Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.12.2000, Az.: 1 M 4235/00

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.12.2000
Aktenzeichen
1 M 4235/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 35783
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2000:1229.1M4235.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - AZ: 4 B 5522/00

Fundstellen

  • BauR 2001, 937-939 (Volltext mit amtl. LS)
  • DVBl 2001, 407 (amtl. Leitsatz)
  • NdsVBl 2001, 145-146

In der Verwaltungsrechtssache

...

hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 1. Senat - am 29. Dezember 2000 beschlossen:

Tenor:

  1. Die Beschwerden der Antragsgegnerin und des Beigeladenen

    gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover

    - 4. Kammer (Einzelrichter) - vom 20. November 2000 werden

    zugelassen.

    Das Beschwerdeverfahren wird unter dem Aktenzeichen

    1 MB 2/01

    geführt, das in allen Schriftsätzen anzugeben ist.

    Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

Die Antragsteller, Miteigentümer des im Rubrum genannten, viereinhalbgeschossigen Gebäudes, wenden sich gegen die Vollziehung des Bauscheins der Antragsgegnerin vom 27. September 2000, mit dem sie dem Beigeladenen die Anfügung von insgesamt 3 Balkonanlagen an die Südfront des westlichen Nachbargebäudes genehmigte. Gleichzeitig hatte die Antragsgegnerin Befreiung von den Festsetzungen des Durchführungsplanes Nr. 67 erteilt, in dessen Geltungsbereich beide Grundstücke liegen und der (offenbar) neben geschlossener Bauweise (unter anderem) eine südliche Baufluchtlinie festsetzt, auf der die südlichen Wände der Gebäude beider Beteiligten stehen. Die drei Balkonanlagen sollen als Stahlkonstruktionen auf Streifenfundamenten außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche in asymmetrischer Folge vor die Fassade gestellt und in sie verdübelt werden. Sie sollen alle fünf Vollgeschosse erfassen. Die an den beiden Außenseiten des Gebäudes gelegenen Balkone sollen Maße von 3,30m Breite x 1,80m Tiefe erhalten. Im Erdgeschoss des Teiles, der den Antragstellern zugewandt ist, soll ein weiterer Balkon im Erdgeschossbereich errichtet werden. Der Abstand dieses Teils des Vorhabens zur

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gemeinsamen Grundstücksgrenze soll 1,20m betragen.

3

Die Antragsteller sehen Grenzabstandsvorschriften durch die östliche der drei Balkonanlagen verletzt und zugleich das Erscheinungsbild ihres Hauses durch das Vorhaben beeinträchtigt.

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Das Verwaltungsgericht hat dem Eilantrag mit dem angegriffenen Beschluss stattgegeben. Darin hat es unter anderem ausgeführt: Die östliche der genehmigten Balkonanlagen verletze die Grenzabstandsvorschriften. § 7b Abs. 3 Satz 1 NBauO greife nicht zum Vorteil des Vorhabens ein. Denn die Festsetzung der geschlossenen Bauweise beziehe sich nur auf den Bereich der überbaubaren Grundstücksfläche. Mit dieser Betrachtungsweise werde der Anwendungsbereich dieser Vorschrift nicht verengt. Denn sie gestatte nach wie vor, die in § 7b Abs. 1 NBauO genannten Gebäudeteile bei geschlossener Bauweise innerhalb der überbaubaren Fläche von der Grenze abzurücken. § 7b Abs. 3 Sätze 2 und 3 NBauO greife ebenfalls nicht zugunsten des Vorhabens ein. Das führe zur Antragsstattgabe insgesamt, da das Vorhaben nach dem Willen des Beigeladenen unteilbar sei. Im Übrigen wird auf den Beschlussinhalt verwiesen.

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Dagegen richten sich die fristgerecht gestellten, auf mehrere Zulassungsgründe, darunter ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung gestützten Zulassungsanträge der Antragsgegnerin und des Beigeladenen.

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Diese haben Erfolg. Es bestehen ernstliche Zweifel im Sinne der § 146 Abs. 4, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Das ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. B. v. 31.7.1998 - 1 L 2696/98 -, NVwZ 1999, 431) der Fall, wenn für das vom Zulassungsantragsteller favorisierte Entscheidungsergebnis - auf dieses und nicht auf einzelne Begründungselemente kommt es dabei an - "die besseren Gründe sprechen", d.h. wenn ein Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen.

