Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.11.2023, Az.: 12 PA 100/23

Beschluss; Beschlusserlass; Eingang; Erlass; Geschäftsstelle; elektronische Prozessakte; richterliche Selbstkorrektur; vorbereitendes Verfahren; Workflow; maßgeblicher Zeitpunkt; Zeitpunkt des Erlasses eines Gerichtsbeschlusses

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.11.2023
Aktenzeichen
12 PA 100/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 43091
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:1106.12PA100.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 21.07.2023 - AZ: 7 A 671/22

Fundstellen

  • DÖV 2024, 248
  • NVwZ 2024, 443-445
  • NordÖR 2024, 96

Amtlicher Leitsatz

Nach allgemeinem Prozessrecht ist ein nicht nach außen verlautbarter Gerichtsbeschluss noch nicht erlassen, selbst wenn er bereits vollständig qualifiziert elektronisch signiert wurde und im Rahmen eines Workflows elektronisch dokumentiert zur weiteren Veranlassung an die Geschäftsstelle gelangt ist.

Tenor:

Das Beschwerdeverfahren wird eingestellt.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Der anwaltlich vertretene Kläger hatte zur Fristwahrung Beschwerde gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe eingelegt und dabei angekündigt, sein Rechtsmittel entweder später zu begründen oder zurückzunehmen. Nachdem mehrere Wochen lang nichts geschehen war, hatte ihm der Berichterstatter zweiter Instanz eine Frist bis zum Ablauf des 13. Oktober 2023 gesetzt, um die Beschwerde zurückzunehmen. Für den Fall unterbleibender Rücknahme hatte er zugleich eine streitige Senatsentscheidung nach Fristablauf angekündigt. Unter dem 15. Oktober 2023 hatte der Prozessbevollmächtigte zwar eine Rücknahme der Beschwerde erklärt, die am 16. Oktober 2023 elektronisch bei dem Oberverwaltungsgericht einging. Aufgrund von Anlaufschwierigkeiten im Umgang mit einem erst kürzlich neu eingeführten Computerprogramm zur (übergangsweise parallelen) elektronischen Prozessaktenführung war der Schriftsatz vom 15. Oktober 2023 aber weder elektronisch noch mit der (rechtlich maßgebenden) papiernen Prozessakte als Ausdruck vorgelegt worden. Er war vielmehr versehentlich (zeitweilig) als elektronischer Eingang unbearbeitet geblieben und daher allen Mitgliedern des Spruchkörpers nicht bekannt.

Deshalb hat der Berichterstatter am 17. Oktober 2023 den Erlass einer streitigen Beschwerdeentscheidung eingeleitet. Hierzu hat er den Text eines entsprechenden Senatsbeschlusses qualifiziert elektronisch signiert, dann im Rahmen eines in "Phasen" unterteilten automatisch fortlaufenden "Workflows" den beiden übrigen (berufsrichterlichen) Mitgliedern des Spruchkörpers zur qualifizierten elektronischer Signatur und schließlich - in einer letzten "Phase" - der "Serviceeinheit" (Geschäftsstelle) zur weiteren Veranlassung zugeleitet. Am 17. Oktober 2023 hat sich der erstellte Beschlusstext zwar noch immer in dem elektronischen Ordner "Entwürfe" befunden, er ist aber seit etwa 16:45 Uhr durch alle drei zur Entscheidung berufenen Richter qualifiziert elektronisch signiert gewesen. Im Rahmen des "Workflows" sind zudem alle richterlichen Aufgaben als erledigt gekennzeichnet und alle "Phasen" bis auf die letzte "Phase" abgearbeitet worden. Der Beschlusstext ist damit "zur weiteren Veranlassung" elektronisch dokumentiert an die Geschäftsstelle gelangt.

In einem weiteren am Abend des 17. Oktober 2023 elektronisch eingegangenen Schriftsatz vom selben Tage hat dann der Prozessbevollmächtigte noch einmal die Rücknahme der Beschwerde erklärt. Dieser durch den "Hintergrunddienst" verschobene Eingang ist (zufällig) von dem Berichterstatter bemerkt worden. Der Berichterstatter hat daraufhin - zugleich als Vertreter des Vorsitzenden - den "Workflow" abgebrochen. Erst am Folgetage ist auch der Eingang der zeitlich ersten Rücknahmeerklärung richterlich erkannt worden.

