Sozialgericht Stade
Urt. v. 22.06.2015, Az.: S 9 R 370/13
Nachforderung von hälftigen Beitragsanteilen zur gesetzlichen Krankenversicherung und Pflegeversicherung eines Rentners
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 22.06.2015
- Aktenzeichen
- S 9 R 370/13
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 21742
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2015:0622.S9R370.13.0A
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V
- § 6 Abs. 1 SGB V
- § 6 Abs. 2 SGB V
- § 255 Abs. 1 SGB V
- § 255 Abs. 2 SGB V
- § 45 SGB X
- § 48 SGB X
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 25. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. August 2013 wird im (noch) streitigen Umfange aufgehoben, also insoweit, als die Beklagte damit rückwirkend einen hälftigen Beitragsanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung und volle Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung für den Zeitraum vom 28. Oktober 2010 bis zum 31. August 2011 in Höhe von 1.012,27 EUR nachfordert. Die Beigeladenen zu 1. und 2. haben dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten dem Grunde nach zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Berechtigung der Beklagten, hälftige Beitragsanteile zur gesetzlichen Krankenversicherung sowie volle Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung in Höhe von 1.012,27 EUR für die Zeit vom 28. Oktober 2010 bis zum 31. August 2011 nachzufordern. Die Beklagte bewilligte dem am 8. August 1945 geborenen Kläger antragsgemäß für die Zeit ab August 2008 Altersrente für langjährig Versicherte wegen Vollendung seines 63. Lebensjahres. Die Rente wurde nach Spanien überwiesen, wohin der Kläger schon 2005 seinen Wohnsitz verlegt hatte. Zur damaligen Zeit hatte er bereits einen Antrag auf Zahlung von Altersrente für schwerbehinderte Menschen gestellt, der jedoch in der Folgezeit am Mangel einer versorgungsrechtlichen Anerkennung scheiterte. Am 28. Oktober 2010 verlegte der Kläger seinen Wohnsitz wieder ins Bundesgebiet (gemäß späterer Formularerklärung gegenüber der Beklagten: Einreise am 1. Dezember 2010). Er bat die Beigeladenen, ihn in die gesetzliche Krankenversicherung und in die soziale Pflegeversicherung aufzunehmen. Zuletzt sei er von 1981 bis 1999 (bei der I.) gesetzlich kranken- und sozial pflegeversichert gewesen. Während seines Aufenthalts in Spanien habe die J. seine Krankheitskosten getragen. Die Beigeladenen beschieden den Kläger unter dem 28. Dezember 2010 zunächst dahingehend, angesichts seines zuletzt während des Auslandsaufenthalts zu einer privaten Krankenversicherung bestehenden Versicherungsverhältnisses der Versicherungspflicht nicht zu unterliegen. Die Versicherungspflicht treffe lediglich auf diejenigen zu, die zuletzt gesetzlich oder aber gar nicht gegen das Risiko der Krankheit bzw. der Pflegebedürftigkeit versichert gewesen seien. Der Kläger erhob unter dem 11. Januar 2011 Widerspruch gegenüber den Beigeladenen. Er verwies darauf, nach seinen Erkundigungen bei anderen gesetzlichen Krankenkassen von einer Wiederaufnahme in die deutsche gesetzliche Krankenversicherung ausgegangen zu sein. Seine frühere Mitgliedschaft sei im März 1999 beendet worden, obwohl er sich damals zur Arbeitssuche in Spanien aufgehalten und bis einschließlich Juni 1999 Arbeitslosengeld erhalten habe. Nach seinem Verständnis habe seine deutsche gesetzliche Krankenversicherung in der Zeit seit 1999 "lediglich geruht". Da er auch weiterhin in Spanien arbeitslos geblieben sei, habe er mit seinem Wohnsitz in Spanien und bei geringem Einkommen eigentlich Anspruch auf Leistungen der spanischen gesetzlichen Krankenversicherung (Seguridad social) gehabt. Diesen Anspruch habe er dort allerdings nie realisiert. Lediglich als zusätzliche Absicherung habe er bei der Hanse Merkur eine Auslands-Reisekrankenversicherung zu einem Beitrag von 11,00 EUR pro Jahr abgeschlossen gehabt. Die Beigeladenen