Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.04.2017, Az.: 1 ME 34/17

Bauwich; Drittschutz; Einfügen; Grenzabstand; Nachbarzustimmung; Rücksichtnahmegebot

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.04.2017
Aktenzeichen
1 ME 34/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54086
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 10.02.2017 - AZ: 4 B 4832/16

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Begünstigte des in § 34 Abs. 1 BauGB verankerten Rücksichtnahmegebots sind nur die Eigentümer, deren Grundstücke Teil der für das Merkmal des Einfügens maßstabbildenden Bebauung sind; in eine Beziehung zu sonstigen Gebäuden setzt § 34 Abs. 1 BauGB das Vorhaben nicht.

Auf eine Verletzung der Grenzabstandsvorschriften kann sich derjenige Nachbar nicht berufen, der selbst den Bauwich in vergleichbarer Weise unterschreitet; das gilt auch, wenn die Abstandsunterschreitung genehmigt ist oder sogar früherem Abstandsrecht entsprach (st. Rspr., vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 20.10.2014 - 1 LA 103/14 - m.w.N.).

Auch die Zustimmung des jetzigen Bauherrn zur damaligen Unterschreitung des Grenzabstands steht der Anwendung dieser Rechtsprechung nicht entgegen.
Anderes kann gelten, wenn Bauherr für seine Zustimmung eine angemessene, das nachbarliche Gleichgewicht bereits herstellende Gegenleistung empfangen hat (hier verneint).

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer - vom 10. Februar 2017 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. sind erstattungsfähig, die der Beigeladenen zu 2. sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 48.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen die Genehmigung eines Mehrfamilienhauses in 2,5 m Abstand zur ihrem Grundstück zugewandten Grundstücksgrenze, da sie für die mit Fenstern und Balkonen versehene Südfassade ihres im gleichen Grenzabstand errichteten, ähnlich großen Hauses eine unzumutbare Verschattung befürchtet.

Die Antragstellerin, eine Wohnungseigentümergemeinschaft, ist Eigentümerin des Grundstücks G. straße 20 im Stadtgebiet der Beigeladenen zu 2. Das Grundstück ist straßenseitig mit einem 1994 genehmigten Appartementhaus bebaut, das sich ohne Grenzabstand an das nördliche, ähnlich bebaute Eckgrundstück G. straße 21 anschließt, eine Breite von 12,60 m und im - von der Straße 2,45 m zurückspringenden -Erdgeschoss eine Tiefe von ca. 17 m, in den nochmals um rd. 3,60 m zurückgesetzten Obergeschossen von ca. 13,40 m hat. Das Haus verfügt über vier Vollgeschosse sowie einen Dachboden und ist insgesamt ca. 14 m hoch. An der Südfassade sind die Wohnzimmerfenster von 4 Wohnungen, die zusätzlich über Terrassen/Loggien nach Westen verfügen, sowie die Terrassen/Loggien von 4 weiteren Wohnungen, die zusätzlich (relativ kleine) Wohnzimmerfenster nach Osten aufweisen, angelegt. Zur südlichen Grundstücksgrenze hält das Gebäude einen Abstand von 2,50 m. Der damalige Eigentümer des heute der Beigeladenen gehörenden südlichen Nachbargrundstücks G. straße 19 hatte dem Vorhaben schriftlich unter der Bedingung zugestimmt, dass der damalige Bauherr zwischen den beiden Grundstücken eine 2,00 m hohe Sichtschutzmauer errichtete und die Hoffläche des Beigeladenengrundstücks pflasterte. Das mittlerweile beseitigte, damals auf diesem Grundstück vorhandene Haus hielt selbst einen Grenzabstand von ca. 3,00 m zur gemeinsamen Grenze ein und war deutlich niedriger als das Vorhaben der Antragstellerin. Antragsteller- wie Beigeladenengrundstück liegen im unbeplanten Innenbereich.

Im Jahr 2013 genehmigte der Antragsgegner auf dem Grundstück G. straße 19 ein ohne seitliche Grenzabstände zu errichtendes mehrstöckiges Wohnhaus. Der hiergegen gerichtete Antrag der Antragstellerin auf einstweiligen Rechtsschutz hatte vor dem Verwaltungsgericht (Beschl. v. 18.10.2013 - 4 B 6109/13 -) und dem Oberverwaltungsgericht (Beschl. v. 29.1.2014 - 1 ME 222/13 -) Erfolg. Beide Gerichte führten aus, aus der Entstehungsgeschichte des Gebäudes der Antragstellerin sei abzuleiten, dass zwischen den Grundstücken, ungeachtet der in der näheren Umgebung vorherrschenden geschlossenen Bauweise, Grenzabstände einzuhalten seien; die Nachbarzustimmung des damaligen Eigentümers des Grundstücks G. straße 19 begründe ein schutzwürdiges Vertrauen der Antragstellerin dahingehend, dass nicht unmittelbar an die Grenze gebaut werde; ob der volle oder ein ebenfalls auf 2,50 m reduzierter Grenzabstand einzuhalten sei, könne dahinstehen.

