Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.11.2023, Az.: 11 LA 376/23

Zustellung des Urteils anstelle der Verkündung; Einhaltung der Fünfmonatsfrist bei Übermittlung des Urteils an die Geschäftsstelle

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.11.2023
Aktenzeichen
11 LA 376/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 46817
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:1124.11LA376.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 09.03.2023 - AZ: 1 A 1596/18

Fundstellen

  • FA 2024, 80
  • NVwZ-RR 2024, 123-125

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ein Urteil gilt dann als nicht mit Gründen versehen i.S.d. § 138 Nr. 6 VwGO, wenn es nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung gemäß § 116 Abs. 1 VwGO schriftlich niedergerlegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Dasselbe ist in den Fällen des § 116 Abs. 2 VwGO anzunehmen, in denen das Urteil anstelle der Verkündung zugestellt wird.

  2. 2.

    Für die Frage, ob die Fünfmonatsfrist eingehalten ist, kommt es auf die Übermittlung des Urteils an die Geschäftsstelle, nicht auf die Zustellung an die Beteiligten an.

Tenor:

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 1. Kammer - vom 9. März 2023 wird abgelehnt.

Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die Kläger begehren die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Am 9. März 2023 wurde die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht durchgeführt, in deren Verlauf die Klägerin zu 1) informatorisch angehört wurde. In der mündlichen Verhandlung beschloss das Verwaltungsgericht, den Beteiligten die Entscheidung an Verkündungs statt zuzustellen. Am 22. März 2023 wurde der klageabweisende Urteilstenor bei der Geschäftsstelle abgelegt, was durch einen entsprechenden Stempel bestätigt ist. Das mit vollständigen Gründen versehene Urteil wurde am 9. August 2023 um 23:58:05 Uhr signiert. Ausweislich des aufgebrachten Stempels auf dem Originalurteil in der Gerichtsakte ist das vollständig abgefasste Urteil am 9. August 2023 zur Geschäftsstelle gelangt. Die Signaturprüfung erfolgte am 10. August 2023 um 7:51:47 Uhr. Am 10. August 2023 wurde den Klägern das vollständig abgefasste Urteil zugestellt.

Der gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, denn der von den Klägern allein gerügte Verfahrensfehler gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO liegt nicht vor. Die Kläger machen geltend, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts sei nicht mit Gründen versehen, weil sie erst am 10. August 2023 und somit mehr als fünf Monate nach der mündlichen Verhandlung zugestellt worden sei. Dieses Vorbringen rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht.

Nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO liegt ein Verfahrensmangel vor, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Nicht mit Gründen versehen im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO ist ein Urteil dann, wenn aufgrund der verspäteten Absetzung nicht mehr gewährleistet ist, dass die schriftlich niedergelegten Gründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und der auf ihr beruhenden Überzeugungsbildung des Gerichts wiedergeben. Dies ist stets anzunehmen, wenn das Urteil nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung gemäß § 116 Abs. 1 VwGO schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist; dasselbe ist in den Fällen - wie hier - des § 116 Abs. 2 VwGO anzunehmen, in denen das Urteil anstelle der Verkündung zugestellt wird (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschl. v. 27.4.1993 - GmS-OBG 1/92 - juris Rn. 11 ff.; BVerwG, Beschl. v. 18.8.1999 - 8 B 124/99 - juris Rn. 2; dass., v. 9.8.2004 - 7 B 20/04 - juris Rn. 16; dass, Urt. v. 30.5.2012 - 9 C 5/11 - juris Rn. 23; dass., Beschl. v. 11.5.2015 - 7 B 18/14 - juris Rn. 10; BVerwG, Beschl. v. 11.6.2001 - 8 B 17/01 - juris Rn. 4; dass, Beschl. v. 3.5.2004 - 7 B 60/04 - juris Rn. 4 u. v. 29.9.2015 - 7 B 22/15 - juris Rn. 4). In den Fällen des § 116 Abs. 2 VwGO ist die Frist zur Abfassung des vollständigen Urteils dann nicht gewahrt, wenn das mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehene und von den Richtern unterzeichnete Urteil nach Urteilsfällung nicht innerhalb von fünf Monaten der Geschäftsstelle übergeben wird. Jenseits dieser Fünfmonatsfrist erfüllt ein Urteil nicht mehr seine Beurkundungsfunktion und gilt als nicht mit Gründen versehen i.S.d. § 138 Nr. 6 VwGO (BVerwG, Beschl. v. 30.6.2015 - 3 B 47/14 - juris Rn. 23; NdsOVG, Beschl. v. 17.2.2023 - 4 LA 127/22 - juris Rn. 13; vgl. auch Senatsbeschl. v. 21.1.2022 - 11 LA 171/22 - juris). Wird die Frist von fünf Monaten gewahrt, so kann ein Urteil gleichwohl als nicht mit Gründen versehen gelten. Dies trifft zu, wenn zu dem Zeitablauf als solchem besondere Umstände hinzutreten, die bereits wegen des Zeitablaufs bestehende Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich geforderte Zusammenhang zwischen der Urteilsfindung und den schriftlich niedergelegten Gründen nicht mehr gewahrt ist (BVerwG, Beschl. v. 19.9.2013 - 9 B 20/13, 9 B 21/13 - juris Rn. 4 m.w.N.; NdsOVG, Beschl. v. 17.2.2023 - 4 LA 127/22 - juris Rn. 13).

Nach diesen Vorgaben liegt hier ein die Zulassung der Berufung rechtfertigender Verfahrensfehler nicht vor.

Die Fünfmonatsfrist ist noch eingehalten, denn das Verwaltungsgericht hat nach der Niederlegung der Urteilsformel am 22. März 2023 das vollständig abgefasste Urteil ausweislich des darauf angebrachten Eingangsvermerks der Geschäftsstelle am 9. August 2023 übergeben, also exakt fünf Monate nach Durchführung der mündlichen Verhandlung, die hier den frühestmöglichen Zeitpunkt für den Fristbeginn markiert. Insofern kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, dass nach der Rechtsprechung des Senats für den Fristbeginn in den Fällen des Verkündungsersatzes, in denen das Urteil nicht verkündet, sondern zugestellt wird, ohnehin auf den späteren Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Tenor der Geschäftsstelle übermittelt worden ist (s. dazu BVerwG, Beschl. v. 11.5.2015 - 7 B 18/14 - juris Rn. 10, Urt. v. 30.5.2012 - 9 C 5/11 - juris Rn. 23, Beschl. v. 9.8.2004 - 7 B 20/04 - juris Rn. 16 u. Beschl. v. 3.8.1998 - 7 B 236/98 - juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 29.3.2023 - 11 LA 265/22 - V.n.b., m.w.N.; nur mangels erfolgter Niederlegung des Tenors bei der Geschäftsstelle auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abstellend: Senatsbeschl. v. 21.1.2022 - 11 LA 171/22 - juris; a.A. BGH, Beschl. v. 18.6.2001 - AnwZ (B) 10/00 - juris Rn. 3 f.; BayVGH, Beschl. v. 23.4.2019 - 13a ZB 18.32206 - juris Rn. 7; offen gelassen in: BVerwG, Urt. 14.2.2003 - 4 B 11/03 - juris Rn. 9 u. Urt. v. 10.11.1999 - 6 C 30/98 - juris Rn. 23; NdsOVG, Beschl. v. 19.10.2004 - 2 LA 1231/04 - juris Rn. 6).

