Sozialgericht Stade
Beschl. v. 02.04.2015, Az.: S 29 KR 6/15 ER

Einstandspflicht einer gesetzlichen Krankenversicherung für stationär durchzuführende Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen und für weitere Schritte einer Tumorbehandlung

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
02.04.2015
Aktenzeichen
S 29 KR 6/15 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 13430
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2015:0402.S29KR6.15ER.0A

Redaktioneller Leitsatz

Im Rahmen des § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V in Verbindung mit § 2 Abs. 1a SGB V muss die Krankenversicherung Kosten für eine noch nicht anerkannte neue Behandlungsmethode - hier für die Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen - nicht übernehmen, wenn nicht nachgewiesen ist, dass für die vorliegende, lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht.

Tenor:

Der Antrag vom 5. März 2015, der Antragsgegnerin vorläufig die Kosten aufzugeben für drei bis vier intraoperative, intraarterielle Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen, bei Einsatz einer (Extremitäten-) Stopflowtechnik, mit Hyperoxygenierung der Bauchorgane und mit Refiltration der Chemotherapeutika, durchzuführen im Helios D., wird abgelehnt. Kosten sind nicht zu übernehmen.

Gründe

I.

Die streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Frage, ob die Antragsgegnerin für stationär durchzuführende Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen und für weitere Schritte einer Tumorbehandlung aufzukommen hat. Die E. geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin aufgrund des Bezuges von Altersrente in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) gesetzlich gegen das Risiko der Krankheit versichert. Bei ihr wurde ein als inoperabel angesehenes, die abdominellen Gefäße ummauerndes, kindskopfgroßes Abdominal-Lymphom festgestellt, pathohistologisch einem Marginalzonenlymphom zuzuordnen, ferner ein schnell wachsender Tumor in der rechten Parotis. Wegen der Gefahr einer Fascialisparese ist ein (erneuter) operativer Eingriff unterblieben (vgl. die Zusammenfassung in dem zum früheren Antrag auf Kostenübernahme für ein PET-CT gefertigten Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung - MDK - vom 5. Dezember 2014). Über ihren behandelnden, nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Radioonkologen F. stellte die Antragstellerin am 6. Januar 2015 bei der Antragsgegnerin den Antrag, die Kosten für eine in einem Gesamtkonzept vorgesehene Serie von drei bis vier intraoperativen, intraarteriellen Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen, bei Einsatz einer (Extremitäten-) Stopflowtechnik, mit Hyperoxygenierung der Bauchorgane und mit Refiltration der Chemotherapeutika zu übernehmen. Die Behandlung solle in der Chirurgieabteilung des Helios G. stattfinden, mit der F. kooperiert. Das PET-CT lege nahe, kleine abdominelle Lymphknoten in der Nähe des Tumors als Lymphome anzusehen und in das sogenannte Zielvolumen aufzunehmen. Die angedachte Therapie verfolge das Ziel, die zelluläre Immunabwehr nicht weiter (als bisher) zu schädigen und die Lebensqualität beibehalten zu können. Die Kosten der ca. vier- bis fünftägigen klinischen Behandlungen seien auf (jeweils) etwa 12.200,00 EUR zu veranschlagen. Die Antragsgegnerin schaltete den MDK (erneut) ein, der unter dem 22. Januar 2015 ua erklärte, es fehle an den medizinischen Voraussetzungen für eine Bewilligung des Antrages vom 6. Januar 2015. Es lägen bereits keine ausreichenden bildgebenden Befunde vor, die eine nähere diagnostische Einordnung zuließen (Lymphomerkrankung offenbar Ann-Arbor-Klassifikation IV). Ohne vollständige diagnostische Einordnung sei eine Therapieplanung nicht möglich. Es werde dringend empfohlen, ein onkologisches Zentrum zur interdisziplinären Beurteilung aufzusuchen. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag auf Übernahme der Chemoperfusionen daraufhin durch den Bescheid vom 22. Januar 2015 ab. Der Bescheid enthält keine Rechtsmittelbelehrung. Mit ihrem am 10. März 2015 eingegangenen einstweiligen Rechtsschutzantrag verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter. Sie trägt zur Begründung vor, ihr müsse in ihrer schweren Situation erlaubt sein, von belastenden (vertragsärztlichen) Therapien Abstand zu nehmen und einen erfahrenen Arzt wie H. zu wählen, dessen Methoden aus ihrer Sicht "mit ziemlicher Sicherheit nicht schaden und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nützen könnten". Es könne nicht darauf ankommen, ob die Methoden aus wissenschaftlicher Sicht als erfolgversprechend anerkannt seien. Die in I. von H. durchgeführte Methode sei bereits in über 270 Fällen äußerst erfolgreich gewesen. Ausreichende finanzielle Mittel zur Tragung der in Stralsund vorgesehenen vier Behandlungsserien seien nicht vorhanden. Der ihr zur Verfügung stehende Betrag von 25.000,00 EUR sei bereits für andere Arztrechnungen, Rechtsberatungskosten und für eine neue Zentralheizung vorgesehen. Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, die Kosten zu übernehmen für drei bis vier intraoperative, intraarterielle Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen, bei Einsatz einer (Extremitäten-) Stopflowtechnik, mit Hyperoxygenierung der Bauchorgane und mit Refiltration der Chemotherapeutika, durchzuführen im Helios D ... Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen. Die Antragsgegnerin verweist ergänzend auf das am 18. März 2015 gefertigte MDK-Zweitgutachten, in dem die Fachärztin J. ua ausführt, über die bisher vertragsärztlich durchgeführte Behandlung des Marginalzonenlymphoms, das eine lebensbedrohliche bzw regelmäßig zum Tode führende Erkrankung darstelle, seien keinerlei Unterlagen beigebracht worden. Es fehle bereits der Bericht über eine interdisziplinäre Tumorkonferenz, die bei einer derartigen Diagnose zwingend zu fordern sei. Auch fehlten Angaben über bisher eingesetzte Chemotherapeutika oder andere Medikamente. Die über F. vorgelegte Sensitivitätstestung sei keine vertragsärztlich anerkannte Diagnostik. Es fehlten wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Nutzen der Sensitivitätstestung. Die angedachte Hyperthermie-Behandlung sowie die Hyperoxygenierung seien vom Gemeinsamen Bundesausschuss bereits mangels nachgewiesener Wirksamkeit aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen worden (Bezugnahme auf die BUB-Richtlinien, Anlage B, "Hyperthermie" bzw. "hyperbare Sauerstofftherapie"). Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

