Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 06.10.2016, Az.: 4 B 4980/16

Balkon; Grenzabstand; Privilegierung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
06.10.2016
Aktenzeichen
4 B 4980/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43063
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung von Balkonen.

Die Antragsteller sind Nießbrauchsberechtigte des Grundstücks D. in B-Stadt-Südstadt, das mit einem dreigeschossigen Mehrfamilienhaus bebaut ist. Im Westen grenzt das Grundstück an das ebenfalls mit einem dreigeschossigen Mehrfamilienhaus bebaute Grundstück der Beigeladenen. Beide Wohnhäuser sind Bestandteil der in den 1950er Jahren errichteten geschlossenen Häuserzeile E.. Die in einer Linie liegenden Vorderseiten der Gebäude weisen nach Süden jeweils zwei 1,20 m bzw. 1,50 m tiefe Balkonanlagen auf, die zu den jeweiligen Seitengrenzen keinen Abstand halten und 0,90 m auskragen.

Der Straßenzug liegt nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes.

Unter dem 06.06.16 genehmigte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die Sanierung der Balkonanlagen durch Abbruch und Neuaufbau. Nach Aufbringen einer 0,17 m starken Dämmschicht auf die Südfassade sollen 3,20 m x 2,20 m große Balkone errichtet werden, die 1,70 m auskragen. Für beide Balkonanlagen ist jeweils ein Abstand von 0,34 m zu den seitlichen Grenzen vorgesehen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die genehmigten Bauvorlagen Bezug genommen.

Unter dem 26.07.16 erhoben die Antragsteller Widerspruch gegen die Baugenehmigung, über den noch nicht entschieden ist. Einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung lehnte die Antragsgegnerin unter dem 22.08.16 ab.

Am 01.09.16 haben die Antragsteller um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Die geplanten Balkone seien 2,20 m tief und damit keine abstandsprivilegierten Balkone i. S. d. Rechtsprechung des OVG Lüneburg. Außerdem sei nur ein 1,18 m tiefer Sichtschutz geplant, so dass die Balkone und die dahinter liegenden Schlafzimmer ihrer Mieter eingesehen werden könnten.

Die Antragsteller beantragen,

die aufschiebende Wirkung ihres gegen die Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 06.06.16 erhobenen Widerspruchs anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie betont, dass die Balkone trotz ihrer Tiefe nur 1,70 m vor die Außenwand auskragten. Bei einer Grundfläche der Balkone von 7 m² werde keine nennenswerte Wohnnutzung in den Abstandsbereich verlagert. Absolute Maßobergrenzen stelle das OVG Lüneburg nicht auf. Die Balkone wirkten sich nicht rücksichtslos aus, da auch die Wohnungen der Antragsteller über entsprechende Balkone verfügten. Zudem werde durch die genehmigte Maßnahme die Fläche der ursprünglich vorhandenen Balkone nur geringfügig vergrößert.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

Der Antrag ist nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO zulässig. Die Antragsteller sind als Nießbrauchsberechtigte antragsbefugte Nachbarn i. S. d. § 68 NBauO (vgl. Burzynska in Große-Suchsdorf, NBauO, 9. Aufl. 2013, § 68 Rn 11).

Der Antrag hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, wenn das Interesse des Nachbarn, von der Vollziehung der angegriffenen Baugenehmigung verschont zu bleiben, das Interesse des Bauherrn an ihrer Ausnutzung überwiegt. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung ist das Risiko des Nachbarn, die Folgen der Verwirklichung der angegriffenen Maßnahme trotz möglichen späteren Erfolges in der Hauptsache dulden zu müssen, mit dem Risiko des Bauherrn abzuwägen, die Verwirklichung des Vorhabens trotz möglicher späterer Klageabweisung aufschieben zu müssen. Bei der zwischen beiden Folgeabschätzungen vorzunehmenden Abwägung spielt die Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsbehelfs in der Regel eine entscheidende Rolle. Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung lässt sich hier absehen, dass der von den Antragstellern erhobene Widerspruch keinen Erfolg haben wird.

Die Anfechtung einer Baugenehmigung durch einen Nachbarn kann nur dann zum Erfolg führen, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und der Nachbar dadurch in seinen Rechten verletzt wird. Die Zulassung des Bauvorhabens durch die Bauaufsicht verletzt einen Nachbarn dann in seinen Rechten, wenn sie mit Vorschriften nicht vereinbar ist, die - zumindest auch - die Funktion haben, nachbarliche Rechte zu schützen. Das ist hier nicht der Fall; die erteilte Baugenehmigung verletzt derartige Vorschriften nicht.

