Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.04.2024, Az.: 1 LA 1/24

Antrag eines Grundstücksnachbarn gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses; Ausstattung mit einem Anbau ohne Abstand zur gemeinsamen Grundstücksgrenze

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.04.2024
Aktenzeichen
1 LA 1/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 13802
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0418.1LA1.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 13.12.2023 - AZ: 4 A 3117/20

Fundstellen

  • BauR 2024, 1031-1033
  • DÖV 2024, 615
  • IBR 2024, 375
  • NVwZ-RR 2024, 749-750
  • NZM 2024, 912-914
  • NordÖR 2024, 339
  • ZfBR 2024, 258

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Für die Abgrenzung eines Gebäudes i.S.v. § 2 Abs. 2 NBauO von einem Gebäudeteil ist die funktionale und bautechnische Selbständigkeit maßgeblich; insofern bedarf es einer wertenden Gesamtbetrachtung (wie Senatsbeschl. v. 10.6.2022 - 1 ME 46/22 -, NVwZ-RR 2022, 665 = juris Rn. 9 f.).

  2. 2.

    Eine Verbindungstür zwischen dem Hauptgebäude und einem Anbau lässt diesen nicht zwangsläufig als Teil des Hauptgebäudes erscheinen, wenn die Verbindung die eigenständige Funktion des Anbaus unberührt lässt und ohne wesentliche Funktionsänderung hinweggedacht werden könnte. Die rechtlichen Grenzen sind indes überschritten, wenn der Anbau nicht unerheblich in die Nutzung des Hauptgebäudes eingebunden ist.

  3. 3.

    Dient ein Anbau mehreren Nutzungszwecken, darf die dem Hauptgebäude zuzuordnende Nutzung den Anbau nicht wesentlich prägen.

Tenor:

Der Antrag des Beigeladenen auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 13. Dezember 2023 wird abgelehnt.

Der Beigeladene trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten, die ihre Kosten selbst trägt.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 25.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses; in Streit steht noch dessen Ausstattung mit einem Anbau ohne Abstand zur gemeinsamen Grundstücksgrenze.

Der Kläger ist Eigentümer des im Aktivrubrum bezeichneten, mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks. Das nördlich angrenzende Vorhabengrundstück steht im Eigentum des Beigeladenen. Für den Neubau eines Mehrfamilienhauses auf dem Kellergeschoss des im Übrigen abgebrochenen Vorgängerbaus erteilte die Beklagte dem Beigeladenen unter dem 6. Juni 2019 eine Baugenehmigung. Aus den grüngestempelten Bauvorlagen ergibt sich, dass der bestehende Keller nach Westen unter anderem um einen Fahrradkeller erweitert wird. Der Fahrradkeller erhält einen eigenen Zugang nach außen, der über eine in einem eingeschossigen Anbau liegende Treppe an die Oberfläche geführt wird. Der Anbau mit einer Länge von 5,92 m, einer Breite von 3 m und einer Höhe von 2,40 m verfügt nach den Bauzeichnungen über Ausgänge nach Osten und Westen. Er schließt unmittelbar südlich an das Wohngebäude an und ist ohne Grenzabstand errichtet.

Auf die Klage des Klägers, der unter anderem eine Verletzung des einzuhaltenden Grenzabstands geltend gemacht hatte, hat das Verwaltungsgericht Hannover die Baugenehmigung mit dem angefochtenen Urteil vom 13. Dezember 2023 aufgehoben. Der Anbau halte nicht den gemäß § 5 Abs. 1 und 2 NBauO erforderlichen Grenzabstand. Zu seinen Gunsten greife insbesondere nicht § 5 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 NBauO a.F. (jetzt § 5 Abs. 8 Satz 4 Nr. 2 NBauO) ein. Die Voraussetzungen der Vorschrift lägen nicht vor, weil es sich bei dem Anbau nicht um ein Gebäude handele. Er sei nicht funktional selbständig, sondern er sei als Zugang zum Fahrradkeller in die Nutzung des Hauptgebäudes eingebunden.

II.

Der dagegen gerichtete, auf die Zulassungsgründe ernstlicher Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), besonderer Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sowie der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) gestützte Antrag des Beigeladenen auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung in der angegriffenen Entscheidung derart mit plausiblen Gegenargumenten in Frage zu stellen, dass sich dadurch etwas am Entscheidungsergebnis ändern könnte. Überwiegende Erfolgsaussichten sind nicht erforderlich; es genügt, wenn sich diese auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens als offen erweisen. Das ist nicht der Fall.

Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 NBauO müssen Gebäude mit allen auf ihren Außenflächen oberhalb der Geländeoberfläche gelegenen Punkten von den Grenzen des Baugrundstücks Abstand halten. Dies gilt entsprechend für andere bauliche Anlagen, von denen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 NBauO). Der Abstand beträgt 0,5 H, mindestens jedoch 3 m (§ 5 Abs. 2 Satz 1 NBauO). Diesen Anforderungen genügt das genehmigte Mehrfamilienhaus unter Berücksichtigung des grenzständigen südlichen Anbaus nicht.

