Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 09.11.2022, Az.: 13 LB 148/22

Aktualität des Ausweisungsinteresses; Ausweisung; Berufung; Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots; generalpräventive Ausweisung; Mitwirkungspflicht; Passbeschaffungspflicht; Passpflicht

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.11.2022
Aktenzeichen
13 LB 148/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59709
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 27.01.2022 - AZ: 11 A 2189/18

Fundstellen

  • NordÖR 2023, 118
  • ZAR 2023, 226

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Rechtmäßigkeit einer allein generalpräventiv motivierten Ausweisung ist anhand des Regelungssystems der §§ 53 ff. AufenthG zu überprüfen.

2. Die den Ausweisungsanlass bildende Verfehlung des Ausländers muss eines der Ausweisungsinteressen des § 54 Abs. 1 oder 2 AufenthG verwirklichen, aber nicht von besonderem Gewicht sein, um eine allein generalpräventive Ausweisung zu rechtfertigen.

3. Die Tatbestandsvoraussetzung des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG ist nur erfüllt, wenn die Ausweisung, also die Beendigung des "Aufenthalts" des Betroffenen, andere Ausländer von einem Fehlverhalten ähnlicher Art und Schwere überhaupt abzuhalten vermag, ihr also die für eine Generalprävention erforderliche allgemeine verhaltenssteuernde Wirkung im Hinblick auf andere Ausländer zukommen kann. Dies wird ausnahmsweise bei einem allein singulären Fehlverhalten mit maßgeblich individueller Prägung zu verneinen sein.

4. Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) AufenthG (Verletzung von Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung) und nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 in Verbindung mit § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Aufenthalt im Bundesgebiet unter Verstoß gegen die Passpflicht) können eine allein generalpräventive Ausweisung rechtfertigen.

5. Eine generalpräventive Ausweisung kann nur an ein Ausweisungsinteresse anknüpfen, das noch aktuell ist. Bei fehlender strafrechtlicher Sanktionierung des den Ausweisungsanlass bildenden Fehlverhaltens ist durch wertende Betrachtung anhand aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, ob das Fehlverhalten im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt bereits derart an Bedeutung verloren hat, dass es dem Ausländer nicht mehr entgegengehalten werden kann.

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichterin der 11. Kammer - vom 27. Januar 2022 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet und die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbotes.

I. Der 1997 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 6. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 5. Juli 2016 einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 9. August 2016 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag ab. Die hiergegeben erhobene Klage (3 A 4252/16) wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 15. November 2017, rechtskräftig seit dem 28. Dezember 2017, abgewiesen.

Der Beklagte forderte den Kläger daraufhin mit Bescheid vom 9. Januar 2018 auf, bis zum 31. Januar 2018 einen gültigen Nationalpass vorzulegen und für den Fall, dass er nicht im Besitz eines Nationalpasses sein sollte, bei der Botschaft seines Heimatlandes persönlich vorzusprechen und einen Pass zu beantragen. Der Beklagte wies auch darauf hin, dass das Interesse an einer Ausweisung des Klägers nach §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes schwer wiege, wenn dieser trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der Ausländerbehörde mitwirke. Zudem könne dem Kläger die Ausübung einer Erwerbstätigkeit untersagt werden.

Bei einer Vorsprache am 31. Januar 2018 legte der Kläger eine Stellenbeschreibung für einen Arbeitsplatz in Berlin vor, woraufhin der Beklagte auf die bestehende Wohnsitzauflage für E-Stadt hinwies. Der Kläger ließ daraufhin seine zuletzt erteilte Aufenthaltsgestattung beim Beklagten zurück und kündigte ausweislich eines Vermerks des Beklagten (Blatt 88 f. der Beiakte 1) an, er wolle "abhauen", "mit Deutschland … nichts mehr zu tun haben" und "er verzichtet auf alles". Gleichwohl teilte die Sozialarbeiterin des Wohnheims F., Frau G., dem Beklagten noch am selben Tage telefonisch mit, dass der Kläger in seine dortige Unterkunft zurückgekehrt sei und bat um ein gemeinsames Gespräch.

Im Rahmen dieses gemeinsamen Gesprächs am 1. Februar 2018 forderte der Kläger vom Beklagten die Herausgabe seines Aufenthaltsdokuments, verweigerte jedoch zunächst die Vorlage eines aktuellen Lichtbilds. Nachdem er ein solches beigebracht hatte, stellte der Beklagte ihm eine Duldung mit einer Gültigkeitsdauer von einem Tag aus und teilte ihm mit, dass er täglich zur Duldungsverlängerung vorsprechen müsse. Ausweislich eines Gesprächsvermerks des Beklagten (Blatt 90 f. der Beiakte 1) gab der Kläger nach einem Hinweis auf seine Passpflicht an, dass er bereits einen Termin bei der Botschaft habe. Der Beklagte forderte ihn hierauf mündlich auf, die Terminbestätigung mit Übersetzung in die deutsche Sprache am nächsten Tag abzugeben.