Entgegen der Auffassung der Kläger ist allein die Übergabe des vollständig abgefassten Urteils an die Geschäftsstelle maßgeblich für die Frage, ob die Fünfmonatsfrist eingehalten ist, nicht hingegen die erst am 10. August 2023 erfolgte Zustellung bei den Beteiligten. Das entspricht der ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (BVerwG, Beschl. v. 11.6.2001 - 8 B 17/01 - juris Rn. 4; dass. Beschl. v. 3.5.2004 - 7 B 60/04 - juris Rn. 3; SächsOVG, Beschl. v. 7.7.2022 - 6 A 50/21 A - juris Rn. 11; Suerbaum, in: BeckOK VwGO, Stand: 1.4.2023, § 138 Rn. 89; krit. aber gleichfalls die andere Auffassung als herrschend anerkennend: Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider, Stand: März 2023, VwGO § 117 Rn. 27). Soweit das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung ausgeführt hat, ein Urteil, das aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergehe und "nicht binnen fünf Monaten nach der mündlichen Verhandlung nach § 116 Abs. 2 VwGO vollständig abgefasst und zugestellt" werde, sei i.S.d. § 138 Nr. 6 VwGO "nicht mit Gründen versehen" (BVerwG, Beschl. v. 18.8.2001 - 8 B 124/99 - juris Rn. 2), und damit abweichend von der dargestellten herrschenden Meinung auf den Zeitpunkt der Zustellung abzustellen scheint, ist diese Entscheidung vereinzelt geblieben. Da sich die Entscheidung mit dieser Frage im Übrigen nicht weiter auseinandersetzt, sondern vielmehr an anderer Stelle wieder auf den Zeitpunkt der Übermittlung des Urteils an die Geschäftsstelle abzuheben scheint, ist nicht davon auszugehen, dass das Bundesverwaltungsgericht mit dieser Entscheidung von der bis dahin und später herrschenden Meinung, wonach maßgeblich allein der Zeitpunkt der Übermittlung an die Geschäftsstelle ist, abweichen wollte.

Der Senat hält diese Auffassung, wonach für die Einhaltung der Fünfmonatsfrist der Zeitpunkt der Übermittlung des Urteils an Geschäftsstelle maßgeblich ist, ausgehend vom Wortlaut des § 117 Abs. 4 Satz 1 VwGO ebenfalls für überzeugend. Dies gilt umso mehr, als der gegen die herrschende Auffassung vorgebrachte Einwand, zwischen der Niederlegung eines Urteils und dessen Zustellung liege bisweilen aufgrund unzulänglicher Ausstattung der Gerichte eine erhebliche Zeitspanne (Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider, Stand: März 2023, VwGO § 117 Rn. 27) nach Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs an Bedeutung verloren haben dürfte. Bei der Geschäftsstelle eingegangene Urteile werden nach Erfahrung des Senats nunmehr regelmäßig am selben oder darauffolgenden Tag nach Niederlegung des Urteils zugestellt. Dies trifft namentlich auch im vorliegenden Fall zu. Das am 9. August 2023 bei der Geschäftsstelle niedergelegte Urteil ist den Klägern am 10. August 2023 zugestellt worden. Soweit die Kläger gegen die herrschende Auffassung ferner anführen, Rechtsmittelführer müssten sich so auf einen gerichtsinternen Vorgang stützen, um die Rüge einer verspäteten Urteilsabsetzung erheben zu können, begegnet dies angesichts des Umstands, dass die Beteiligten in die Akten Einsicht nehmen können und der Zeitpunkt der Übermittlung des Urteils an die Geschäftsstelle zu dokumentieren ist, keinen durchgreifenden Bedenken.