teilten dem Kläger unter dem 20. Mai 2011 mit, zur abschließenden Sachprüfung einen Negativbescheid der zuständigen Sozialbehörde für die Zeit ab April 2007 zu benötigen, eine Einreisebestätigung, eine Meldebestätigung des Einwohnermeldeamtes sowie eine Kopie des Rentenbescheides. Im Anschluss an Erinnerungsschreiben vom 17. März 2011, vom 11. Mai 2011 und vom 5. Juli 2011 stellte der Kläger am 29. Juli 2011 beim erkennenden Gericht (zum Aktenzeichen S 15 KR 172/11 ER) einen Antrag, die hiesigen Beigeladenen zu verpflichten, ihm vorläufig Schutz gegen die Risiken der Krankheit (und der Pflegebedürftigkeit) zu gewähren. Im Verlaufe des gerichtlichen ER-Verfahrens halfen die Beigeladenen dem Widerspruch mit dem Schriftsatz vom 2. August 2011 ab. Sie teilten mit, die Mitgliedschaft des Klägers beginne rückwirkend mit dem 28. Oktober 2010. Gleichzeitig hieß es unter dem 2. August 2011, die Beklagte werde die Beiträge -für die Vergangenheit und für die Zukunft - von der Rente einbehalten und den Kläger über deren Höhe informieren. Daraufhin erließ die Beklagte - der Ankündigung der Beigeladenen gemäß - den Bescheid vom 25. August 2011, mit dem sie die Altersrente für langjährig Versicherte neu berechnete. Angesichts der bis zur Mitteilung der Beigeladenen vom 2. August 2011 unerkannt gebliebenen Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung sei es zu einer Überzahlung von 1.012,27 EUR für die Zeit vom 29. Oktober 2010 bis zum 31. August 2011 gekommen. Der Nachforderungsbetrag ergebe sich aus dem hälftigen Beitragsanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung und dem vollen Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung. Im Übrigen - hier nicht streitig - hob die Beklagte mit ihrem Bescheid vom 25. August 2011 die für die Zeit vom 28. Oktober 2010 bis zum 28. Februar 2011 in Höhe von 249,81 EUR erfolgte Bewilligung eines Zuschusses zur privaten Krankenversicherung auf. Gemäß der Bescheinigung der J. Seguros medicos vom 25. Mai 2011 habe für den Kläger in der Zeit vom 7. Juni 2007 bis zum 31. Dezember 2011 eine Versicherung nach dem Tarif K. mit ambulanter und stationärer Versorgung bestanden, wenn auch ohne Erstattung von Medikamentenkosten. Der Kläger erhob gegen die nachträgliche Beitragserhebung Widerspruch mit dem Hinweis darauf, die bei den Beigeladenen eingetretene Verzögerung nicht verantworten zu müssen. In dem gesamten Zeitraum von der Einreise/Antragstellung bis zur Bescheinigung der Mitgliedschaft (28.Oktober/10.November 2010 bis 2.August 2011) habe er keinerlei Leistungen in Anspruch genommen. Die Beklagte wies den Widerspruch durch ihren Widerspruchsbescheid vom 13. August 2013 zurück. Sie sei zum nachträglichen Einbehalt der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung unabhängig von der Frage verpflichtet, welche Stelle die Verzögerung zu vertreten habe. Das Bundessozialgericht (BSG) gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, der nachträgliche Einbehalt der Beiträge unterliege nicht den Beschränkungen des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buches (SGB X). Die Grundsätze der §§ 45 und 48 SGB X zum Vertrauensschutz des Rentenempfängers fänden keine Anwendung. Der nachträgliche Einbehalt sei lediglich sozial verträglich zu gestalten. Der Rentenempfänger dürfe durch den nachträglichen Einbehalt nicht sozialhilfebedürftig werden. An einem solchen Nachweis des Klägers fehle es allerdings bisher. Dagegen richtet sich die am 16. September 2013 beim erkennenden Gericht eingegangene Klage. Zu deren Begründung betont der Kläger, aus seiner Sicht widerspreche es allgemeinen Rechtsgrundsätzen, Beiträge für Zeiten nachzufordern, während derer der mit der Beitragsleistung in Wechselbeziehung stehende Versicherungsschutz ausdrücklich abgelehnt worden sei. Das Gericht hat die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung durch Beschluss vom 21. Mai 2014 zum Rechtsstreit beigeladen.
