Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 09.10.2023, Az.: 1 B 1628/23

Abschiebungsandrohung; Abschiebungshindernis; ernstliche Zweifel (bejaht); EuGH C-484/22; familiäre Belange; innerstaatlicher Schutz; Kindeswohl; Rückkehrentscheidung; Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
09.10.2023
Aktenzeichen
1 B 1628/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 37962
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1009.1B1628.23.00

Amtlicher Leitsatz

Inlandsbezogene Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG müssen bereits bei Erlass einer asylrechtlichen Rückkehrentscheidung - Abschiebungsandrohung - berücksichtigt werden; dasselbe gilt für familiäre Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG eines erwachsenen Elternteils, wenn davon auch ein Minderjähriger reflexhaft betroffen ist. Diese Belange stehen (bereits) der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung entgegen (vgl. EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 C-484/22 , juris).

Beschluss
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 1. Kammer - am 9. Oktober 2023 durch den Einzelrichter beschlossen:

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 23. Februar 2023 (Az. 1 A 1627/23) gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Februar 2023 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des (gerichtskostenfreien) Verfahrens.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege vorläufigen Rechtsschutzes gegen die drohende Abschiebung nach Georgien.

Er ist georgischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit, 1994 in Russland geboren. Er reiste nach eigenen Angaben am 10. Dezember 2021 in die Bundesrepublik ein und stellte am 11. Februar 2022 einen Asylantrag. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) berichtete er von einer Auseinandersetzung am 25. September 2021 an einer Tankstelle im Ort E.. Er habe einen der Täter, einen Polizisten mit guten Verbindungen, angezeigt und sei daraufhin bedroht und verletzt worden. Er habe keine Hilfe von staatlichen Stellen gesucht; die kontaktierte Hilfsorganisation habe ihm nicht geholfen. Seine Ehefrau und sein Kind lebten in Deutschland.

Die Ehefrau und das Kind führen ein verwaltungsgerichtliches Verfahren (Az. 1 A 511/22) gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes vom 19. Januar 2022. Sie hätte zusammen mit ihrem Kind Georgien am 11. September 2021 verlassen und sei am 16. September 2021 auf dem Landweg aus der Republik Österreich kommend in das Bundesgebiet eingereist. Die Ehe wurde nach der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Eheurkunde am 1. September 2021 vor dem Standesamt F. geschlossen; in der vorgelegten Geburtsurkunde des Kindes, geboren am G. Juni 2019 in Georgien, ist der Antragsteller als Vater eingetragen.

Mit Bescheid vom 16. Februar 2023 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers sowie die Anträge auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet ab. Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Es drohte in Ziffer 5. des Bescheides die Abschiebung nach Georgien und ordnete des Weiteren ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an, das es auf 30 Monate befristete. Selbst bei Wahrunterstellung des Geschehensablaufs führe das Erlebte nicht zur Gewährung des Flüchtlingsschutzes. Der Antragsteller habe die innerstaatlichen Schutzmöglichkeiten nicht in Anspruch genommen. Gleichsam scheide auch eine Zuerkennung des subsidiären Schutzes und als Asylberechtigter aus.

Mit Schreiben vom 23. Februar 2023 hat der Antragsteller Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist (1 A 1627/23) und um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht.

Er trägt vor, dass er seine Fluchtgeschichte bereits im Rahmen der persönlichen Anhörung detailliert und sehr ausführlich geschildert habe. Die Rechtsbeugung ginge gerade von den staatlichen Institutionen in Georgien aus, die ihm einen ernsthaften Schaden zugefügt hätten. Der Lagebericht aus dem Jahr 2020 sei veraltet, die Behörden würden weiter als Machtinstrumente der staatlichen Akteure genutzt. Die Hilfsorganisation, an die sich der Kläger gewandt habe, habe nicht weitergeholfen.

Der Antragsteller gibt an, dass er und seine Ehefrau im Bundesgebiet wieder zusammengefunden hätten. Die Ehefrau habe am 30. Januar 2023 eine weitere Tochter geboren. Er legt insoweit für ein weibliches Kind eine vorläufige Bescheinigung wegen Zurückstellung der Beurkundung aufgrund fehlender Unterlagen durch das Standesamt vom 11. Mai 2023 vor. Eine Abschiebung des Antragstellers führe zur Trennung der Familie und verletze Art. 6 GG und Art. 8 EMRK.

Der Antragsteller beantragt "hilfsweise",

  1. 1.

    die aufschiebende Wirkung der Klage der Klage gegen den Bescheid vom 16.2.2023 wiederherzustellen;

  2. 2.

    den Bescheid der Beklagten vom 16.2.2023 betreffend der Abschiebungsandrohung aufzuheben und das Abschiebungsverbot anzuordnen;

  3. 3.

    die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Sie alle waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, über den nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg.