Wird - wie hier - die Frist von fünf Monaten, wenn auch denkbar knapp, gewahrt, so kann ein Urteil zwar auch dann als nicht mit Gründen versehen gelten, wenn zu dem Zeitablauf als solchem besondere Umstände hinzutreten, die bereits wegen des Zeitablaufs bestehende Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich geforderte Zusammenhang zwischen der Urteilsfindung und den schriftlich niedergelegten Gründen nicht mehr gewahrt ist (BVerwG, Beschl. v. 22.9.2022 - 5 B 33/21 - juris Rn. 39 und v. 19.9.2013 - 9 B 20/13, 9 B 21/13 - juris Rn. 3 m. w. N.; NdsOVG, Beschl. v. 17.2.2023 - 4 LA 127/22 - juris Rn. 13). Solche Umstände liegen hier indes nicht vor. Allein der Umstand, dass ein Einzelrichter statt der Kammer entschieden und die Fünfmonatsfrist nur knapp gewahrt hat, genügt hierfür nicht (ThürOVG, Beschl. v. 18.8.1999 - 3 ZKO 1333/98 - juris Rn. 7; Neumann/Korbmacher, in: NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, VwGO § 138 Rn. 242). Soweit die Kläger ausführen, das Urteil arbeite nicht sämtliche im Rahmen des Rechtsgesprächs erörterten Umstände ab, deutet dies ebenfalls nicht darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Urteilsfindung und Urteilsgründen nicht mehr gewahrt wäre. Die Kläger rügen insoweit zunächst, das Verwaltungsgericht habe als Anknüpfungspunkt für ein Abschiebungsverbot nur Art. 3 und Art. 8 Abs. 1 EMRK diskutiert, nicht hingegen die von ihnen in der mündlichen Verhandlung angeführten Art. 14 EMRK und Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK mit dem Anspruch auf Zugang zur Bildung. Hieraus lässt sich ein fehlender Zusammenhang zwischen der mündlichen Verhandlung und den schriftlichen Urteilsgründen nicht ableiten. Das Verwaltungsgericht hat sich in seinem Urteil mit den bezüglich des Klägers zu 2) geltend gemachten Entwicklungsstörungen und dem insoweit festgestellten Förderbedarf auseinandergesetzt, diesbezüglich aber den Rechtsstandpunkt eingenommen, allein der Umstand, dass der Kläger in Deutschland möglicherweise eine bessere Förderung erhalten könne, vermöge ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nicht zu begründen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich das Verwaltungsgericht mit den von den Klägern angeführten Vorschriften aufgrund seines Rechtsstandpunkts nicht weiter befasst hat, und nicht deshalb, weil die mündliche Verhandlung bei Abfassen des Urteils schon so lange zurückgelegen hätte. Dies gilt umso mehr, als auch nicht erkennbar und nicht vorgetragen ist, inwiefern aus den genannten Vorschriften Vorgaben resultieren sollten, die geeignet wären, den Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen. Soweit die Kläger ferner anführen, die Fortnahme des Klägers zu 2) werde nur im Rahmen des subsidiären Schutzes erörtert, ist ebenfalls nicht ersichtlich, inwiefern dies auf einen fehlenden Zusammenhang zwischen mündlicher Verhandlung und Urteilsgründen hindeuten könnte. Denn das Verwaltungsgericht hat zur von den Klägern befürchteten Fortnahme des Klägers zu 2) schon im Zusammenhang mit dem subsidiären Schutz ausgeführt, nach der dargestellten Erkenntnis- und Sachlage erscheine es keineswegs zwangsläufig und auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 2) im Fall eines Streites um das Sorge- und Umgangsrecht auf jeden Fall ohne jedes Umgangsrecht "weggenommen" werden könne; zudem hat es angenommen, diesbezüglich bestehe eine interne Fluchtalternative. Inwiefern es bezüglich dieses Sachverhalts im Rahmen der Ausführungen zum Bestehen von Abschiebungsverboten zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, ist nicht ersichtlich. Das Gericht hatte also keinen Anlass, zu diesen Fragen im Rahmen seiner Ausführungen zu den Abschiebungsverboten erneut Stellung zu nehmen. Dass die fehlende weitere Auseinandersetzung mit diesen Fragen darauf zurückzuführen sein könnte, dass die mündliche Verhandlung zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils schon fast fünf Monate zurücklag, haben die Kläger nicht hinreichend dargelegt und vermag der Senat auch sonst nicht zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).