Ohne Abstand oder mit einem bis auf 1 m verringerten Abstand von der Grenze sind gemäß § 5 Abs. 8 Satz 4 Nr. 2 NBauO (§ 5 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 NBauO a.F.) Garagen und Gebäude ohne Aufenthaltsräume und Feuerstätten (...) zulässig. Diese Voraussetzungen sind - wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat - ebenfalls nicht erfüllt, weil der Anbau kein Gebäude im Sinne des § 2 Abs. 2 NBauO, sondern lediglich einen Gebäudeteil des Mehrfamilienhauses darstellt.

Gebäude im bauordnungsrechtlichen Sinne sind selbständig benutzbare, überdeckte bauliche Anlagen, die von Menschen betreten werden können und geeignet oder bestimmt sind, dem Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen zu dienen. Der Begriff der selbständigen Benutzbarkeit ist auf funktionale und bautechnische Gesichtspunkte bezogen. Ein Gebäude muss selbst über diejenigen zentralen Merkmale verfügen, die nach seiner Zweckbestimmung zu einer ordnungsgemäßen Nutzung notwendig sind. Grundsätzlich erforderlich sind ein eigenes Fundament, ein eigener Zugang mit gegebenenfalls eigenem Treppenhaus im Inneren, Abschlusswände nach außen und eine eigene Überdachung. Nicht erforderlich ist dabei, dass Fundament, Decken, Außenwände und Dach von benachbarten Bauten konstruktiv getrennt sind und das Gebäude demzufolge bei statischer bzw. baukonstruktiver Betrachtung für sich Bestand haben könnte. Erforderlich ist aber eine zumindest gedankliche Teilbarkeit in vertikaler Hinsicht; "unter einem Dach" oder "auf einem Geschoss" kann es keine verschiedenen eigenständigen Gebäude geben (vgl. Senatsbeschl. v. 10.6.2022 - 1 ME 46/22 -, NVwZ-RR 2022, 665 = juris Rn. 9)

Der Begriff der selbständigen Benutzbarkeit ist nicht mit dem Begriff der Autarkie zu verwechseln. Der Gebäudeeigenschaft steht es daher nicht entgegen, wenn sich mehrere Gebäude gemeinsame, auch baurechtlich notwendige Anlagen wie beispielsweise Zuwegungen, Stellplätze sowie Vorrichtungen für die Abfallentsorgung und die Versorgung mit Energie, Wasser und Telekommunikation teilen. Je weitergehend allerdings die funktionale und vor allem auch bautechnische Verschränkung mehrerer baulicher Anlagen ausfällt, umso näher liegt die Annahme, es handele sich nicht mehr um mehrere, sondern um ein Gebäude. Erforderlich ist stets eine wertende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls. In die Wertung ist einzustellen, ob bei natürlicher Betrachtungsweise, in die die baukonstruktiven Merkmale der Bauausführung sowie das Erscheinungsbild und die Funktion der betrachteten Bauteile einzubeziehen sind, voneinander unabhängige Gebäude angenommen werden können (Senatsbeschl. v. 19.4.1999 - 1 L 805/99 -, BRS 62 Nr. 139 = juris Rn. 5; v. 10.6.2022 - 1 ME 46/22 -, NVwZ-RR 2022, 665 = juris Rn. 10).

Gemessen daran fehlt es dem Anbau bei wertender Gesamtbetrachtung jedenfalls an der erforderlichen funktionalen Selbständigkeit. Ihr steht zwar nicht von vornherein entgegen, dass der Anbau eine Türverbindung zum Hauptgebäude aufweist. Eine solche Verbindung lässt einen Anbau nicht zwangsläufig als Teil des Hauptgebäudes erscheinen, wenn die Verbindung die eigenständige Funktion des Anbaus unberührt lässt und ohne wesentliche Funktionsänderung hinweggedacht werden könnte (vgl. zutreffend Barth/Mühler, Abstandsvorschriften der niedersächsischen Bauordnung, 5. Aufl. 2021, § 5 Rn. 200; zu eng hingegen Breyer, in: Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 5 Rn. 247). Demzufolge beseitigt beispielsweise eine Verbindungstür zwischen Wohnhaus und angebauter Garage nicht deren Gebäudeeigenschaft, sofern diese dadurch nicht - etwa durch die Aufnahme weitergehender garagenfremder, dem Wohnhaus zuzurechnender Nutzungen - in eine weitergehende funktionale Abhängigkeit gerät. Die rechtlichen Grenzen sind indes überschritten, wenn der Anbau nicht unerheblich in die Nutzung des Hauptgebäudes eingebunden ist. So liegt der Fall nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts, denen sich der Senat anschließt, hier.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht insbesondere festgestellt, dass die Funktion des hier streitgegenständlichen Anbaus im Wesentlichen darin liegt, eine eigenständige Erschließung des Fahrradkellers zu gewährleisten. Dieser wäre andernfalls nur über das innenliegende Haupttreppenhaus und eine recht enge Wendeltreppe zugänglich; dieser unkomfortablen Situation ist der Beigeladene mit dem Anbau begegnet. Soweit er demgegenüber meint, der Anbau diene darüber hinaus auch dem Abstellen von Gartengeräten, Kinderwagen und ähnlichem, für die Gebäudeeigenschaft reiche es aus, dass "auch" eine eigenständige Funktion bestehe, ohne dass diese überwiegen müsse, folgt der Senat dem nicht. Dient ein Anbau mehreren Nutzungszwecken, darf die dem Hauptgebäude zuzuordnende Nutzung den Anbau nicht wesentlich prägen. Dies ist hier der Fall, da der Anbau zu erheblichen Teilen der Erschließung des Fahrradkellers dient. Die Grundfläche des Anbaus wird ganz überwiegend durch den Kellerabgang und den Zugang zur Kellertreppe in Anspruch genommen. Lediglich die Wände sowie ein schmaler Streifen entlang der Außenwand können zu Abstell- und Lagerzwecken genutzt werden. Damit steht der funktionale Bezug zum Hauptgebäude im Vordergrund; würde die Tür zum Fahrradkeller dauerhaft verschlossen, wäre der Anbau seiner wesentlichen Funktion beraubt.