Am 2. Februar 2018 legte der Kläger dem Beklagten eine Terminbestätigung der afghanischen Botschaft in Berlin (Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit) für den 3. Mai 2018 in persischer Sprache vor (Blatt 96 der Beiakte 1). Der Beklagte wies ihn darauf hin, dass er eine Übersetzung der Bestätigung einzureichen habe, und vermerkte in seinen Verwaltungsvorgängen, es sei dem Kläger "offensichtlich … einerlei, dass er seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt". Auf eine Nachfrage der Sozialarbeiterin Frau G. bestätigte die afghanische Botschaft mit E-Mail vom 5. Februar 2018 (Blatt 110 der Beiakte 1) den Termin des Klägers in der konsularischen Abteilung im Mai 2018. Wegen des großen Andrangs könne sie keine früheren Termine vergeben.

Nachdem der Kläger am 5. Februar 2018 ohne Entschuldigung nicht zur täglichen Duldungsverlängerung bei dem Beklagten erschienen war, meldete dieser ihn wegen unbekannten Aufenthalts ab.

Mit Schreiben vom 9. Februar 2018 (Blatt 115 ff. der Beiakte 1) hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Ausweisung wegen Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung und zur beabsichtigten Untersagung jeglicher Aufnahme einer Beschäftigung an. Am 15. März 2018 (Blatt 122 der Beiakte 1) sprach der Kläger in seiner früheren Unterkunft in E-Stadt vor und gab dort an, sich in Berlin im Kirchenasyl aufgehalten zu haben und dorthin zurückkehren zu wollen. Letztlich willigte der Kläger aber in eine (erneute) Anmeldung im Zuständigkeitsbereich des Beklagten ein. Zwischen dem 21. und 27. März 2018 erschien der Kläger nicht beim Beklagten zur täglichen Duldungsverlängerung. Am 28. März 2018 erklärte er im Rahmen einer Vorsprache bei dem Beklagten (Blatt 145 der Beiakte 1), dass sein Opa in München verstorben sei. Nachfolgend stellte der Beklagte dem Kläger wieder täglich Duldungsbescheinigungen aus.

Mit Bescheid vom 23. April 2018 (Blatt 171 ff. der Beiakte 1) wies der Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus, ordnete für die Dauer von fünf Jahren ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und untersagte dem Kläger jegliche Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Zur Begründung führte er aus: Der Kläger sei nach Abschluss seines Asylverfahrens zeitweise untergetaucht und habe auch nach seiner Rückkehr nicht täglich zwecks Duldungsverlängerung vorgesprochen. Er habe weder einen gültigen Pass vorgelegt noch entsprechende Bemühungen nachgewiesen. Eine Übersetzung der Terminbestätigung der afghanischen Botschaft habe er trotz Aufforderung nicht vorgelegt. Der Kläger sei mit Bescheid vom 9. Januar 2018 aufgefordert worden, einen gültigen Pass zu beschaffen, und er sei auf die Möglichkeit der Ausweisung wegen Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung hingewiesen worden. Aus einer Vielzahl vergleichbarer Fälle sei bekannt, dass die afghanische Botschaft für die Beantragung eines Nationalpasses keine Termine vergebe. Weil nicht einmal eine Tazkira vorliege, lasse dies nur den Schluss zu, dass der Kläger das Verwaltungsverfahren verzögern wolle. In der Regel lasse sich die Botschaft nicht zu einem Gespräch über die Passbeantragung ein, wenn keine Tazkira vorliege. In solchen Fällen sei stets eine Tazkira im Heimatland anzufordern, da dieses Dokument nicht von der Botschaft ausgestellt werde. Nur bei dem Kläger solle dies anders sein. Darüber hinaus entspreche die Bescheinigung nicht dem, was üblicherweise von der Botschaft in Fällen der Passbeantragung ausgestellt werde. Es sei daher zu vermuten, dass es in dem Termin am 3. Mai 2018 um andere Sachverhalte als die der Passbeschaffung gehe. Bemühungen zur Erlangung einer Tazkira habe der Kläger nicht nachgewiesen. Stattdessen sei er für mehrere Wochen in die Illegalität untergetaucht. Insofern wiege das Ausweisungsinteresse schwer gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes. Ein Bleibeinteresse im Sinne des § 55 des Aufenthaltsgesetzes sei nicht ersichtlich. Eine Reintegration im Heimatland könne aller Voraussicht nach problemlos stattfinden, zumal er sich erst wenige Jahre im Bundesgebiet aufhalte. Familienangehörige im Bundesgebiet seien nicht ersichtlich. Neben den spezialpräventiven Gründen sei eine Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen geboten. Bei den vom Kläger begangenen Handlungen bestehe ein dringendes öffentliches Interesse, durch eine Ausweisung andere ausländische Staatsangehörige davon abzuhalten, ebenfalls konsequent eine rechtlich gebotene Mitwirkung bei der Passbeschaffung zu verweigern. Aus vergleichbaren Fällen sei bekannt, dass afghanische Staatsangehörige bei einem Heimreisewunsch unverzüglich auch ein Heimreisedokument erhielten. Dies lasse vermuten, dass sich der Kläger nicht ernsthaft um die Ausstellung eines Heimreisedokuments bemüht habe. Eine Ausweisung für die Dauer von fünf Jahren erscheine angesichts der beharrlichen Nichtmitwirkung an der Passbeschaffung, des wiederholten Untertauchens und des damit einhergehenden Abbruchs seines Deutschkurses als ausreichend, aber auch notwendig. Aspekte zu Gunsten des Klägers, mithin für eine Verkürzung der Frist, seien nicht ersichtlich.