II.

Der Senat entscheidet entsprechend § 87a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 VwGO durch den Berichterstatter, weil die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht. Denn wird - wie hier im Beschwerdeverfahren - ohne mündliche Verhandlung entschieden, so endet das vorbereitende Verfahren erst dann, wenn der Spruchkörper eine die Instanz beendende Entscheidung erlassen hat (vgl. Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 87a, Rn. 3).

Der Zeitpunkt des Erlasses einer solchen Entscheidung bestimmt zugleich die zeitliche Grenze, ab der die gerichtliche Entscheidung analog § 318 ZPO (i. V. m. § 173 Satz 1 VwGO) für das Gericht selbst bindend wird. Insoweit gilt bei Beschlüssen dasselbe wie bei Urteilen, wenn diese ohne mündliche Verhandlung ergehen (vgl. Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider [Hrsg.], VerwR, Werkstand: März 2023, § 122 VwGO, Rn. 6; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 116, Rn. 23).

Über den Zeitpunkt, zu dem eine im schriftlichen Verfahren getroffene Entscheidung erlassen ist, herrscht für die Arbeit in Papierform ein variantenreicher Meinungsstreit (vgl. zum Streitstand: Kraft, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 116, Rnrn. 24 ff.). Teile der Rechtsprechung sehen erst die Herausgabe des Beschlusses aus dem Gericht an die Post als den maßgeblichen Zeitpunkt für den Erlass und die Unabänderlichkeit der Entscheidung an (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 26.1.1994 - BVerwG 6 C 2.92 -, BVerwGE 95, 64 [67]). Verbreitet ist aber auch die Auffassung, dass schon mit der dokumentierten Übergabe der vollständigen, eigenhändig unterzeichneten Entscheidung an die Geschäftsstelle diese Entscheidung erlassen sei und Bindungswirkung entfalte (a. A. Kraft, a. a. O., § 116, Rn. 27, m. z. N. für die abgelehnte Meinung). Während Anhänger dieser Auffassung daher z. B. in § 36 Abs. 3 Satz 9 AsylG nur eine - im Grunde überflüssige - gesetzliche Klarstellung sehen (z. B. Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Werkstand: Aug. 2023, Bd. 3, § 36 AsylG, Rn. 159), betonen andere Stimmen der Literatur (Hailbronner, AuslR, Werkstand: Juni 2023, Bd. 4, § 36 AsylG, Rn. 50, m. w. N.) gerade den Ausnahmecharakter der Spezialvorschrift.

Bei elektronischer Arbeitsweise könnte für Beschlüsse, die ohne mündliche Verhandlung gefasst werden, der elektronisch dokumentierte Übergang in die letzte "Phase" eines vorstehend beschriebenen "Workflows" als Entsprechung der Übergabe einer Entscheidung in Papierform an die Geschäftsstelle betrachtet werden (vgl. Kuhn, in: Ory/Weth, jurisPK-ERV, Bd. 3, 2. Aufl., § 116 VwGO [Stand: 15.12.2022], Rn. 16). Dieser Übergang kommt daher auch im vorliegenden Falle als maßgeblicher Zeitpunkt für den Erlass und den Eintritt der Bindungswirkung einer streitigen Senatsentscheidung in Betracht.

Der beschließende Senat folgt aber nicht der Rechtsauffassung, die insoweit auf den Zeitpunkt eines mit richterlichem Bekanntgabe-Willen herbeigeführten Eingangs des handschriftlich unterzeichneten bzw. qualifiziert signierten Beschlusstextes auf der Geschäftsstelle abhebt, und zwar weder für die Arbeit in Papierform noch für die elektronische Arbeitsweise.