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Das ist hier zu bejahen. Nach dem gegenwärtig absehbaren Stand der Dinge sprechen überwiegende Gründe für die Annahme, dass (auch) die östliche der drei Balkonanlagen die Grenzabstandsvorschriften einhält und sonstige Gesichtspunkte dem Nachbarantrag voraussichtlich nicht zum Erfolg verhelfen werden.

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Dem Verwaltungsgericht ist in der nicht näher begründeten Annahme zuzustimmen, dass die für Balkone geltenden Abstandsvorschriften auf die mit Bauschein vom 27. September 2000 genehmigten Baulichkeiten anzuwenden sind. Entgegen der Annahme von Barth/Mühler (Abstandsvorschriften der Niedersächsischen Bauordnung, 2. Aufl. 2000, § 7b, Rdnr. 7) sind als Balkone nicht nur aus der Gebäudefront kragende Gebilde anzusehen, welche zum vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt und infolge Verankerung in der Gebäudewand "freischwebend" sind. Die NBauO begrenzt die abstandsrechtlichen Erleichterungen nicht auf "vorkragende" Bauteile. Das abstandsrechtliche Privileg genießen vielmehr - von hier nicht problematischen Größenbegrenzungen (Terrasse?) einmal abgesehen - unabhängig von der Art ihrer statischen Konstruktion alle Erscheinungsformen von Plattformen, welche von den Wohnungen und Fluren aus erreicht werden können, vor der Fassade liegen und es gestatten, frische Luft zu schnappen (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, Komm. 6. Aufl., § 7b Rdnr. 2; Simon, BayBO, Komm. 67. Erg.-Lieferung August 2000, Art. 6 Rdnr. 212: auch die aus wirtschaftlichen Gründen übereinander geplanten Balkone). Doch nicht nur nach dem Wortlaut, sondern auch nach Sinn und Zweck der Grenzabstandsvorschriften ist es nicht gerechtfertigt, zwischen beiden Arten konstruktiver Gestaltung abstandsrechtlich zu differenzieren. Dies würde in sinnwidriger Weise es nicht nur ausschließen, Altbauten Balkone voranzustellen. Auch die Nachbarinteressen an auskömmlichem Einfall von Sonne und ausreichender Luft werden durch diese Art der Baugestaltung nicht wesentlich berührt. Denn die hier gewählte Art der Konstruktion gestattet eher filigrane Gebilde denn diejenigen, welche in dem Mauerwerk verankert werden müssen.