In der Folge legte der Kläger dem Beklagten eine Bescheinigung der afghanischen Botschaft in Berlin vom 3. Mai 2018 (Blatt 206 der Beiakte 1) über seine Vorsprache in der dortigen Konsularabteilung vor und teilte der Kläger dem Beklagten in einem Gespräch am 15. Mai 2018 (Blatt 223 der Beiakte 1) mit, dass er eine Tazkira beantragt habe. Er gab an, dass ein Freund aus Magdeburg den Antrag auf Ausstellung einer Tazkira nach einem Treffen in Berlin nach Afghanistan mitgenommen habe.

II. Am 23. Mai 2018 hat der Kläger vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg Klage erhoben.

Nach Klageerhebung hat der Kläger im Juli 2018 zunächst eine Tazkira und im November 2019 einen afghanischen Pass persönlich beim Beklagten abgegeben. Daraufhin hat der Beklagte dem Verwaltungsgericht mit Schriftsatz vom 18. März 2020 mitgeteilt, dass die Identität des Klägers nunmehr geklärt sei, und die Untersagung der Erwerbstätigkeit aufgehoben. Das Verwaltungsgericht hat das Klagebegehren betreffend die Untersagung bzw. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit mit Beschluss vom 29. Juli 2020 zum Aktenzeichen 11 A 1995/20 (Beiakte 2) abgetrennt und das abgetrennte Verfahren mit Beschluss vom selben Tag eingestellt.

Zur Begründung der verbliebenen Klage gegen die Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot hat der Kläger geltend gemacht hat, dass die Vorwürfe falsch seien, er entziehe sich der Mitwirkung bei der Passbeschaffung und entfalte keine Passbeschaffungsbemühungen. Er unterhalte kaum mehr Kontakte und habe keine Familienangehörigen in seinem Heimatland. Eine Person zu finden, die die Beschaffung einer Tazkira übernehmen könne, sei stets schwierig. Die Ausweisung sei schon fünf Monate nach dem Abschluss seines Asylverfahrens erlassen worden. In dieser überschaubaren Zeit eine geeignete Person zu finden sei ihm nicht möglich gewesen. Um dem Verlangen der Ausländerbehörde nachzukommen, habe er einen Termin bei der Botschaft vereinbart. In seiner Situation einen Termin bei der Botschaft zu vereinbaren, insbesondere um sich über seine Möglichkeiten zu informieren, sei nachvollziehbar. Ihm hätten seitens des Beklagten konkrete Möglichkeiten zur Erlangung einer Tazkira und eines Passes aufgezeigt werden müssen. Er komme nahezu täglich seiner Verpflichtung zur persönlichen Vorsprache nach und fahre hierzu mit dem Fahrrad von E-Stadt nach B-Stadt. Es bestehe zudem ein schutzwürdiges Bleibeinteresse. Er habe sich im Bundesgebiet sozial integriert und könne sich durch den Schulbesuch bzw. den Deutschkurs gut verständigen. Er füge sich in die Klassengemeinschaft ein und engagiere sich in der Judo-Abteilung des TV B-Stadt. Selbst wenn man die Ausweisung für rechtmäßig erachte, sei das für die Dauer von fünf Jahren angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig.

