachdem das Beschäftigungsverhältnis zwischenzeitlich am 28. Februar 2015 geendet hatte und die Heilmaßnahme zu Lasten des Rentenversicherungsträgers in der Zeit vom 18. Februar bis zum 1. April 2015 erfolgt war, zahlte die Antragsgegnerin für die Zeit ab dem 2. April 2015 erneut Krankengeld. Zugrunde lagen nunmehr die Bescheinigungen des C. vom 1. und vom 15. April 2015, jeweils wieder mit der Diagnose des psychovegetativen Erschöpfungssyndroms. Nachdem der MDK (D.) in seiner Vorberatung zu der Einschätzung gelangt war, über den 19. Mai 2015 hinaus sei das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit nicht mehr zu begründen, beschied die Antragsgegnerin die Antragstellerin am 28. April 2015 dahingehend, die Zahlung des Krankengeldes ende mit dem 19. Mai 2015. Gleichzeitig teilte die Antragsgegnerin C. das Ergebnis der MDK-Fallberatung mit. C. stellte sodann weitere Bescheinigungen über das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit am 29. April 2015 aus (ohne Angabe eines Datums des voraussichtlichen Endes der Arbeitsunfähigkeit) und am 19. Mai 2015 (mit der Wiedergabe, gemäß der Beschlussfassung des MDK sei die Arbeitsunfähigkeit bereits beendet worden; Bescheinigung nur für den 19. Mai 2015). Am 1. Juni 2015 ging bei der Antragsgegnerin der von der Antragstellerin unter dem 27. April 2015 formulierte Widerspruch gegen die Ablehnung weiterer Zahlungen von Krankengeld ein. Die Antragsgegnerin führte daraufhin am 10. Juni 2015 aus, Bescheinigungen über das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit über den 19. Mai 2015 hinaus lägen nicht vor. Im weiteren Fortgang gelangte die Bescheinigung des C. vom 17. Juni 2015 zu den Verwaltungsakten, wonach die Antragstellerin über den 19. Mai 2015 hinaus "de facto" nicht arbeitsfähig gewesen sei. Nachdem zwischenzeitlich die Psychologin E. einen Bericht über den psychischen Zustand der Antragstellerin direkt an den MDK gesandt hatte, erkannte dieser unter dem 9. Juni 2015 das Fortbestehen von Arbeitsunfähigkeit an. Die Antragsgegnerin übernahm diese Beurteilung am 10. Juni 2015, lehnte die weitere Gewährung von Krankengeld gleichwohl unter Hinweis auf die nicht nahtlos erfolgte Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit ab. Mit ihrem am 31. Juli 2015 eingegangenen, streitgegenständlichen Antrag verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren um Zahlung von Krankengeld vor dem erkennenden Gericht weiter, allerdings bezogen allein auf den Zeitraum vom 20. Mai bis zum 22. Juli 2015. Sie habe sich unmittelbar nach Beendigung der Zahlung des Krankengeldes, also am 20. Mai 2015, bei der Agentur für Arbeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt. Die dortige Arbeitsvermittlerin habe (zunächst) im Hinblick auf das bei der Antragsgegnerin laufende Widerspruchsverfahren zu einer neuerlichen Krankschreibung geraten. Am 8. Juli 2015 habe die Agentur für Arbeit dementsprechend die Zahlungen von Arbeitslosengeld eingestellt. Da sich nun aber die Antragsgegnerin ihrerseits geweigert habe, wieder Krankengeld zu zahlen, sei sie am 23. Juli 2015 erneut (und nunmehr offenbar erfolgreich) bei der Agentur für Arbeit vorstellig geworden. Jetzt stelle sich für sie jedoch die Frage, wer in der Zeit vom 20. Mai bis zum 22. Juli 2015 für sie zuständig gewesen sei.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß nach ihrem Vortrag im schriftlichen Verfahren,

die Antragsgegnerin einstweiligen zu verpflichten, Krankengeld auch für die Zeit vom 20. Mai bis zum 22. Juli 2015 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

den Antrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin betont, es fehle an einer nahtlosen Feststellung des Bestehens weiterer Arbeitsunfähigkeit über den 19. Mai 2015 hinaus. Das von C. nachträglich ausgestellte Attest vom 17. Juni 2015 könne aktuell fehlende Ausstellungen weiterer Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit nicht ersetzen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