Am 21.4.2016 erteilte der Antragsgegner der Beigeladenen zu 1. die hier streitgegenständliche Baugenehmigung für ein mit Blick auf diese Rechtsprechung modifiziertes Vorhaben. Dieses hält nunmehr zur dem Antragstellergrundstück zugewandten Nordgrenze einen Abstand von 2,50 m. Es soll - wie sein beseitigter Vorgänger - unmittelbar an die Straße gebaut werden und im Erdgeschoss eine Tiefe von 19,89 m haben, so dass seine Rückfront (ohne die hier vorgesehenen Balkone) der des Antragstellergebäudes entspräche. 1. und 2. Obergeschosse sind an der Straßenseite 2,50 m zurückgesetzt vorgesehen, das darüber liegende „Staffelgeschoss“ wiese zur Straßenseite eine - sehr steile - Dachschräge auf, hofseitig entspräche es den darunterliegenden Geschossen. Insgesamt wäre das Vorhaben 11,83 m hoch.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat die Antragstellerin am 1.9.2016 Klage erhoben und am 19.9.2016 die Anordnung von deren aufschiebender Wirkung beantragt. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 10.2.2017 als jedenfalls unbegründet abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, das Vorhaben der Beigeladenen zu 1. werde sich voraussichtlich als rechtmäßig erweisen. Es verstoße nicht gegen das in § 34 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme. Das Vorhaben füge sich insbesondere nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Die maßgebliche Bebauung auf den Grundstücken G. straße 15 im Süden bis 21 im Norden sei dem Vorhaben hinsichtlich der Grundfläche vergleichbar. Die Bebauungstiefe entspreche der des Antragstellergebäudes; zur Straße hin springe das Vorhaben im Erdgeschoss etwas vor, das führe aber nicht zu bodenrechtlichen Spannungen. Die Grundfläche der anderen maßstabsbildenden Gebäude sei ähnlich. Die Höhe des Vorhabens bleibe hinter der der Gebäude G. straße 20 und 21 sogar zurück, die Geschosszahl entspreche mutmaßlich der dieser Vergleichsgebäude. Das Vorhaben füge sich auch hinsichtlich der zu überbauenden Grundstücksflächen in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Weder die vordere noch die rückwärtige Gebäudefront sprenge den Rahmen der insoweit nicht ganz einheitlichen und zudem durch weitere, rückwärtige Bauten auf den fraglichen Grundstücken geprägten Umgebungsbebauung. Umstände, die trotz Einhaltung des Rahmens der maßgeblichen Umgebungsbebauung einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme begründen könnten, lägen nicht vor. Zwar werde sich die Situation des Antragstellergebäudes nachteilig verändern; die Antragstellerin habe aber keinen Anspruch auf Perpetuierung der vorhandenen Situation, namentlich die Beibehaltung einer relativ freien Aussicht nach Süden. Ob das Vorhaben gegen die Grenzabstandsregelung des § 5 NBauO verstoße, könne offen bleiben, da sie selbst den Bauwich in Anspruch nehme. In einer solchen Situation sei dem Nachbarn die Berufung auf Grenzabstandsrecht verwehrt, unabhängig davon, ob seine Grenzabstandsunterschreitung von einer bestandskräftigen Baugenehmigung gedeckt sei. Voraussetzung sei lediglich, dass die Abstandsverstöße vergleichbar seien. Das sei hier der Fall. Beide Gebäude seien gleich weit von der Grenze entfernt; dass das Antragstellergebäude mit seiner Südfassade, das Beigeladenenvorhaben nur mit der Nordfassade betroffen sei, führe nicht dazu, dass der Beeinträchtigung des ersteren eine höhere Qualität beizumessen sei. Die künftige Entwicklung sei aufgrund der Vereinbarung aus den Jahren 1994/95 vorgezeichnet gewesen, zudem sei das Gebäude der Antragstellerin höher, und die Beigeladene zu 1. habe bereits vielfach Rücksicht auf die Antragstellerin genommen. Unzumutbar sei die vorhabenbedingte Verschattung des Antragstellergebäudes, zumal angesichts seiner Lage im innerstädtischen Bereich, nicht.