Das von der Antragstellerin geltend gemachte Begehren hat keinen Erfolg. Die Kammer verweist die Antragstellerin auf die von der Antragsgegnerin angeregte Vorstellung in einer interdisziplinären Tumorkonferenz, etwa in dem - ebenfalls von der Antragsgegnerin genannten - Universitätsklinikum K ... Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind aber auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Beide Arten der einstweiligen Anordnung, von denen hier die zweite Alternative der Regelungsanordnung in Betracht zu ziehen ist, setzen zunächst einen Anordnungsanspruch voraus, also einen materiellen Anspruch auf die begehrte Leistung, außerdem einen Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit der beantragten Entscheidung gekennzeichnet ist. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).

Grundsätzlich sollen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keine endgültigen Regelungen getroffen werden. Denn dadurch würde die Hauptsache faktisch vorweggenommen.

Ausgangspunkt für die Einordnung der von der Antragstellerin als Anordnungsanspruch geltend gemachten Kostenerstattung ist die Grundregel des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung, derzufolge die Versicherten einen Anspruch auf notwendige, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Kranken- und Krankenhausbehandlung als kostenfreie Sach- und Dienstleistung durch zugelassene Leistungserbringer im Wege anerkannter oder zumindest nicht abgelehnter Methoden haben, §§ 2 Abs 2, 11 Abs 1, 12, 27 und 70 SGB V. Während ambulant zur Anwendung kommende Therapien vom Gemeinsamen Bundesausschuss grundsätzlich befürwortet worden sein müssen, kommt es im Rahmen stationärer Behandlung darauf an, ob der Gemeinsame Bundesausschuss einen Ausschluss ausgesprochen hat oder nicht, vgl. §§ 135, 137c SGB V. Aus dem Zusammenhang der zitierten Vorschriften ergibt sich prinzipiell ein geschlossenes System, in dem die Versicherten mit Kosten lediglich in Gestalt der Beiträge (zum Gesamtsystem) belastet sind. Da sie sinngemäß die Übernahme privat abzurechnender bzw. privat abgerechneter Kosten verlangt, bewegt sich die Antragstellerin außerhalb des geschlossenen Systems. Dafür ist als hier einzig in Betracht zu ziehende Ausnahme von diesem geschlossenen System und damit als Ausnahme vom Sachleistungsgrundsatz die Vorschrift des § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative SGB V zu prüfen. Danach sind von der Krankenkasse Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Krankenkasse eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten für eine Selbstbeschaffung außerhalb des Systems entsprechende Kosten entstanden sind. Im Einzelnen müssen gemäß der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die nachfolgenden Voraussetzungen erfüllt sein: - Bestehen eines Primärleistungs- bzw. Naturalleistungsanspruchs des Versicherten - rechtswidrige Nichterfüllung dieses Primärleistungsanspruchs - Ablehnung durch die Krankenkasse - Selbstbeschaffung der Leistung seitens des Versicherten - Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung - Notwendigkeit der selbst beschafften Leistung und - rechtlich wirksame Kostenbelastung durch die Selbstbeschaffung.