Die Baugenehmigung steht im Einklang mit den nachbarschützenden Grenzabstandsvorschriften.

Die Kammer geht für das vorläufige Rechtsschutzverfahren davon aus, dass die Hauptgebäude auf den Grundstücken der Antragsteller und der Beigeladenen nach § 5 Abs. 5 Satz 1 NBauO errichtet worden sind. Zwar schreibt hier kein Bebauungsplan die geschlossene Bauweise i. S. d. § 5 Abs. 5 Satz 1 NBauO vor. Diese ergibt sich aber zwingend aus der nach den vorliegenden Luftbildern und Katasterkarten vorhandenen geschlossenen Bebauung auf den Grundstücken E., § 34 Abs. 1 BauGB. Daher sind die Hauptgebäude nach städtebaulichem Planungsrecht ohne Grenzabstände zu errichten (vgl. Breyer in Große-Suchsdorf, NBauO, 9. Aufl. 2013,  § 5 Rn 143). Die 7,51 m hohen Balkonanlagen müssten, da sie außerhalb der in geschlossener Bauweise zu überbauenden Fläche errichtet werden sollen, damit grundsätzlich einen Abstand von 1/2 H sprich 3,75 m zu den seitlichen Grenzen halten, § 5 Abs. 2 Satz 1 NBauO. Genehmigt ist lediglich ein Grenzabstand von jeweils 0,34 m.

Die beiden der Beigeladenen genehmigten Balkonanlagen können jedoch das Abstandsprivileg des § 5 Abs. 7 Satz 1 NBauO in Anspruch nehmen. Nach dieser Vorschrift sind die in § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO genannten Gebäudeteile, zu denen auch Balkone gehören, in beliebigem Abstand zur Grenze zulässig.

Dieses Privileg gilt grundsätzlich auch für selbständig aufgeständerte Balkonanlagen (so OVG Lüneburg, Bes. v. 29.12.00 - 1 M 4235/00 -, BRS 63 Nr. 143), wie sie die Beigeladene plant.

Nach der Rechtsprechung des OVG Lüneburg ist es ebenfalls unschädlich, dass die mit einer Breite von insgesamt 6,40 m genehmigten Balkone mehr als ein Drittel der Breite der nur 14,45 m breiten Südfassade in Anspruch nehmen und damit die Größenvorgaben des § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO überschreiten. Denn für die zwingend geschlossene, d. h. eine Bauweise, in der ein Balkon im Regelfall nicht zum Nachbargrundstück zeigt, soll § 5 Abs. 3 Nr. 2 und Absatz 7 Satz 1 NBauO als Rechtsfolgenverweisung nur zur grundsätzlichen Bezeichnung auf die in § 5 Abs. 3 NBauO genannten abstandsrechtlich privilegierten Bauteile verweisen (so OVG Lüneburg, Bes. v. 22.01.14 - 1 ME 220/13 -, Juris).

Dennoch ist nicht jeder Balkon, der in der geschlossenen Bauweise errichtet werden soll, auch ein abstandsrechtlich privilegierter Balkon i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO. Nach der ständigen „Balkonrechtsprechung“ des OVG Lüneburg sind vor die Gebäudeaußenwand vortretende Gebäudeteile nur dann als Balkone innerhalb des Grenzabstands zulässig, wenn sie eine gewisse Größe nicht überschreiten. Insbesondere aus dem Sinn und Zweck der Grenzabstandsvorschriften und der entsprechenden Privilegierungen folge, dass Balkone im Sinne des Abstandsrechts lediglich einen Freisitz vor der Wohnung darstellten, sie aber nicht dazu dienen dürften, Wohnnutzung in relevantem Umfang ins Freie zu verlagern. Ein "herkömmlicher Balkon" als "Freisitz" bewege sich in einer Größenordnung von ca. 2,00 m Tiefe (so Urt. v. 18.09.14 - 1 LC 85/13 -; Bes. v. 22.01.14 - 1 ME 220/13 - jeweils unter Bezugnahme auf ältere nicht veröffentlichte Entscheidungen, Juris).

Dieser Rechtsprechung entnehmen die Antragsteller eine absolute Obergrenze für die Tiefe von abstandsrechtlich privilegierten Balkonen von 2,00 m, die von den genehmigten Balkonen um 0,20 m überschritten wird. Denn entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin greift die Größenbeschränkung auch dann ein, wenn die Balkone nur teilweise - hier nur um 1,70 m - in den Grenzabstandsbereich hineinragen (so OVG Lüneburg, Urt. v. 18.09.14, a. a. O.).