II.

Die dagegen gerichtete Beschwerde hat keinen Erfolg.

Fraglich ist bereits die Zulässigkeit des Antrags. Dies gilt, unabhängig von den von der Beigeladenen zu 1. im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemachten Bedenken namentlich deshalb, weil nach ständiger Rechtsprechung des Senats im Grundsatz jeder Nachbar gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO verpflichtet ist, vor Anrufung des Verwaltungsgerichts einen Aussetzungsantrag zu stellen und dessen Bescheidung abzuwarten (Senatsbeschl. v. 15.4.2010 - 1 ME 22/10 -, NVwZ-RR 2010, 552 = BauR 2010, 1912 = juris Rn. 17 ff. m.w.N.). Das ist hier, soweit ersichtlich, nicht geschehen. Ob - namentlich mit Blick auf den zwischenzeitlich erfolgten Abriss des Vorgängerbaus - die Ausnahmevorschrift des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO greift, kann dahinstehen. Denn jedenfalls hat das Verwaltungsgericht den Antrag zutreffend als unbegründet angesehen. Die hiergegen fristgemäß vorgetragenen Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, greifen nicht durch.

1. Dies gilt zunächst hinsichtlich der Frage, ob sich das Vorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Die Antragstellerin macht sinngemäß geltend, der vom Verwaltungsgericht als maßstabsbildend herangezogene Bereich der Gebäude östlich der G. straße, südlich der H. straße und nördlich der I. -Straße (G. straße Nr. 15 bis 21) sei zu weit gegriffen; die Gebäude G. straße 20 und 21 seien für das Vorhaben nicht maßstabsbildend, da die vorhandene Lohne südlich des Antragstellergebäudes eine Zäsur darstelle, die zwei unterschiedlich bebaute Bereiche (den von größeren Gebäuden geprägten Norden der Straßenzeile und den mit kleineren Bauten bestandenen Süden) voneinander scheide. Dies vermag der Beschwerde schon deshalb nicht zum Erfolg zu verhelfen, weil nicht § 34 Abs. 1 BauGB schlechthin und gegenüber jedermann, sondern lediglich das im Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ in die Eigenart der näheren Umgebung verankerte Rücksichtnahmegebot nachbarschützend ist. Begünstigte des Rücksichtnahmegebots sind insoweit aber nur diejenigen Eigentümer, deren Grundstücke Teil dieser maßstabsbildenden näheren Umgebung sind; in eine Beziehung zu sonstigen Gebäuden setzt § 34 Abs. 1 BauGB das Vorhaben nicht. Vermittelt die Beschaffenheit der näheren Umgebung „außenliegenden“ Grundstücken faktische Lagevorteile - hier die durch die behauptet geringere Bauhöhe und -tiefe relativ freie Sicht nach Süden - sind dies lediglich Rechtsreflexe, auf deren Erhalt § 34 BauGB keinen Anspruch gewährt.