Der bereits vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens, also vor Erlass des Widerspruchsbescheides, zulässige Antrag ist nicht begründet. Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache - sofern, wie hier, ein Fall des Absatzes 1 der Vorschrift nicht vorliegt - eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn 1. im Hinblick auf die Aussichten, mit dem materiell geltend gemachten Recht in der Hauptsache zu obsiegen, ein Anordnungsanspruch und wenn 2. im Hinblick auf eine durch eine Notlage bedingte Eilbedürftigkeit ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr bilden beide Aspekte ein bewegliches System in dem Sinne, dass sich die Anforderungen an die Darlegung der drohenden Notlage umso mehr verringern, je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache einzuschätzen sind. Hohe Erfolgsaussichten, die die Anforderungen an die Darlegung einer drohenden Notlage entscheidend mindern würden, sind nicht zu bejahen. Vielmehr stellt sich ein Erfolg für die Antragstellerin in einem noch anhängig zu machenden Hauptsacheverfahren als eher unwahrscheinlich dar. Der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch auf Krankengeld setzt nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) in der hier einzig in Betracht zu ziehenden Variante das Vorliegen des sozialmedizinischen Tatbestandes der Arbeitsunfähigkeit voraus. In Anbetracht der Bescheinigung des C. vom 17. Juni 2015 kann die Kammer das Bestehen dieser Anspruchsvoraussetzung für den streitigen Zeitraum vom 20. Mai bis zum 22. Juli 2015 unterstellen. Denn in der Bescheinigung heißt es, die Antragstellerin sei über den 19. Mai 2015 hinaus tatsächlich arbeitsunfähig gewesen, ungeachtet des Umstandes, dass keine weitere Bescheinigung darüber ausgestellt worden sei. Der Anspruch auf Krankengeld ist allerdings nicht nur vom Bestehen des Tatbestandes der Arbeitsunfähigkeit abhängig, vielmehr bedarf es darüber hinaus einer zeitnahen ärztlichen Feststellung. Gemäß § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V entsteht der Anspruch auf Krankengeld nämlich erst von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt. Da es für die Zeit über den 19. Mai 2015 hinaus (bis zum 22. Juli 2015) an dieser - formalen - Voraussetzung der Ausstellung entsprechender Bescheinigungen fehlt, vermag das Vorliegen des sozialmedizinischen Tatbestandes den Anspruch auf Krankengeld nicht auszulösen. Abgesehen von den somit nach den Maßgaben des SGB V fehlenden Anspruchsvorausset- zungen hat die Antragstellerin selbst vorgetragen, sich am 20. Mai 2015 bei der Agentur für Arbeit gemeldet und sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt zu haben. Die Agentur für Arbeit F. hat unter dem 8. Juli 2015 aus Anlass der Erhebung eines Erstattungsanspruchs mitgeteilt, der Antragstellerin für die Zeit vom 20. Mai bis zum 30. Juni 2015 Arbeitslosengeld I bewilligt zu haben. Die Agentur für Arbeit legte dabei ihrerseits ausweislich des Inhalts des Schreibens vom 8. Juli 2015 zugrunde, die Antragstellerin habe über den 19. Mai 2015 hinaus Krankengeld zu beanspruchen (ohne auf die Frage des Fehlens einer jeweils vorausgegangenen ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit einzugehen). Die Folgen der unterbliebenen bzw. nicht rechtzeitigen ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind grundsätzlich vom Versicherten zu tragen, hier also von der Antragstellerin des vorliegenden Verfahrens. Anhaltspunkte für einen Sachverhalt, bei dem die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ausnahmsweise mit Geltung für den letzten Tag des bisherigen Krankengeldbezuges, also mit Geltung für den 19. Mai 2015, hätte nachgeholt werden können, liegen nicht vor (vgl. zu diesen Voraussetzungen Urteil des Bundessozialgerichts vom 8. November 2005, Az: B 1 KR 30/04 R): Denn es liegen keine ausreichend sicheren Anhaltspunkte dafür vor, der Antragsgegnerin die Verantwortung für das Unterbleiben einer weiteren ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für einen zukünftigen Zeitraum bis spätestens zum 19. Mai 2015 zuzurechnen. Anknüpfungspunkt dafür könnte die Maßgabe des MDK sein, die Arbeitsunfähigkeit ende mit dem 19. Mai 2015. Die Antragsgegnerin, der diese Maßgabe zugerechnet werden müsste, hat jedoch mit ihrem Schriftsatz vom 7. August 2015 im Einzelnen dargelegt, dem behandelnden Arzt habe gemäß § 7 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien die Möglichkeit offen gestanden, der Beurteilung seitens des MDK zu widersprechen. Demnach ist es nicht unmöglich gewesen, weitere Bescheinigungen über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit zu erlangen. Offen bleiben muss an dieser Stelle, ob etwas Anderes aus der späteren Erkenntnis des MDK folgen könnte, Arbeitsunfähigkeit sei in Anbetracht des Berichtes der Psychologin E. (über den 1. August 2015 hinaus) begründet. Bei vorläufiger Beurteilung ist davon auszugehen, die aktuelle Stellungnahme sei vor dem Hintergrund neuer medizinischer Erkenntnisse erfolgt, führe aber nicht dazu, die frühere Beurteilung als wider besseres Wissen fehlerhaft einzuordnen. Die in Anbetracht der eher unwahrscheinlichen Aussicht auf Erfolg in der Sache erheblichen Anforderungen an die Darlegung einer Notlage sind nicht gegeben. Die Antragstellerin hat nämlich unter dem 29. Juli 2015 ausdrücklich mitgeteilt, sich wiederum bei der Agentur für Arbeit gemeldet zu haben ("um ihren Kindern im nächsten Monat Essen in den Kühlschrank stellen zu können"). Und sie hat ihren Antrag lediglich auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum bezogen, nämlich die Zeit vom 20. Mai bis zum 22. Juli 2015. Einstweiliger Rechtsschutz ist demgegenüber regelmäßig auf die Behebung einer gegenwärtigen Notlage beschränkt. Damit kommen Ansprüche auf Leistungen für die Vergangenheit grundsätzlich nicht in Betracht. Eine Ausnahme dürfte lediglich für Fälle eines Nachholbedarfs in Betracht zu ziehen sein, wenn also die Nichtleistung aus der Vergangenheit in die Gegenwart fortwirkt und dies zu einer gegenwärtigen Notlage führt (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86b Rdnr 35a mwN). Als Beispiele werden eine nach in der Vergangenheit unterbliebener Mietzahlung folgende Räumungsklage oder Zwangsvoll- streckungsmaßnahmen im Anschluss an Zahlungsrückstände genannt, die auf einem wegen Nichtgewährung von Leistungen eingegangenen Darlehensvertrag beruhen. Im Falle der Antragstellerin fehlt es an Anhaltspunkten für einen derartigen Nachholbedarf. Schon in Anbetracht des von der Agentur für Arbeit gegenüber der Antragsgegnerin geltend gemachten Erstattungsanspruchs ist nicht ersichtlich, die Antragstellerin könne ihrerseits Rückforderungsansprüchen ausgesetzt sein. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).