Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 25.08.2021, Az.: 1 LA 7/21
Alternativverhalten; Anspruch auf Einschreiten; Beeinträchtigung; Beeinträchtigung, spürbare; Einschreiten, bauaufsichtliches; Ermessen; Ermessensreduzierung auf Null; Grenzabstand; Nachbar; nachbarschützend; Rechtsanspruch; spürbare Beeinträchtigung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 25.08.2021
- Aktenzeichen
- 1 LA 7/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 70918
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 17.11.2020 - AZ: 4 A 3221/19
Rechtsgrundlagen
- § 40 VwVfG
- § 5 BauO ND
- § 79 Abs 1 BauO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten gemäß § 79 Abs. 1 NBauO setzt eine spürbare Beeinträchtigung des Nachbarn voraus. Ob eine solche Beeinträchtigung vorliegt, bestimmt sich auch danach, in welchem Umfang die geklagte Beeinträchtigung auch bei einem rechtmäßigen fiktiven Alternativverhalten bestehen würde. Dabei ist eine fiktive bauliche Anlage unter Meidung eines Verstoßes gegen nachbarschützende Vorschriften, insbesondere des konkret vorliegenden Verstoßes zu betrachten (im Anschluss an Senatsurt. v. 16.2.2012 - 1 LB 19/10 -, BauR 2012, 933 = NVwZ-RR 2012, 427 = BRS 79 Nr. 206 = juris Rn. 47).
Tenor:
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 17. November 2020 wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zulassungsverfahren auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Kläger begehren ein bauaufsichtliches Einschreiten der Beklagten gegen ein zu Wohnzwecken genutztes Gebäude der Beigeladenen, das den Grenzabstand zu ihrem Wohngrundstück nicht einhält.
Die Kläger sind seit dem Jahr 2010 Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks G. in A-Stadt. Wesentliche Wohnräume und Außenwohnbereiche des auf dem Grundstück unter genehmigter Überschreitung der Baufluchtlinie weit nach Norden zurückgesetzten Gebäudes sind nach Süden zur G. hin orientiert. Zur Nordgrenze hält das im Jahr H. errichtete Gebäude einen Abstand von 5 m.
Nördlich angrenzend liegt das im Eigentum der Beigeladenen stehende Grundstück I.. Dessen nördlicher, straßenseitiger Teil ist mit einem ehemaligen Bunker bebaut, der nach zwischenzeitlicher gewerblicher Nutzung heute ein Museum beherbergt. Auf der rückwärtigen, zum Klägergrundstück orientierten Grundstücksfläche steht außerhalb der Baugrenzen des seit dem Jahr 1971 rechtsverbindlichen Bebauungsplans Nr. 306 ein im Jahr J. als Garagen- und Betriebsgebäude befristet genehmigter ehemaliger Gewerbebau. Dessen östlicher Teil hält zum Grundstück der Kläger einen Grenzabstand von 1 m; der westliche Teil umfasst zwei nach Süden ausgerichtete Anbauten, die einen Grenzabstand von rund 1,6 bzw. 2 m halten. Der zwischen den Anbauten liegende Bereich nimmt eine Terrasse auf. Das Gebäude wird seit längerer Zeit - formell und materiell rechtswidrig - zu Wohnzwecken (drei Wohnungen) sowie als Lager genutzt und von der Beklagten mit dieser Nutzung geduldet.
Nachdem die Kläger nach eigenem Bekunden anlässlich eines Mieterwechsels und der infolgedessen einsetzenden lärmintensiven Nutzung der Terrasse und der Freiflächen erstmals die Wohnnutzung bemerkt hatten, beantragten sie im Oktober 2018 ein bauaufsichtliches Einschreiten der Beklagten aufgrund des Verstoßes gegen Grenzabstandsvorschriften. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Januar 2019 und Widerspruchsbescheid vom 5. Juni 2019 nach Abwägung der wechselseitigen Interessen ab.