Auch ein dem Vortrag der Antragstellerin möglicherweise zu entnehmendes Hilfsvorbringen dahingehend, ihr Grundstück sei zwar Teil der maßstabbildenden näheren Umgebung, diese sei aber von einer in der Höhe nach Süden abfallenden und hinsichtlich der rückwärtigen Gebäudegrenzen sich nach Süden kontinuierlich „verkürzenden“ Dimension der straßenseitigen Gebäude geprägt, überzeugt nicht. Die von der Antragstellerin in der Bebauung G. straße 15-21 ausgemachte kontinuierliche Abstufung der Gebäudehöhen vermag der Senat nicht zu erkennen. Zwar sind in der Tat die Gebäude G. straße 20 und 21 die höchsten in der Straße. Allerdings ist auch das Gebäude G. straße 17 höher als das Vorhaben (vgl. die von der Antragstellerin eingereichte Anlage 6, GA Bl. 36, sowie GA Bl. 131). Vergleichbares gilt für die Gebäuderückseiten (vgl. dazu insbesondere Bl. 18 der Gerichtsakte). Schon das Gebäude der Antragstellerin schließt an seiner Rückseite nahtlos an die rückwärtige Fassade des Gebäudes G. straße 21 an und springt nicht etwa hinter diese zurück, um seinerseits eine sukzessive Annäherung an die Bebauungstiefen der Grundstücke G. straße 16 und 17 zu erreichen. Der Vorgängerbau des Vorhabens wies eine deutlich geringere Tiefe auf als das Gebäude der Antragstellerin, die folgenden beiden Bauten nähern sich dieser wieder an, ohne sie ganz zu erreichen. Diese drei Gebäude waren/sind dafür mit umfangreichen rückwärtigen Anbauten versehen, die das Antragstellergebäude nicht aufweist und auch das Vorhaben nicht aufweisen soll. Auch diese Anbauten können bei der Beurteilung des umgebungsprägenden Maßes der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht gänzlich außer Betracht bleiben. Eine nach Süden hin gleichmäßig abnehmende Gebäudetiefe im Interesse einer „Offenhaltung der hinteren Grundstücksbereiche“ ist auch bisher nicht erkennbar, mit der Folge, dass ein Gebäude, das sich hinsichtlich der Lage seiner rückwärtigen Fassade eher an seinen nördlichen Nachbarn G. straße 20 und 21 als an seinen südlichen Nachbarn 16 und 17 oder an einem Mittel aus beiden Gruppen orientiert, den Rahmen der Umgebungsbebauung nicht verlässt. Dass die Lage der Vorderfassade Vorbilder in der Umgebungsbebauung hat, stellt die Beschwerde nicht in Frage. Zwar hält sich ein Vorhaben hinsichtlich des Maßes der Bebauung nicht bereits dann im Rahmen der maßstabbildenden Bebauung, wenn es hinsichtlich jedes einzelnen das Maß prägenden Gesichtspunkts Vorbilder in der Umgebung hat, diese jedoch im Sinne eines „Rosinenpickens“ zu einem in diesen Dimensionen bisher nicht vorhandenen Baukörper vereint (vgl. a. BVerwG, Urt. v. 8.12.2016 - 4 C 7.15 -, ZfBR 2017, 263 = BauR 2017, 709). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. In der Gesamtschau ist das Vorhaben jedenfalls mit dem der Antragstellerin durchaus vergleichbar. Die - bedingt durch die leicht vorspringende Straßenfront bei tiefengleicher Rückfront - größere Tiefe des Baukörpers wird bei ähnlicher Gebäudebreite durch eine geringere Höhe kompensiert. Dass das Nachbargebäude kleiner ausfällt als ihr eigenes kann die Antragstellerin unter dem Aspekt des Rücksichtnahmegebotes nicht verlangen.

2. Auch die Beschwerdegründe gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Möglichkeit der Antragstellerin, sich auf etwaige Verletzungen von Grenzabstandsvorschriften zu berufen, greifen nicht durch.

Auf S. 5 der Beschwerdebegründung versucht die Antragstellerin, die ständige Rechtsprechung des Senats und anderer Obergerichte, nach der sich derjenige, der selbst den Bauwich in Anspruch nehme, nicht gegen eine vergleichbare Inanspruchnahme durch seinen Nachbarn zur Wehr setzen könne, mit dem Argument in Frage zu stellen, die Grenzabstandsregeln dienten neben dem Nachbarschutz auch übergeordneten öffentlichen Interessen. Letzteres ist zwar zutreffend, führt aber lediglich dazu, dass die für ein die Grenzabstandsvorschriften verletzendes Vorhaben erteilte Baugenehmigung unabhängig von der Nachbarbebauung objektiv rechtswidrig ist. Die vorgenannte Rechtsprechung betrifft demgegenüber die Frage, ob dieser objektiven Rechtswidrigkeit ein gerichtlich durchsetzbarer subjektiver Anspruch des Nachbarn auf Aufhebung der Baugenehmigung und ggf. bauaufsichtliches Einschreiten gegen das Vorhaben korrespondiert. Das ist unter den genannten Voraussetzungen nicht der Fall.

Soweit die Antragstellerin weiter geltend macht, es begegne Bedenken, diese Rechtsprechung unabhängig von der formellen oder gar materiellen Rechtmäßigkeit der Grenzabstandsunterschreitung des beschwerdeführenden Nachbarn anzuwenden, da dies der Vielfalt möglicher Ursachen einer Grenzabstandsunterschreitung nicht Rechnung trage, ist ihr nur eingeschränkt zu folgen. Der Antragstellerin ist darin beizupflichten, dass bei der Beantwortung der Frage, ob einem Nachbarn, der die in § 5 NBauO festgelegten Grenzabstände selbst nicht einhält, die Berufung auf Grenzabstandsverletzungen anderer versagt ist, die Hintergründe seiner eigenen Unterschreitung aktuell geltender Grenzabstände nicht stets ausgeblendet werden können. Unerheblich ist es zwar - insoweit ist an der vom Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegebenen Senatsrechtsprechung festzuhalten -, ob diese Abstandsunterschreitung von einer Baugenehmigung gedeckt ist und ob sie möglicherweise zum Zeitpunkt der Errichtung der Anlage vom damals geltenden Abstandsrecht gedeckt waren; denn die genannte Rechtsprechung knüpft nicht an einen Rechtswidrigkeitsvorwurf gegenüber dem beschwerdeführenden Nachbarn an, sondern daran, dass diesem ein Abwehranspruch nur bei einer Störung des nachbarlichen Gleichgewichts zustehen soll (vgl. Senatsbeschl. v. 20.10.2014 - 1 LA 103/14 -, BauR 2015, 246 = juris Rn. 7 f.).