Der Kläger beantragt sinngemäß nach seinem Vortrag im schriftlichen Verfahren,
den Bescheid der Beklagten vom 25. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. August 2013 insoweit aufzuheben, als die Beklagte damit rückwirkend einen hälftigen Beitragsanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung sowie volle Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung für den Zeitraum vom 28. Oktober 2010 bis zum 31. August 2011 in Höhe von 1.012,27 EUR nachfordert.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladenen schließen sich nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen der Auffassung der Beklagten an, ohne ausdrücklich einen Antrag zu stellen.
Die Beigeladenen verweisen mit ihrem Schriftsatz vom 26. Juni 2014 auf die hier zugunsten des Klägers nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) bestehende Versicherungspflicht. Die Beiträge seien - lediglich unter Berücksichtigung der Verjährungsgrenzen - auch rückwirkend nach § 255 SGB V i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB XI vom Rentenversicherungsträger einzubehalten und an die Kranken- und Pflegekasse abzuführen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der von der Beklagten sowie von den Beigeladenen beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der (einseitig geführten) mündlichen Verhandlung, in der lediglich die Beklagte vertreten war, der Beratung und der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist statthaft und zulässig. Die Kammer sieht die Klage darüber hinaus auch als begründet an. Sie hat den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 25. August 2011 daher insoweit aufgehoben, als die Beklagte rückwirkend einen hälftigen Beitragsanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung sowie die vollen Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung in Höhe von 1.012,27 EUR für den Zeitraum vom 28. Oktober 2010 bis zum 31. August 2011 nachgefordert hat. Sie pflichtet der Beklagten und den Beigeladenen zwar darin bei, aufgrund der gesetzlichen Vorgaben die Beiträge auch nachträglich ohne Beschränkung durch die Maßgaben der §§ 45 und 48 SGB X einbehalten zu müssen, befürwortet allerdings eine Ausnahme in Anbetracht des Umstandes, dass es dem Kläger in dem von ihm bezeichneten Zeitraum, also in der gesamten Zeit vom 28. Oktober 2010 bis zum 31. August 2011, nicht möglich war, Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung in Anspruch zu nehmen. Im Einzelnen gilt Folgendes: Die Kammer sieht es als geboten an, die Entscheidung der Beigeladenen über die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V zugrunde zu legen, wonach Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben, dann versicherungspflichtig sind, wenn sie a) zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder b) bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Abs. 5 des § 5 SGB V oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 des SGB V genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten. Gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 12 ist damit die Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung verbunden. Da es sich jeweils um einen gesetzlichen Versicherungstatbestand handelt, genügt zum Beginn der Versicherungs- und der daraus grundsätzlich folgenden Beitragspflicht die Erfüllung des objektiven Tatbestandes. Auf der Grundlage der §§ 255 Abs. 1 und 2 SGB V sowie des § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB XI (mit entsprechender Anwendung des § 255 SGB V) ergeben sich das Recht und die Pflicht des Trägers der Rentenversicherung, hier also der Beklagten, die rückständigen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur