Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.11.2023, Az.: 13 ME 195/23
Abschiebungsandrohung; Abschiebungsverbot; Beschwerde; Duldungsgrund; Familiäre Bindungen; Rückkehrentscheidung; vorläufiger Rechtsschutz; Zur Berücksichtigung familiärer Bindungen i.S.d. Art. 5 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie bereits bei Erlass einer Abschiebungsandrohung durch die Ausländerbehörde
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 20.11.2023
- Aktenzeichen
- 13 ME 195/23
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 42754
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2023:1120.13ME195.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - 26.09.2023 - AZ: 5 B 135/2
Rechtsgrundlagen
- AufenthG § 59
- AufenthG § 59 Abs. 3 Satz 1
- RL 2008/115 EG Art. 5
- VwGO § 146 Abs. 4
- VwGO § 80 Abs. 5
Fundstellen
- AUAS 2024, 4-7
- NordÖR 2024, 94
Amtlicher Leitsatz
Familiäre Bindungen eines Ausländers zu im Bundesgebiet lebenden Personen im Sinne des Art. 5 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie sind von der Ausländerbehörde bereits bei Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG als einer Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen. Hierfür ist es unerheblich, ob es sich um familiäre Bindungen eines Kindes oder eines Erwachsenen handelt.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 26. September 2023 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.250 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 26. September 2023, mit dem dieses den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. März 2023 (Blatt 3 ff. der Gerichtsakte) abgelehnt hat, bleibt ohne Erfolg.
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die in dem angefochtenen Bescheid vom 8. März 2023 verfügte Abschiebungsandrohung und das dort ebenfalls angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot als voraussichtlich rechtmäßig angesehen. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen kein anderes Ergebnis.
1. Die Abschiebungsandrohung erweist sich als voraussichtlich rechtmäßig. Sie genügt den Anforderungen des § 59 AufenthG.
Dabei sind aufgrund Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (so VG Darmstadt, Beschl. v. 3.5.2023 - 5 L 705/23.DA -, juris Rn. 28; VG Bremen, Urt. v. 12.5.2023 - 7 K 825/20 -, juris Rn. 37) oder im Wege europarechtskonformer Auslegung (so Thüringer OVG, Beschl. v. 7.6.2023 - 4 EO 626/22 -, juris Rn. 17 ff.) entgegen § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG familiäre Bindungen der Antragstellerin zu im Bundesgebiet lebenden Personen bereits bei Erlass der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen. Dies ist für den Senat durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22 -, juris) geklärt. In dieser aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Juni 2022 (- BVerwG 1 C 24.21 -, juris) zu einer Abschiebungsandrohung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ergangenen Vorabentscheidung, die - soweit ersichtlich - von der nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung durchgängig beachtet wird (vgl. etwa Bayerischer VGH, Beschl. v. 5.6.2023 - 11 ZB 23.30200 -, juris Rn. 6 f.; Thüringer OVG, Beschl. v. 7.6.2023 - 4 EO 626/22 -, juris Rn. 19 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 22.6.2023 - 4 LB 6/22 -, juris Rn. 97 -; Hessischer VGH, Beschl. v. 4.9.2023 - 3 D 1144/23 -, juris Rn. 14 ff. -; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 11.9.2023 - 2 L 38/20 -, juris Rn. 57 ff.; jeweils m.w.N.; VG Hannover Beschl. v. 9.10.2023 - 1 B 1628/23 -, juris Rn. 22 ff.), hat der Europäische Gerichtshof ausgeführt, Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG dürfe im Hinblick auf seinen Zweck nicht eng ausgelegt werden und verwehre es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend mache, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern. Folglich stehe Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gelte, solange die Abschiebung nicht vollzogen werde. Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG sei nach vielmehr dahin auszulegen, dass er verlange, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genüge, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen könne, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken.