Aus der Notwendigkeit des Ursachsenzusammenhangs zwischen Ablehnung der Leistung und Selbstbeschaffung als Voraussetzung für den ausnahmsweisen Anspruch auf Kostenerstattung folgt vor allem, dass sich der Versicherte nicht - unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt - von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung bei einem nicht zugelassenen Leistungserbringer und/oder im Wege einer nicht anerkannten Behandlungsmethode festgelegt haben darf (vgl. zum Ganzen BSG-Urteil vom 16. Dezember 2008, Az. B 1 KR 2/08 R; Hauck in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Band 1, § 13 SGB V Rdn 233 ff).

Weniger strenge Anforderungen sind im Hinblick auf die Beschränkung auf vertragsärztliche Behandlungsangebote und im Hinblick auf die jederzeitige Einhaltung des Beschaffungsweges zu stellen, wenn - wie hier - der Anwendungsbereich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer grundrechtsorientierten Erweiterung des Leistungskatalogs betroffen ist, zwischenzeitlich aufgenommen in § 2 Abs. 1a SGB V: In Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig zum Tode führenden Erkrankung, hier im Falle der Antragstellerin gegeben mit dem als inoperabel angesehenen Abdominal-Lymphom, ist eine solche Auslegung der maßgeblichen Vorschriften geboten, weil dem Grundrecht auf Leben nicht nur Verfassungsrang, sondern die höchste Wertigkeit innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. März 2009, Az. 1 BvR 316/09). Fehlt eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses oder greift eine Ausschlussregelung, so ist es gemäß dem Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005, Az. 1 BvR 347/98, unter folgenden Voraussetzungen möglich, dass die Krankenversicherung Kosten für eine noch nicht anerkannte neue Behandlungsmethode, hier für die Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen usw., zu übernehmen hat: 1. Es muss eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegen. 2. Für diese Erkrankung darf eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stehen. 3. Durch die neuartige Behandlungsmethode muss eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung bestehen oder aber wenigstens eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Die Kammer legt der Beurteilung die vom BVerfG in dem Beschluss vom 6. Dezember 2005 entwickelten und in § 2 Abs. 1a SGB V Gesetz gewordenen Kriterien zugrunde. Diese Kriterien lassen eine zugunsten der Antragstellerin ausfallende Eilentscheidung allerdings nicht zu. Auf der Grundlage des über den Behandlungsfall aktenkundig gewordenen Materials mag sich den Chemoperfusionen unter Hyperthermiebedingungen usw. zwar - vor allem den Ausführungen des F. folgend - eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zuordnen lassen, es fehlt jedoch an Aussagen zu den vorrangig in Betracht zu ziehenden vertraglichen bzw. als Sachleistung erbringbaren Therapien. Es mangelt am Nachweis dafür, dass allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsweisen nicht zur Verfügung stehen. Die Antragsgegnerin kann die Antragstellerin darauf verweisen, den offenbar noch nicht beschrittenen Sachleistungsweg der Inanspruchnahme einer Tumorkonferenz zu wählen. Die Antragstellerin vermag sich nicht mit Erfolg auf den Umstand eines von Seiten des Gemeinsamen Bundesausschusses nur zu Teilen der angedachten Behandlung ausgesprochenen Verbots zu berufen. Auch demgegenüber greift vorrangig der Verweis auf noch auszuschöpfende und nicht erkennbar weniger erfolgversprechende Alternativen, nicht zuletzt auch unter dem Aspekt des grundsätzlichen Verbots, die Entscheidung in der Hauptsache vorwegzunehmen. Die Kammer vermag den Vortrag der Antragstellerin durchaus nachzuvollziehen, von bisherigen belastenden Therapiewegen Abstand nehmen zu wollen. Die in der Vergangenheit durchgeführten Chemotherapien hätten das Leiden möglicherweise sogar verschlimmert. Die Antragstellerin muss sich gleichwohl entgegenhalten lassen, zunächst auf dem Sachleistungswege Alternativen für die aus ihrer Sicht belastenden Behandlungen der Vergangenheit zu suchen. Auch unter dem Aspekt gesammelter schlechter Erfahrungen ist es zumutbar zu prüfen, ob weitere kurative oder aber palliative Behandlungswege im Rahmen der von der Antragsgegnerin befürworteten Versorgung möglich sind. Da die Kammer bereits einen Anordnungsanspruch verneinen musste, kam es nicht mehr darauf an, ob ein Anordnungsgrund im Sinne der Unmöglichkeit zu bejahen ist, die Kosten für die in dem Helios D. vorgesehenen Behandlungsserien aus eigenen Mitteln aufzubringen. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 Abs 1 SGG.