Die Kammer folgt der Auffassung der Antragsteller nicht. Dabei kann dahinstehen, ob es angesichts veränderter Wohnbedürfnisse noch zeitgemäß ist, die Größe abstandsprivilegierter Balkone in der geschlossen Bauweise im Hinblick auf ihre Funktion als Freisitz zum Luftschnappen zu beschränken. Denn die von den Antragstellern angenommene Tiefenbegrenzung auf 2,00 m i. S. einer absoluten Obergrenze stellt das OVG Lüneburg in den beiden genannten Entscheidungen trotz des insoweit missverständlichen zweiten Leitsatzes zum Urteil vom 18.09.14 nicht auf. Nach den Begründungen beider Entscheidungen soll für die Abstandsprivilegierung von Balkonen maßgeblich sein, „ob die Anlage dazu dient, in nennenswerten Umfang zusätzliche Wohnfläche zu gewinnen“, wobei „die Ausdehnungen nur von indizieller Bedeutung“ seien. Ein herkömmlicher Balkon habe eine Tiefe von „etwa 2,00 m“ (so ausdrücklich OVG Lüneburg, Bes. v. 22.01.14, a. a. O.). Nach Auffassung der Kammer geht die Antragsgegnerin danach zu Recht davon aus, dass ein abstandsprivilegierter Balkon nicht in erster Linie über seine Maße definiert wird. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, dass mit dem Balkon keine nennenswerte Wohnnutzung in den Abstandsbereich hineingebracht wird, auch wenn sich daraus zwangsläufig eine gewisse Tiefenbegrenzung ergibt.

Ab welchem absoluten Maß Balkone im Abstandsbereich nicht mehr zulässig sein sollen, muss die Kammer nicht entscheiden. Denn die Tiefe der der Beigeladenen genehmigten Balkone liegt mit 2,20 m noch im Bereich eines herkömmlichen Balkons von „etwa 2,00 m“. Die genehmigte Grundfläche von 7,04 m² ist gerade einmal auskömmlich, um dort bei schönem Wetter mit vier Personen Kaffee zu trinken oder zwei Liegestühle aufzustellen. Diese 7 m² überschreiten die ohne weiteres als zulässig angesehene Balkonfläche von 6 m² nur geringfügig und stellen auch bei bescheidenen Ansprüchen keine „nennenswerte“ zusätzliche Wohnfläche dar. Die Größe der Balkone, die das OVG Lüneburg in den genannten Entscheidungen für im Abstandsbereich unzulässig angesehen hat (18 m² bzw. sogar 30 m²), erreichen die genehmigten Balkone bei weitem nicht.

Anhaltspunkte dafür, dass sich die genehmigte Balkonanlage den Antragstellern gegenüber rücksichtslos auswirken wird, sind der Kammer nicht ersichtlich. Hält die Balkonanlage den bauordnungsrechtlich für eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung erforderlichen Abstand von den Nachbargrundstücken ein, indiziert dies die Einhaltung des Gebots der Rücksichtnahme (OVG Lüneburg, Bes. v. 22.01.14, a. a. O.). Die Antragsteller können aus dem Gebot der Rücksichtnahme insbesondere nicht das Recht ableiten, vor jeglichen Einblicken auf Balkone und Zimmer ihrer Mieter verschont zu bleiben. Im bebauten innerörtlichen Bereich sind gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten gerade unvermeidbar und der Nachbar hat in der Regel keinen Schutz vor der Schaffung neuer Einsichtsmöglichkeiten in sein Grundstück (OVG Lüneburg, Bes. v. 18.02.09 - 1 ME 282/08 -, BauR 2009, 954; OVG Saarland, Bes. v. 30.03.12 - 2 A 316/11 -, BauR 2013, 442). Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, dass in Baugebieten Einblicke von Balkonen auf Nachbargrundstücke gewonnen werden können und dieses von den Eigentümern und Bewohnern eines Gebietes regelmäßig hinzunehmen ist. Hier kommt hinzu, dass das Gebäude der Antragsteller ebenfalls über zwei Balkonanlagen verfügt, von denen aus Balkone und Räume im Gebäude der Beigeladenen eingesehen werden können. Insoweit sind die betroffenen Mieter der Antragsteller - ebenso wie die ebenfalls betroffenen Mieter der Beigeladenen - auf architektonische Selbsthilfe (u.a. das Anbringen von Jalousien, Gardinen oder Vorhängen) zu verweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1,162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG. Dabei orientiert sich das Gericht am Streitwertkatalog der Bausenate des OVG Lüneburg nach dem 01.01.02 und bewertet die von den Antragstellern geltend gemachte Beeinträchtigung ihres Mehrfamilienhauses mit 30.000,00 €. Für das hier vorliegende Eilverfahren ist dieser Wert zu halbieren.