Auch wenn im vorliegenden Verfahren nicht die familiären Belange eines Kindes, sondern einer verheirateten Erwachsenen im Raum stehen, gilt insoweit nichts Anderes (so bereits: Bayerischer VGH, Beschl. v. 5.6.2023 - 11 ZB 23.30200 -, juris Rn. 7; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 22.6.2023 - 4 LB 6/22 -, juris Rn. 97). Art. 5 Buchst. b RL 2008/115/EG schützt familiäre Bindungen allgemein und unterscheidet nicht zwischen solchen von Kindern und Erwachsenen. Damit liegt auf der Hand, dass auch bei Erwachsenen - wie der Antragstellerin - familiäre Bindungen bereits beim Erlass der Abschiebungsandrohung durch die Ausländerbehörde nach § 59 AufenthG, die eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG darstellt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.6.2022 - BVerwG 1 C 24.21 -, juris Rn. 18 m.w.N.), zu berücksichtigen sind und sich der Ausländer insoweit nicht auf ein nachgelagertes (Eil-)Verfahren verweisen lassen muss, das die tatsächliche Abschiebung durch den Vollzug der Abschiebungsandrohung zum Gegenstand hat.
Die danach gebotene Berücksichtigung der familiären Bindungen der Antragstellerin an ihren deutschen Ehemann steht dem Erlass der Abschiebungsandrohung im hier zu beurteilenden konkreten Einzelfall nicht entgegen. Beiden Ehegatten ist auch unter Berücksichtigung der Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG die vorübergehende Unterbrechung der im Bundesgebiet geführten ehelichen Lebensgemeinschaft durch eine Ausreise der Antragstellerin zur Nachholung des Visumverfahrens zumutbar.
Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Der Schutz des Familiengrundrechts zielt darüber hinaus aber auch generell auf den Schutz spezifisch familiärer Bindungen, wie sie auch zwischen erwachsenen Familienmitgliedern, zwischen Enkeln und Großeltern oder zwischen nahen Verwandten in der Seitenlinie bestehen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 -, BVerfGE 136, 382, 388 f., unter Aufgabe des früheren Verständnisses der Familie als Gemeinschaft von Eltern mit ihren Kindern, vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81, 90; BVerfG, Beschl. v. 31.5.1978 - 1 BvR 683/77 -, BVerfGE 48, 327, 339; Uhle, Abschied vom engen Familienbegriff - Zur Rejustierung des bundesverfassungsgerichtlichen Familienverständnisses, in: NVwZ 2015, 272 ff.). Der Schutz knüpft aber nicht an bloße formal-rechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 -, BVerfGE 136, 382, 389; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 2.2.2011 - 8 ME 305/10 -, InfAuslR 2011, 151; v. 27.7.2009 - 8 PA 106/09 -). In den so beschriebenen Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fallen auch die Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern. Diesen kommt im Verhältnis zu den widerstreitenden einwanderungspolitischen Belangen aber in der Regel nur ein geringeres Gewicht zu. Allenfalls dann, wenn beispielsweise ein erwachsenes Familienmitglied zwingend auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt, kann dies einwanderungspolitische Belange zurückdrängen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.10.1995 - 2 BvR 901/95 -, NVwZ 1996, 1099; v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81; v. 12.12.1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, 895, 986; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 19.3.2012 - 8 LB 5/11 -, juris Rn. 48; GK-AufenthG, § 60a Rn. 199 f. (Stand: März 2015)).
Eine derartige besondere Situation ist im vorliegenden Verfahren nicht glaubhaft gemacht worden. Das Verwaltungsgericht hat - gestützt auf den Feststellungsbescheid des Niedersächsischen Landesamts für Soziales, Jugend und Familie vom 26. Mai 2023 (Blatt 25 f. der Gerichtsakte) - ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin ihren Verlobten (und nunmehrigen Ehemann) zwingend pflegen müsse. Soweit diesem eine Schwerbehinderung von 80% zuerkannt worden sei, beruhe dies darauf, dass nicht die aktuellen Funktionsstörungen zugrunde gelegt, sondern auch die Rezidivgefahr und die besonderen Begleitumstände berücksichtigt worden seien. Daraus ergebe sich ein höherer Grad der Behinderung als bei einer alleinigen Berücksichtigung der tatsächlichen Funktionsstörungen. Daher erfolge nach Abschluss der Heilbehandlung eine erneute Überprüfung der Funktionsbeeinträchtigungen. Eine konkrete Pflegebedürftigkeit sei dem Feststellungsbescheid nicht zu entnehmen (Beschl. v. 26.9.2023, S. 4). Mit dieser nachvollziehbaren Würdigung der konkreten Situation, die der Annahme einer Hilfsbedürftigkeit des Ehemanns der Antragstellerin entgegenstehen, hat diese sich im Rahmen der Beschwerdebegründung nicht einmal ansatzweise auseinandergesetzt.