Auch eine ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung des Bauherrn zur Grenzabstandsunterschreitung des beschwerdeführenden Nachbarn steht der Anwendung der genannten Rechtsprechung nicht ohne weiteres entgegen (im vorgenannten Senatsbeschluss v. 20.10.2014 noch offen gelassen). Vielmehr lässt ein solches „Entgegenkommen“ des späteren Bauherrn in der Regel nicht erwarten, der Nachbar werde sich, sollte der Bauherr selbst später in die Verlegenheit kommen, den Bauwich in Anspruch nehmen zu wollen, weniger großzügig verhalten. Anderes kann freilich dann gelten, wenn der Bauherr für seine Zustimmung eine angemessene, das „nachbarliche Gleichgewicht“ bereits herstellende Gegenleistung empfangen hat. Wäre es ihm in diesem Fall noch möglich, seinerseits den Bauwich in Anspruch zu nehmen, so erhielte er für sein Entgegenkommen gleichsam einen doppelten Vorteil.

Ein solches Ungleichgewicht liegt im hier zu beurteilenden Fall hingegen nur bei oberflächlicher Betrachtung vor. Zwar hat der Voreigentümer der Antragstellerin dem Voreigentümer der Beigeladenen zu 1. im Gegenzug für ihre Zustimmung 1994/95 ihren Hof gepflastert (die Errichtung der Sichtschutzwand ist nicht als echte Gegenleistung, sondern eher als Schadensbegrenzungsmaßnahme anzusehen). Diesem Vorteil steht indes gegenüber, dass die jeweiligen Eigentümer des Vorhabengrundstücks über rund zwei Jahrzehnte erhöhte Einsichtnahmemöglichkeiten hinnehmen mussten, denen sie weder bei der damals vom Antragsgegner offenbar für notwendig erachteten offenen, noch bei der wohl tatsächlich gebotenen geschlossenen Bauweise, d.h. ohne südseitige Fenster und Balkone, ausgesetzt gewesen wären. Ihm steht ferner gegenüber, dass die Beigeladene zu 1. nach Maßgabe der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts vom 18.10.2013 - 4 B 6109/13 - und des Senats vom 29.1.2014 - 1 ME 222/13 - als Folge der damaligen Zustimmung bereits gehindert ist, ihr Grundstück in der eigentlich gebietsprägenden geschlossenen Bauweise zu bebauen. Hiervon hat die Antragstellerin in der Vergangenheit erheblich profitiert, nämlich durch eine über zwanzigjährige, im Stadtgebiet eigentlich nicht zu erwartende, seitliche Aussicht nach Süden bei gleichzeitiger Einhaltung eines nur geringen Grenzabstandes. Sie wird von der Zustimmung auch weiterhin in gewissem Umfang profitieren, da die Beigeladene zu 1. nach Maßgabe der vorgenannten, auf der Nachbarzustimmung gründenden Gerichtsbeschlüsse gezwungen ist, von ihrer Südfassade immerhin 5 statt 2,5 m Abstand zu halten. Wäre die Beigeladene zu 1. infolge der damals erteilten Nachbarzustimmung für alle Zeiten darauf beschränkt, auf ihrem Grundstück den vollen Grenzabstand, d.h. bei einer Gebäudehöhe von knapp 12 m einen Abstand von 6 m zur Grundstücksgrenze zu wahren, so wäre dies ein Nachteil, der angesichts der gerichtsbekannten wirtschaftlichen Bedeutung einer möglichst weitgehenden Grundstücksnutzung auf den ostfriesischen Inseln völlig außer Verhältnis zum Gegenwert der damals geleisteten Hofpflasterung stünde.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG; hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die zutreffenden Gründe des erstinstanzlichen Beschlusses verwiesen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).