Widersprüchlich ist die Argumentation des Verwaltungsgerichts entgegen der Auffassung des Beigeladenen nicht. Das gilt auch unter der - wie erläutert - zutreffenden Prämisse des Verwaltungsgerichts, dass nicht jede Verbindungstür zwischen Hauptgebäude und Anbau dessen funktionale Selbständigkeit in Frage stellt. Richtig ist aber, dass sich die Frage der funktionalen Selbständigkeit dann verschärft stellt, wenn Anbau und Verbindungstür eine besondere Erschließungsfunktion für das Hauptgebäude übernehmen, weil beispielsweise einige Räume des Hauptgebäudes nur über den Anbau praktikabel zugänglich sind. Genau so liegt der Fall hier.

2.

Besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wirft der Fall nicht auf. Die maßgebliche Rechtsfrage, welche Anforderungen an ein Gebäude i.S.v. § 2 Abs. 2 NBauO zu stellen sind, ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt. Tatsächlich ist der Fall so einfach gelagert, dass die rechtlich gebotene wertende Betrachtung keine besonderen Schwierigkeiten aufwirft. Die Funktion des Anbaus als Kellerzugang steht klar im Vordergrund.

3.

Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, die der Beigeladene ihr beimisst. Die aufgeworfene Frage, "ob ein Gebäude im Sinne von § 5 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 NBauO a. F. bereits dann seine selbständige Benutzbarkeit verliert, wenn zwischen diesem Gebäude und dem Hauptgebäude eine Verbindungstür besteht, die (auch) eine Benutzbarkeit von Räumen im Hauptgebäude durch den Anbau zulässt", ist schon nicht entscheidungserheblich. Nicht bereits das Bestehen der Verbindungstür, sondern die aus Treppenabgang und Türverbindung folgende, den Anbau prägende Funktion, die Erschließung des Fahrradkellers sicherzustellen, lässt die Gebäudeeigenschaft nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts entfallen. Hinzu kommt, dass sich alle maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte aus dem Senatsbeschluss vom 10. Juni 2022 - 1 ME 46/22 - (NVwZ-RR 2022, 665 = juris Rn. 9 f.) ergeben. Für die Abgrenzung eines Gebäudes von einem Gebäudeteil ist demnach die funktionale und bautechnische Selbständigkeit maßgeblich; insofern bedarf es einer wertenden Gesamtbetrachtung. Eine Türverbindung allein schließt die Selbständigkeit nicht zwangsläufig aus.

4.

Der Berufungszulassungsgrund der Divergenz im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO liegt ebenfalls nicht vor. Der Zulassungsantrag genügt schon nicht den Anforderungen, die § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO an die Darlegung einer rechtlichen Divergenz stellt. Zu bezeichnen ist ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz, mit dem das Verwaltungsgericht einem in der Rechtsprechung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte aufgestellten, tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Vorschrift widersprochen hat. Zwischen den Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtssatzes bestehen. Die Behauptung einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Oberverwaltungsgericht, das Bundesverwaltungsgericht oder das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Darlegungsanforderungen nicht (Senatsbeschl. v. 25.8.2021 - 1 LA 7/21 -, juris Rn. 16).

Mit seinem Zulassungsantrag macht der Beigeladene geltend, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass die selbständige Benutzbarkeit keine Autarkie erfordere. Es reiche eine "auch-Benutzbarkeit" in selbständiger Hinsicht. Damit rügt er der Sache nach (nur) eine fehlerhafte Anwendung der vom Senat aufgestellten Rechtssätze; eine Divergenz im Rechtssinne liegt darin nicht.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).