Auch die von der Antragstellerin befürchtete mehrjährige Dauer des Visumverfahrens führt zu keinem anderen Ergebnis. Dabei geht der Senat unter Berücksichtigung der Angaben der Deutschen Auslandsvertretungen in Vietnam (vgl. die Angaben unter: https://vietnam.diplo.de/vn-de/service/bearbeitungsdauer/1254788, Bearbeitungsdauer von 8 bis 12 Wochen) und der von der Antragstellerin aufgezeigten Schwierigkeiten davon aus, dass die Nachholung des Visumverfahrens hier durchaus mehr als ein Jahr dauern kann. Denn es ist zu berücksichtigen, dass das tatsächliche Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft möglicherweise deshalb einer genaueren Prüfung unterzogen werden wird, weil gegenüber der Antragstellerin bei ihrem ersten Aufenthalt in Deutschland in den Jahren 2010 bis 2014, während dessen sie zeitweise auch untergetaucht war, der Verdacht aufkam, eine Scheinehe mit einem ebenfalls kranken deutschen Mann eingegangen zu sein. Diese Umstände waren der Antragstellerin und ihrem nunmehrigen Ehemann bei Eingehung der Ehe aber ebenso bekannt, wie das noch ausstehende Visumverfahren. Sie waren sich also der erforderlichen Trennung bewusst. Daraus folgt eine deutlich herabgesetzte Schutzwürdigkeit der ehelichen Lebensgemeinschaft im Hinblick auf die durch das Visumverfahren verursachte vorübergehende Trennung, die diese auch für den hier durchaus längeren Zeitraum zumutbar erscheinen lässt. Es besteht zudem kein Anlass, die Antragstellerin gegenüber anderen Ausländern in vergleichbarer Situation bevorzugt zu behandeln.
Die Voraussetzungen der Möglichkeit der Einholung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet ohne vorheriges Visumverfahren nach § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV sind im Beschwerdeverfahren nicht dargelegt worden.
2. Das nach § 11 Abs. 1 AufenthG unter Ziffer 3. des Bescheids der Antragsgegnerin vom 8. März 2023 für den Fall der Abschiebung der Antragstellerin angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot von zwei Jahren ist nicht zu beanstanden. Fehler bei der Ausübung des der Antragsgegnerin hinsichtlich der Bemessung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 AufenthG eingeräumten Ermessens sind nicht ersichtlich. Die Erwägungen der Antragsgegnerin auf den Seiten 3 bis 6 des angefochtenen Bescheids ("Zu 3.") sind nicht zu beanstanden. Das gilt auch im Hinblick auf die ehelichen Beziehungen der Antragstellerin zu ihrem deutschen Ehemann. Die Eheschließung im Verlauf des vorliegenden Beschwerdeverfahrens hat die Antragsgegnerin in ihrem Erwiderungsschriftsatz vom 9. November 2023 (Blatt 64 f. der Gerichtsakte) berücksichtigt und ihre Ermessenserwägungen insoweit zulässigerweise nach § 114 Satz 2 VwGO ergänzt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerin ausweislich des Beschwerdebegründungsschriftsatzes ihres Prozessbevollmächtigten vom 28. Oktober 2023 (Blatt 57 der Gerichtsakte) ohnehin ein längeres Visumverfahren erwartet, so dass sie durch die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht zusätzlich belastet wird. Darüber hinaus hat sie es weiterhin in der Hand, durch eine freiwillige Ausreise das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf lediglich ein Jahr zu verkürzen, wie es nach § 11 Abs. 6 AufenthG unter Ziffer 4. des angefochtenen Bescheids vom 8. März 2023 ("Zu 4.") festgesetzt worden ist. Auch die zur Anordnung dieses Einreise- und Aufenthaltsverbot und zu dessen Befristung auf den Seiten 6 bis 8 des angefochtenen Bescheids vom 8. März 2023 niedergelegten Ermessenserwägungen sind nicht zu beanstanden.
Im Übrigen kann die Antragstellerin nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zur Wahrung ihrer schutzwürdigen Belange bei einer nachteiligen Veränderung der Situation - insbesondere bei Verschlechterung des Gesundheitszustands ihres Ehemanns - die Aufhebung oder die Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots beantragen.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 8.3 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).