Die Anträge versteht der Einzelrichter im Interesse des Antragstellers gem. § 88 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung und lässt die "hilfsweise" Geltendmachung als Versehen außer Acht. Insoweit ist die aufschiebende Wirkung der Klage kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1, § 36 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ausgeschlossen und der Antrag statthaft.

Der so verstandene und auch ansonsten gem. 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO und § 36 Abs. 3 AsylG zulässige Antrag auf vorläufigen Rechtschutz ist begründet. Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung in Ziffer 5. des angefochtenen Verwaltungsaktes.

Gegenstand des gerichtlichen Eilverfahrens ist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG die mit einer Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG) verbundene Abschiebungsandrohung. Die mit der Entscheidung bezweckte umgehende Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet stützt sich auf die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet und ist deren Folge. Gem. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ein Asylantrag ist nach § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Das ist insbesondere in den in § 29a AsylG und in § 30 Abs. 2 bis 5 AsylG geregelten Fällen anzunehmen oder wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen keine Zweifel bestehen und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung sich eine Ablehnung des Antrages geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschl. v. 20.4.1988 - 2 BvR 1506/87 -, NVwZ 1988, 717, Beschl. v. 8.11.1991 - 2 BvR 1351/91 -, InfAusIR 1992, 72). Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94,166, 194).

Gemessen an diesen Maßstäben bestehen derzeit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsandrohung.

Die tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Bewertungen zu den Anträgen des Antragstellers auf internationalen Schutz und die Feststellung von Abschiebungsverboten sind auch nach Ansicht des Einzelrichters zutreffend. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird gem. § 77 Abs. 3 AsylG auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen, denen sich der Einzelrichter vollumfänglich anschließt. Die ergänzenden Ausführungen im gerichtlichen Verfahren sind nicht geeignet, einen Anspruch auf Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz bzw. auf die Feststellung von Abschiebungsverboten zu begründen. Insofern ist der Antragsteller darauf zu verweisen, Schutz durch die Polizei- und Justizbehörden seines Heimatlandes vor möglichen Bedrohungen nichtstaatlicher Akteure in Anspruch zu nehmen. Zwar wird die Polizei nach Auskunft des Auswärtigen Amtes in Georgien in ihrer Rolle als Hüter von Regeln öffentlich als zurückhaltend, aber auch oft als untätig oder wenig effektiv wahrgenommen. Bestechung bzw. Bestechlichkeit ist allgemein jedoch nicht mehr zu verzeichnen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien - Lagebericht - vom 26.5.2023, S. 7). Von einer Unwilligkeit oder Unfähigkeit der georgischen Behörden, ihre Staatsangehörigen vor strafbaren Handlungen zu schützen, ist nicht auszugehen. Der georgische Staat ist grundsätzlich willens und in der Lage, vor Übergriffen im Rahmen von privaten Konflikten Schutz zu bieten bzw. hiergegen einzuschreiten oder solchen vorzubeugen. In Rechnung zu stellen ist insoweit, dass staatlicher Schutz nicht lückenlos und absolut sicher sein muss, sondern es ausreichend ist, wenn dieser generell gewährleistet ist (vgl. § 3d Abs. 2 AsylG und dazu nur BVerwG, Urt. v. 5.7.1994 - BVerwG 9 C 1.94 -, juris Rn. 9). Dem Antragsteller ist es durchaus zuzumuten, sich bei weiteren Bedrohungen an eine andere Polizeidienststelle oder andere georgische Behörden zu wenden, was sie bisher nicht getan haben.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen jedoch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seinem Beschluss vom 15. Februar 2023 (Az. C-484/22) über ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8.6.2022 - BVerwG 1 C 24.21 -, juris) angesichts der familiären Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet.

Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der dar (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.5.2019 - BVerwG 1 C 14/19 -, juris Rn. 30) und muss daher den sich daraus ergebenden unionsrechtlichen Anforderungen gerecht werden (Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, AsylG, § 34, Rn. 5a). Der Europäische Gerichtshof hat nunmehr beschlossen, dass Art. 5 Buchst. a) und b) der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die gemeinsamen Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98 ff.) - Rückführungsrichtlinie - dahingehend auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen sind und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs zu erwirken (vgl. EuGH, Beschluss vom 15.2.2023 - C-484/22 -, Rn. 28).

Die in Art. 5 lit. a) und b) Rückführungsrichtlinie genannten Belange stehen der Abschiebungsandrohung in Ziffer 5. des Bescheides vom 16. Februar 2023 entgegen.