Die daraufhin erhobene, mit dem Hauptantrag auf Beseitigung des Gebäudes und mit dem Hilfsantrag auf Untersagung der Wohnnutzung gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht Hannover mit dem angegriffenen Urteil vom 17. November 2020 abgewiesen. Soweit die Kläger Beseitigung verlangten, sei ein entsprechender Anspruch voraussichtlich verwirkt, weil das Gebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen seit über 70 Jahren unbeanstandet bestehe. Einen Anspruch auf Nutzungsuntersagung könnten die Kläger dagegen noch geltend machen, weil es sich bei dem Übergang von einer gewerblichen zu einer Wohnnutzung - zumal im Umfang von drei Wohnungen - um einen schleichenden Prozess einer Nutzungsänderung bzw. -intensivierung eines Schwarzbaus handele, der nach außen hin nicht offensichtlich sei. Demzufolge hätten sich die Kläger sowie die Voreigentümer ihres Grundstücks zu dieser Wohnnutzung nicht verhalten, sodass kein schutzwürdiges Vertrauen der Beigeladenen in eine Billigung der Wohnnutzung bestehe. Ein Rechtsanspruch auf Einschreiten bestehe allerdings nur, wenn ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts nach der konkreten örtlichen Situation eine spürbare Beeinträchtigung bewirke. Das sei nicht der Fall. Belichtung und Belüftung des klägerischen Grundstücks seien aufgrund der Südausrichtung des Wohngebäudes und des Fehlens schutzwürdiger Nutzungen entlang der Nordgrenze nicht nennenswert beeinträchtigt. Zusätzliche bzw. weitergehende Einsichtnahmemöglichkeiten bewirke der Verstoß gegen Grenzabstandsvorschriften aufgrund des vorhandenen Zaunes und der konkreten Anordnung der Baukörper bzw. Fenster nicht. Die von den Klägern empfundenen Beeinträchtigungen gingen vielmehr überwiegend von der Nutzung der Terrasse aus, die gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 NBauO keinen Grenzabstand einhalten müsse. Die von der Terrasse ausgehende Immissionsbelastung sei daher keine Folge des Grenzabstandsverstoßes. Hinzu komme, dass ein grenzabstandsgemäßer Alternativbau die Situation der Kläger nicht nennenswert verbessern würde und sogar weitergehende Einsichtsmöglichkeiten zulassen könne.
Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem die Beklagte entgegentritt.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) führen nicht zur Zulassung der Berufung. Solche Zweifel setzen voraus, dass es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des erstinstanzlichen Urteils mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich dadurch etwas am Entscheidungsergebnis ändern könnte. Das ist den Klägern nicht gelungen.
Soweit die Kläger ausführen, im nördlichen Teil ihres Wohnhauses seien im Erdgeschoss das Wohnzimmer und die Küche, im Obergeschoss das Badezimmer und das Kinderzimmer gelegen und bemängeln, dass dies das Verwaltungsgericht nicht in seine Entscheidung aufgenommen habe, folgt daraus kein Einwand gegen die Richtigkeit des Urteils. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend erkannt, dass nach Norden orientierte Aufenthaltsräume vorhanden sind (UA S. 17). Zugleich aber steht aufgrund der Südorientierung des Gebäudes außer Frage, „dass das gesamte Leben auf dem klägerischen Grundstück von Anfang an und auch weiterhin nach Süden ausgerichtet ist“ (UA S. 18). Letzteres war für die zutreffende Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die Nordseite sei weniger schutzwürdig, maßgeblich.
Ohne Erfolg bleibt der Einwand, das Verwaltungsgericht habe ein mögliches rechtmäßiges Alternativverhalten der Beigeladenen fehlerhaft bewertet. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht vielmehr allein auf die Folgen des Verstoßes gegen Grenzabstandsvorschriften und die daraus resultierende Beeinträchtigung der Kläger abgestellt und in diesem Rahmen vergleichend gewürdigt, welche Beeinträchtigung von einem grenzabstandskonformen Gebäude ausgehen könnte. Dies entspricht ständiger Senatsrechtsprechung (vgl. Senatsurt. v. 16.2.2012 - 1 LB 19/10 -, BauR 2012, 933 = NVwZ-RR 2012, 427 = BRS 79 Nr. 206 = juris Rn. 47); diese Rechtsprechung ist entgegen der Auffassung des Klägers so zu verstehen, dass als Vergleichsobjekt ein mit nachbarschützenden Vorschriften zu vereinbarendes, nicht aber zwingend ein umfassend baurechtsgemäßes Gebäude herangezogen wird. Dass ein solches den nach § 5 NBauO erforderlichen Grenzabstand gerade noch einhaltendes Gebäude in diesem Fall mindestens teilweise außerhalb der unbestrittenermaßen nicht nachbarschützenden Baugrenzen liegen würde, ist richtig, in diesem Zusammenhang aber ohne Belang, weil die Kläger von der Beigeladenen eine Einhaltung eben dieser Baugrenzen nicht verlangen können.
Soweit die Kläger dies mit Blick darauf für unzutreffend halten, dass ein effektiver öffentlich-rechtlicher Nachbarschutz nicht bestehe, wenn bei einer Verletzung von Grenzabstandsvorschriften nur darauf abzustellen sei, welcher Schutz bei deren Einhaltung zu erlangen wäre, überzeugt dieser Einwand nicht. Die von den Klägern beschriebene Konsequenz ist vielmehr die vom Verwaltungsgericht zutreffend erkannte unmittelbare Folge der gesetzgeberischen Entscheidung, mit den Grenzabstandsvorschriften nur einen Mindeststandard festzuschreiben und einen weitergehenden Schutz etwa den Festsetzungen eines Bebauungsplans vorzubehalten (vgl. LT-Drs. 16/3195, S. 71; dazu Senatsbeschl. v. 22.12.2014 - 1 MN 118/14 -, BauR 2015, 620 = NordÖR 2015, 216 = BRS 82 Nr. 40 = juris Rn. 59 ff.). Das Grenzabstandsrecht zielt daher von vornherein nicht darauf ab, dass Beeinträchtigungen gänzlich ausbleiben, sondern nimmt solche Beeinträchtigungen unterhalb der Gefahrenschwelle im Interesse einer weitestmöglichen Ausnutzung der Baugrundstücke bewusst in Kauf.