Die hier abgelehnte Rechtsmeinung würde allerdings auf wünschenswert wirksame Weise der prozessualen Unart mancher Verfahrensbeteiligter begegnen, die in ihrem Vortrag kein Ende finden und das Gericht bis zur Bekanntgabe seiner Entscheidung mit sukzessive nachgeschobenem (oft eindeutig unerheblichem) Vorbringen befassen. Sie verkürzt dabei aber zu sehr die Möglichkeiten der Gewährung rechtlichen Gehörs und einer sinnvollen richterlichen Selbstkorrektur. Insbesondere zwänge sie ggf. dazu, eine bereits als eindeutig falsch erkannte Entscheidung hinauszugeben, obwohl deren Änderung "technisch gesehen" noch ohne weiteres möglich wäre und sich das Gericht eines fehlerhaften Judikats bislang nicht in der Verkündung vergleichbarer Weise entäußert hat (vgl. Clausing/Kimmel, a. a. O., § 116 VwGO, Rn. 10). Letzteres - also eine solche Entäußerung - ist daher auch als das hier maßgebliche Kriterium für den Erlass des Beschlusses und den Eintritt seiner Bindungswirkung zu betrachten (vgl. Clausing/Kimmel, a. a. O., § 116 VwGO, Rn. 10; Stuhlfauth, in: Bader u. a., VwGO, 8. Aufl. 2021, § 116, Rn. 13., jeweils m. w. N.).

In den vorstehend angesprochen und an einen Missbrauch grenzenden Fällen nicht enden wollenden Vortrags muss daher die den Erlass der Entscheidung markierende Zäsur ggf. auf andere Weise herbeigeführt werden. Dies kann etwa durch eine auf richterliche Anordnung vorgezogene (z. B. telefonische) Bekanntgabe nur der Entscheidungsformel geschehen, und zwar nötigenfalls allein an jene Beteiligten, die sich mit zumutbarem Aufwand kurzfristig kontaktieren lassen.

Mit der Erreichung der letzten "Phase" eines vorstehend beschriebenen "Workflows" ist hiernach ein Gerichtsbeschluss noch nicht erlassen, und zwar unabhängig davon, ob der Entscheidungsentwurf - wie im vorliegenden Falle - weiter in dem elektronischen Ordner "Entwürfe" gespeichert blieb, oder ob er bereits in den elektronischen Ordner "Geschäftsgang" gelangte. Denn das ist lediglich einer unterschiedlichen praktischen Handhabung in den Spruchkörpern geschuldet.

Es kann zwar - zumindest, sofern nicht zulasten eines Beteiligten der Rechtsgedanke des § 162 Abs. 1 BGB anwendbar sein sollte - im Außenverhältnis dahinstehen, wer gerichtsintern berufen ist, eine als korrekturbedürftig erkannten Entscheidung, die nicht nach außen verlautbart ist, durch Abbruch des "Workflows" von der Geschäftsstelle "zurückzuholen". Gleichwohl sei festgehalten, dass in Abwesenheit des planmäßigen Vorsitzenden jedenfalls sein Vertreter dazu befugt ist. Man wird daneben aber auch jedes andere berufsrichterliche Mitglied des Spruchkörpers, das mit vertretbaren Gründen eine erneute Beratung (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 36 AsylG, Rn. 33) verlangen könnte, als hierzu berechtigt ansehen dürfen. Das gilt fraglos, wenn - wie hier durch eine Rücknahme des Rechtsmittels - der entworfenen streitigen Entscheidung die Grundlage entzogen wurde.

Nach alledem ist davon auszugehen, dass ein Beschwerdebeschluss des Spruchkörpers im vorliegenden Falle nicht erlassen worden ist, sodass lediglich ein - wenn auch bereits vollständig signierter - Entwurf bleibt, der keine Bindungswirkung entfaltet.

Da der Kläger bereits mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2023 seine Beschwerde zurückgenommen hatte, ist dieser von vornherein unrichtige Entwurf zurückzuziehen und das Beschwerdeverfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. So erübrigt es sich auch, eine solche Entscheidung erst mithilfe der Anhörungsrüge (§ 152a VwGO) herbeizuführen.

Der Kostenausspruch folgt im Umkehrschluss aus Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) sowie aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).