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Das Privileg des § 7b Abs. 3 Satz 1 NBauO dürfte zu Gunsten des Beigeladenen eingreifen. Hiernach sind Gebäudeteile, die unter § 7b Abs. 1 NBauO fallen, in beliebigem Abstand zur Grenze zulässig, wenn ein Gebäude nach § 8 Abs. 1 NBauO an die Grenze gebaut ist, d.h. nach städtebaulichem Planungsrecht ohne Grenzabstand errichtet werden muss. Es sprechen die besseren Gründe für die Annahme, diese Vorschrift greife auch dann zum Vorteil des Bauherrn ein, wenn der (vorhandene/Haupt-)Baukörper - wie hier für die Grundstücke beider Beteiligten der Fall - die überbaubare Fläche vollständig einnimmt und der abstandsrechtlich durch § 7b Abs. 1 NBauO privilegierte Bauteil in der nicht überbaubaren Grundstücksfläche liegen soll. § 7b NBauO stellt eine Privilegierungsvorschrift dar. Er soll die Anfügung der in seinem Absatz 1 genannten Bauteile selbst für den Fall der geschlossenen Bauweise erleichtern. Da die hier in Rede stehenden Balkone bei dieser Bauweise naturgemäß nicht an der dem Nachbargrundstück zugewandten Gebäudeseite angefügt sein können, bliebe bei der vom Verwaltungsgericht für richtig gehaltenen Auslegung des § 7b Abs. 3 Satz 1 NBauO nur ein geringer Anwendungsbereich dahin, im Falle zwingender Grenzbebauung die Balkone (zwar innerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen errichten zu müssen, sie aber) von der Grenze Abstand halten lassen zu dürfen. Das ist indes nicht das Problem, welches sich bei festgesetzter geschlossener Bauweise praktisch bedeutsam stellt. Maßgeblich ist vielmehr, wie sich das Bundes(planungs)recht zu der Frage verhält, ob Bauteile über eine Baugrenze/?linie reichen dürfen. Dafür enthält § 23 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 S. 2 BauNVO 1990 eine eigenständige Regelung (Vortreten in geringfügigem Ausmaß). Diese nimmt nicht auf das Landesbauordnungsrecht und darin grenzabstandsrechtlich privilegierte Bauteile Bezug und soll namentlich Balkone erfassen (vgl. Knaup/Stange, BauNVO 7. Aufl., § 23 Rdnr. 25; Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauNVO § 23 Rdnr. 49; König/Roeser/Stock, BauNVO Komm., § 23 Rdnr. 20 aE). Deshalb bedarf es einer korrespondierenden Regelung des Landesrechts. Denn die Verheißungen des Bundesplanungsrechtes liefen möglicherweise leer, hielte das Landesbauordnungsrecht nicht eine Regelung bereit, welche eine Ausnutzung der Planfestsetzungen auch im Hinblick auf das Grenzabstandsrecht gestattete. Das gilt gerade dann, wenn man mit dem Verwaltungsgericht und der Kommentierung (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, aaO, § 8 Rdnr. 4) und der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (z.B. Urt. v. 10.8.1976 - VI OVG A 11/76 -, OVGE 32, 414, 416f.; B. v. 29.7.1977 - I OVG B 60/77 -, dng 1978, 87, 88) die Wirkungen festgesetzter geschlossener Bauweise auf den Bereich der überbaubaren Grundstücksbereiche bezieht. Der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 24.2.2000 - 4 C 12.98 -, NVwZ 2000, 1055 = DVBl. 2000, 1338 = BauR 2000, 1168) ist jedenfalls so explizit Anderes nicht zu entnehmen, dass das Ergebnis der angegriffenen Entscheidung deshalb als nicht ernstlich zweifelhaft iSd § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO angesehen werden könnte.

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Im Übrigen hätte der Nachbarwiderspruch der Antragsteller mit Rücksicht auf die Grenzabstandsvorschriften auch dann nicht die Erfolgsaussichten, welche allein eine Antragsstattgabe zu rechtfertigen vermögen, wenn man dem zitierten Urteil vom 24. Februar 2000 entnähme, die Festsetzung geschlossener Bauweise beziehe sich (möglicherweise differenziert nach dem Willen des Plangebers) auf das Baugrundstück insgesamt. Denn in diesem Fall griffen §§ 8 Abs. 1 und 7b Abs. 3 Satz 1 NBauO zum Vorteil des Vorhabens ein. § 7b Abs. 3 Satz 1 NBauO entfaltete dann die Wirkung, welche das Verwaltungsgericht ihm allein beimisst: Die "an sich" kraft Planungsrechts geschuldete Errichtung "an" der Grenze dürfte kraft § 7b Abs. 3 Satz 1 NBauO an die genehmigte Stelle zurückversetzt werden.

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Eine historische Auslegung erhärtet den vorstehenden Befund. § 7b NBauO erhielt seine Gesetz gewordene Fassung erst im Verfahren zum Fünften Gesetz zur Änderung der Nds. Bauordnung (vom 11.4.1986, GVBl. S. 103). Hatte der Regierungsentwurf (LTDr. 10/3480, Art. I Nrn. 6 - § 8 Abs. 4 - und 7 - § 7 Abs. 6 -) noch Grenzabstände für Balkone vorgesehen (diese aber auch dann erleichtert zulassen wollen, wenn sie keine untergeordneten Bauteile seien), ließ der Ausschuss für das Bau- und Wohnungswesen für den Fall zwingender Grenzbebauung jede Bindung an das Grenzabstandsrecht fallen (vgl. LTDr. 10/5620, Beschlussempfehlung). Der Schriftliche Bericht (LTDr. 10/5715) enthält zu Art. I Nr. 6 des Regierungsentwurfs zwar keine nähere Begründung. Verwiesen wird aber auf die Anlage zu dieser Drucksache. Deren Abbildung 6 zeigt - eigenartigerweise für den Fall der "offenen Bauweise" - eine Anordnung von Gebäuden, Balkonen und Windfängen/Eingängen, welche nur einen Schluss zulassen: Diese unselbständigen Gebäudeteile sollen über die Flucht des Bauteppichs vorkragen dürfen, ohne in den gesetzlich bestimmten Grenzen die Grenzabstände nach § 7 einhalten zu müssen.