Dass von der Wohnnutzung auf dem Grundstück der Beigeladenen weitergehende Beeinträchtigungen ausgehen könnten, als sie das Verwaltungsgericht benannt und gewürdigt hat, legen die Kläger schon nicht in einer § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dar. Ungeachtet dessen spricht für die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Wertung, dass von der Wohnnutzung keine spürbare Beeinträchtigung ausgeht, entscheidend, dass den Klägern die Wohnnutzung als solche nach eigenem Bekunden über viele Jahre nicht aufgefallen ist. Erst die intensive Nutzung der Außenwohnbereiche durch eine Familie hat den Klägern die Wohnnutzung überhaupt vor Augen geführt; diese Nutzung steht aber - der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (UA S. 20) Bezug - nicht im Fokus der öffentlich-rechtlichen Grenzabstandsvorschriften.
2. Besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO weist der Fall nicht auf. Die Erfassung der von dem Grenzabstandsverstoß ausgehenden Beeinträchtigungen unter Würdigung insbesondere des klägerischen Vorbringens und deren Bewertung hält sich vielmehr im üblichen Rahmen. Die Besonderheit, dass in diesem Fall aufgrund der Verwirkung des Beseitigungsanspruchs in Bezug auf das Gebäude selbst lediglich noch dessen Wohnnutzung zu betrachten war, führt eher dazu, dass die Bewertung erleichtert wird, weil weniger Aspekte als üblich zu berücksichtigen sind; besondere Schwierigkeiten resultieren daraus jedenfalls nicht.
3. Wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist die Berufung ebenfalls nicht zuzulassen. Die aufgeworfene Rechtsfrage, welche baulichen Anlagen im Sinne eines rechtmäßigen fiktiven Alternativverhaltens mit der baurechtswidrigen Anlage zu vergleichen sind, ist auf der Grundlage der ständigen Senatsrechtsprechung mit dem Verwaltungsgericht dahin zu beantworten, dass es auf eine bauliche Anlage unter Meidung eines Verstoßes gegen nachbarschützende Vorschriften, insbesondere des konkret vorliegenden Verstoßes ankommt. Das folgt unmittelbar daraus, dass der Nachbar nur die Einhaltung nachbarschützender Vorschriften, nicht aber des gesamten öffentlichen Baurechts verlangen kann. Der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf es insoweit nicht.
Die weitergehenden Fragen, die die Kläger als grundsätzlich bedeutsam formulieren, betreffen den Einzelfall und entziehen sich schon deshalb einer grundsätzlichen Klärung.
4. Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) führt nicht zur Zulassung der Berufung; der Zulassungsantrag verfehlt insofern schon die Anforderungen, die § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO an die Darlegung einer rechtlichen Divergenz stellt. Zu bezeichnen ist ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz, mit dem das Verwaltungsgericht einem in der Rechtsprechung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte aufgestellten, tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Vorschrift widersprochen hat. Zwischen den Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtssatzes bestehen. Die Behauptung einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Oberverwaltungsgericht, das Bundesverwaltungsgericht oder das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Darlegungsanforderungen nicht (vgl. jüngst etwa Nds. OVG, Beschl. v. 15.12.2020 - 8 LA 80/20 -, juris Rn. 28, stRspr.).
Die vor diesem Hintergrund erforderliche Gegenüberstellung sich widersprechender Rechtssätze ist dem Zulassungsvorbringen nicht zu entnehmen. Im Übrigen liegt ein Widerspruch auch nicht vor. Das Senatsurteil vom 9.10.2007 (- 1 LB 5/07 -, NVwZ-RR 2008, 374 = juris) stellt nicht abstrakt auf das Vorliegen einer Nutzungsänderung, sondern ebenfalls auf das Maß der von dem Nachbarrechtsverstoß konkret ausgehenden Beeinträchtigung ab (vgl. juris Rn. 70 und 74). Die von den Klägern angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts betrifft eine Nachbarklage gegen die Erteilung einer Baugenehmigung, nicht aber den hier maßgeblichen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten. Eine Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung hat schon dann Erfolg, wenn überhaupt ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften vorliegt. Ein solcher Verstoß allein genügt für den hier geltend gemachten Rechtsanspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten nach § 79 Abs. 1 NBauO indes nicht, sondern dieser setzt zusätzlich eine spürbare Beeinträchtigung voraus (vgl. Senatsurt. v. 16.2.2012 - 1 LB 19/10 -, BauR 2012, 933 = NVwZ-RR 2012, 427 = BRS 79 Nr. 206 = juris Rn. 39). Das lassen die Kläger zu Unrecht außer Acht.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).