sozialen Pflegeversicherung aus der weiterhin zu zahlenden Rente einzubehalten. § 255 SGB V trifft eine abweichende Bestimmung zu der allgemeinen Maßgabe für die für eine Versicherung zuständigen Versicherungsträger, hier die Beigeladenen zu 1. und zu 2., nicht nur über die Versicherungspflicht zu entscheiden, sondern damit in Verbindung stehend gleichzeitig auch über die Beitragspflicht, die Beitragshöhe und die Beitragstragung. Gemäß § 255 Abs. 1 und 2 SGB V sind bei den dort genannten Rentenbeziehern zwar die Kranken- und Pflegekassen für die Entscheidung über das Bestehen der Versicherungspflicht zuständig, die Rentenversicherungsträger jedoch für die Entscheidung über die Beitragspflicht, Beitragshöhe und Beitragstragung. Während die Kammer aufgrund des objektiv erfüllten Tatbestandes und aufgrund der gesetzgeberischen Zuordnung der zugrunde gelegten Versicherungspflicht folgt und die Zuständigkeit der Beklagten für die Festsetzung der Beitragspflicht, Beitragstragung und Beitragshöhe bejaht, sieht sie in der vom Kläger für den streitigen Zeitraum nicht zu vertretenden Unwissenheit über das Versicherungsverhältnis und der daraus folgenden Unmöglichkeit, Leistungen in Anspruch zu nehmen, ein Hindernis für die nachträgliche Beitragserhebung. Die Wechselbeziehung zwischen der Beitrags- und der Leistungsseite des Versicherungsverhältnisses gibt im vorliegenden Fall Anlass dazu, dass der Kläger für die Vergangenheit weder den Eigenanteil an den Krankenversicherungsbeiträgen noch den vollen Pflegeversicherungsbeitrag entrichten muss. Verbunden ist dies andererseits damit, dass der Kläger nicht nachträglich eine Kostenerstattung für etwaig entgegen seinem Vortrag tatsächlich doch verauslagte Privatbehandlungen betreffend den streitigen Zeitraum in Anspruch nehmen könnte. Die Beklagte könnte sich in einem solchen Fall auf ein gegen Treu und Glauben verstoßendes Verhalten berufen. Der Gedanke der Wechselbeziehung zwischen Leistungsberechtigung und Beitragspflicht kann im Falle des Klägers deshalb durchschlagen, weil der Schwebezustand seit der Rückkehr ins Bundesgebiet bis August 2011 maßgeblich von den Beigeladenen zu verantworten ist und sich die Beklagte dies im Verfahren der für die Beigeladenen erfolgenden Beitragsnacherhebung zurechnen lassen muss. Bei der gebotenen zusammenfassenden Betrachtung gereicht es dem Kläger nicht zum durchgreifenden Nachteil, möglicherweise in der ursprünglichen Anzeige vom 9. November 2010 unvollständige Angaben gemacht zu haben. Abgesehen von der Frage, ob dies dem seitens des Trägers verwendeten Formular zuzurechnen ist, waren die Beigeladenen spätestens mit der Erhebung des Widerspruchs aufgerufen, zu der Frage der Versicherungspflicht umfassend zu ermitteln. Fehlt es aber an genügenden Anhaltspunkten dafür, der Kläger selbst habe den Schwebezustand und damit die Unmöglichkeit, zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung Leistungen in Anspruch zu nehmen, zu vertreten, wird der Kläger von der Pflicht zur Beitragszahlung für den zurückliegenden Versicherungszeitraum frei (zu vergleichbaren Konstellationen: BSG-Urteil vom 4. Juni 1991, Az. 12 RK 52/90 sowie Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22. November 2012, Az. L 22 R 1117/10). Die Kostenentscheidung folgt aus der Anwendung des § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits. Die Kammer sah es als geboten an, die der Klägerseite entstandenen, notwendigen außergerichtlichen Kosten als die einzig für eine Übernahme in Betracht kommenden Posten den Beigeladenen aufzuerlegen. Denn den Beigeladenen war die Verantwortlichkeit für den dem Kläger unzumutbar werdenden Schwebezustand zuzurechnen.