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Die vorstehenden Ausführungen zum Verhältnis von Bauplanungs- und Grenzabstandsrecht gelten auch für den hier vorliegenden Fall, in dem sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Balkone nicht nach Maßgabe der Baunutzungsverordnung 1990 beurteilt. Die Antragsgegnerin verweist zutreffend darauf, dass die Grundstücke beider Beteiligten in dem Durchführungsplan Nr. 67 liegen, der neben Straßen- auch Baufluchtlinien festsetzt. Sowohl das Gesetz betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Wegen in Städten und ländlichen Ortschaften (vom 2.7.1875, PrGS S. 561, idF von Art. I des Gesetzes vom 28.3.1918, PrGS S. 23, dort § 11 Satz 1; vgl. PrOVG, Urt. v. 13.11.1891 - IV C 78/91 -, PrOVGE 22, 372, 376ff.; Urt. v. 22.9.1893 - IV A 14/93 -, PrOVGE 25, 379, 381ff.) als auch § 12a des Gesetzes zur Durchführung der Ortsplanung und des Aufbaues in den Gemeinden (- AufbauG -, vom 9.5.1949, GVBl. S. 107, idF des 3. Änderungsgesetzes vom 20.12.1957, GVBl. S. 135) gestatteten es der Bauaufsichtsbehörde, von der Einhaltung der Baufluchtlinien und der gem. § 10 Abs. 2 lit. b AufbauG festgesetzten Baulinien und Grenzen namentlich im Hinblick auf Balkone abzusehen. Letzteres hat im Wege der Befreiung zu geschehen (§ 12a Abs. 2 AufbauG), vor deren Erteilung auch die nachbarlichen Belange zu würdigen sind. Es ist bislang vom Verwaltungsgericht nicht geprüft und auch nicht in einer Weise, welche ein Durchentscheiden im Zulassungsverfahren rechtfertigte, offensichtlich, dass die Interessen, welche die Antragsteller als eigene Rechte rügen können, durch den gewählten Aufstellungsort des rechten Balkonturmes in einer Weise nachteilig berührt worden sind, dass die Befreiung nicht hätte erteilt werden dürfen. Die Antragsteller machen dazu im Wesentlichen gestalterische Gesichtspunkte geltend. Abgesehen von der Frage, ob das überhaupt Interessen sind, welche den Antragstellern als eigene zugewiesen sind (vgl. zu Fragen der Baugestaltung Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, aaO, § 72 Rdnr. 81), liegt jedenfalls nicht auf der Hand, das Erscheinungsbild des Gebäudes der Antragsteller werde durch diese Balkonanlage nachteilig in Mitleidenschaft gezogen. Die Sonneneinstrahlung wird angesichts der geringen Tiefe der Balkone, ihrer eher filigranen Gestaltung aus Metall und der Himmelsrichtung, in der sie im Verhältnis zu den Fenstern der Antragsteller liegen (Nordwesten), kaum merklich beeinträchtigt.

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Das Zulassungsverfahren wird als Beschwerdeverfahren fortgesetzt. Der Einlegung einer Beschwerde bedarf es nicht (§ 146 Abs. 5 S. 1, Halbs. 2, § 124a Abs. 2 Satz 4 VwGO).

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Die Beteiligten erhalten Gelegenheit, innerhalb von 10 Tagen ergänzend vorzutragen, namentlich zur Frage, ob die Begründung zum Durchführungsplan Nr. 67 Ausführungen zur Funktion des Vorgartens enthält.

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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.