Zwar betrifft die gegenständliche Abschiebungsandrohung - anders als in dem vorgelegten Fall (vgl. EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -, juris Rn. 2) - nicht die gegenüber einem Minderjährigen erlassene Rückkehrentscheidung. Jedoch ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen, wenn durch sie der Umgang mit einem Kind berührt wird, und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen, insbesondere in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris Rn. 25 f. m. w. N.). Da Art. 5 lit. a) der Rückführungsrichtlinie unter anderem die Gewährleistung der Grundrechte eines Kindes nach Art. 24 GRCh bezweckt und daher nicht eng ausgelegt werden darf (vgl. EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -, juris Rn. 23 m. w. N.), kann er nicht dahingehend verstanden werden, dass das Wohl des Kindes nur im Verfahren des Kindes selbst zu berücksichtigen ist. Zudem ist das Kindeswohl bei der Entscheidung über den Erlass einer Abschiebungsandrohung gegen den Kläger im Rahmen der Beurteilung der familiären Bindungen nach Art. 5 lit. b) der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen. Denn Art. 5 der Rückführungsrichtlinie verwehrt den Erlass einer Rückkehrentscheidung, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er zur Verhinderung des Erlasses einer solchen Entscheidung geltend macht (vgl. EuGH, EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -, juris Rn. 25 m. w. N.).

Verfassungsrechtlich verpflichtet zudem die in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers dem Gewicht dieser Bindungen entsprechend in den Erwägungen zur Geltung zu bringen. Auch bei der Berücksichtigung von Art. 8 EMRK ist davon auszugehen, dass das Wohl des Kindes grundsätzlich für einen Erhalt der Bindungen zu den Eltern spricht. Des Weiteren schützt Art. 7 GRCh in vergleichbarer Weise das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Ob zwischen Elternteil und Kind eine familiäre Gemeinschaft besteht, hängt im Wesentlichen von den konkret-individuellen Umständen des Familienlebens ab. Eine geschützte Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten persönlichen Kontakts oder genau am Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen, vielmehr verbietet sich eine schematische Einordnung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris Rn. 19 ff.). Für eine tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft muss auch nicht notwendiger Weise eine Hausgemeinschaft bestehen. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, juris Rn. 15). Maßgeblich für eine tatsächlich enge Bindung ist insbesondere ein nachweisbares Interesse sowie das Bekenntnis des Elternteils zu dem Kind vor und nach dessen Geburt (vgl. EGMR, Urt. v. 3.12.2009 - 22028/04 -, juris Rn. 37). Es ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris Rn. 25 f. m. w. N.). Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, zuletzt Beschl. v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 -, juris Rn. 48 m. w. N.).

Vor diesem Hintergrund steht der Abschiebung des Antragstellers nach den Umständen des Einzelfalles derzeit ein rechtliches Abschiebungshindernis gem. Art. 6 GG, Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK entgegen.

Der Antragsteller ist Teil einer grundrechtlich, europarechtlich und konventionsrechtlich gem. Art. 6 GG, Art. 7 GRCh bzw. Art. 8 EMRK geschützten Familiengemeinschaft. Die Ehefrau und das ältere Kind verfügen angesichts des anhängigen Klageverfahrens hinsichtlich des einfach unbegründet abgelehnten Asylerstantrags nach wie vor über eine Aufenthaltsgestattung (§§ 55 Abs. 1 Satz 1, 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1, 75 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG) und somit über ein, zwar auf die Dauer des Klageverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht (VG München, Urt. v. 3.4.2023 - M 27 K 22.30441 -, juris Rn. 32; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, AsylG, § 55, Rn. 2). Von der Abschiebungsandrohung gegenüber dem Antragsteller ist reflexhaft das vierjährige Kind betroffen, das schon aufgrund seines Alters nach Einschätzung des Einzelrichters den vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen kann und diesen rasch als endgültigen Verlust erfahren würde. Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, dass die familiäre Lebensgemeinschaft durch die unterschiedlichen Zeitpunkte der Einreise bereits einmal unterbrochen war. Zu diesem Zeitpunkt war das Kind erst zwei Jahre alt, sodass die nur kurzfristige Unterbrechung mittlerweile nicht mehr erinnerlich sein sollte bzw. die Vater-Kind-Beziehung dadurch nicht mehr durchgreifend beeinträchtigt ist. Auch die Möglichkeiten der visafreien Einreise für den Antragsteller für bis zu 90 Tage je 180 Tage während der Dauer des asylrechtlichen Klageverfahrens des Kindes ist nicht ausreichend, um das Wohl des Kindes zu gewährleisten, da das Kind durch die wiederholten Trennungen verunsichert und die Vater-Kind Beziehung nachhaltig geschädigt würde. Das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen zum Kind i. S. v. Art. 5 lit. a) und b) Rückführungsrichtlinie sind daher durch eine Abschiebung des Antragstellers nicht nur betroffen, sondern gebieten einen durchgehenden Aufenthalt des Antragstellers für die Dauer des Klageverfahrens des Kindes.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).

Dr. Widdascheck