Der Kläger hat sinngemäß beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 23. April 2018 aufzuheben,

hilfsweise die Dauer des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots auf eine in das Ermessen des Gerichts zu stellende Frist zu verkürzen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat die verfügte Ausweisung und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot verteidigt. Innerhalb der im Januar 2018 gesetzten Frist habe der Kläger gar keine Passbeschaffungsbemühungen entfaltet. Er habe keine Übersetzung der Terminbestätigung der afghanischen Botschaft beigebracht, und aus der Terminbestätigung habe sich der Zweck des Termins nicht ergeben. Die Terminvergabe sei für das afghanische Konsulat unüblich. Der Kläger habe direkt bei der Botschaft vorsprechen können. Auch das zeitweise Untertauchen in die Illegalität zeuge nicht von Bemühungen zur Passbeschaffung. Der Kläger habe gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärt, dass seine gesamte Großfamilie in Afghanistan lebe. Diese hätten ihm bei der Passbeschaffung helfen können. Er habe daher deutlich bessere Möglichkeiten gehabt als afghanische Staatsangehörige, die sich seit Generationen nicht mehr im Heimatland aufhielten. Eine Kontaktaufnahme zu Verwandten habe er nicht nachgewiesen. Die im Bescheid vom 9. Januar 2018 aufgezeigten und eingeforderten Bemühungen habe er nicht geleistet. Zudem verfüge die Botschaft über entsprechende Kontakte in Afghanistan, welche für die Passbeschaffung genutzt werden könnten. Hindernisse, die einer fristgerechten Vorlage entgegenstünden, habe der Kläger nicht mitgeteilt. Ob die nach dem mehrwöchigen Untertauchen des Klägers angeordnete tägliche Vorsprache zur Duldungsverlängerung rechtmäßig sei, spiele in diesem Verfahren keine Rolle.

Auch nach der im November 2019 erfolgten Passvorlage sei die Ausweisung weiterhin rechtmäßig und werde von generalpräventiven Gründen getragen. Solche Gründe ergäben sich regelmäßig bei Identitätstäuschungen oder fehlender Mitwirkung im Rahmen der Identitätsklärung. Das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes liefe beständig ins Leere, wenn es allein aufgrund Nachholung der Mitwirkungshandlung entfiele. In letzter Konsequenz würde dies bedeuten, dass der Ausländer den Zeitpunkt seiner Mitwirkung frei wählen und ggf. bis zur Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen eines Bleiberechts hinauszögern könnte, ohne dass ihm dieses bewusste Fehlverhalten später noch vorgeworfen werden könne. Es stehe zu vermuten, dass andere Ausländer im Falle einer derartigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung von ähnlichem Fehlverhalten nicht wirksam abgehalten würden. Das Ausweisungsinteresse beruhe allein auf einer bewussten Verweigerungshaltung des Klägers. Das Ausweisungsinteresse verliere zwar mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung, sei hier aber noch hinreichend aktuell. In Anbetracht dessen, dass eine fehlende Mitwirkung ebenso wie die Identitätstäuschung darauf abziele, die wahre Identität zu verschleiern, und dass der Kläger einen Straftatbestand verwirklicht habe, entfalle die Aktualität des Ausweisungsinteresses jedenfalls nicht vor Ablauf der einfachen Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 des Strafgesetzesbuchs. Der Kläger habe die Vorlage eines Passes durch nachlässiges Verhalten bewusst hinausgezögert, die Ausländerbehörde nur unzureichend über die von ihm unternommenen Schritte informiert und sei zwischenzeitlich sogar in die Illegalität untergetaucht. Vor diesem Hintergrund sei das Höchstmaß von fünf Jahren für die Aktualität des Ausweisungsinteresses anzuwenden, so dass ausgehend vom Zeitpunkt der Passvorlage das Ausweisungsinteresse noch bis November 2024 aktuell sei. Auch die Dauer des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots sei aus diesen Gründen weiterhin mit fünf Jahren zu bemessen.

Das Verwaltungsgericht Oldenburg - Einzelrichterin der 11. Kammer - hat mit Urteil vom 27. Januar 2022 den Bescheid des Beklagten vom 23. April 2018 aufgehoben. Die in diesem Bescheid noch verfügte Ausweisung und auch das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot seien im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig.

Für die vom Beklagten wegen der unzureichenden Mitwirkung des Klägers an der Passbeschaffung auf §§ 53 Abs. 1 und 2, 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes und spezialpräventive Gründe gestützte Ausweisung fehle es schon an der erforderlichen (Wiederholungs-)Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Der Kläger verstoße schon seit längerem nicht mehr gegen seine ausländerrechtlichen Pflichten aus § 3 (Passpflicht) sowie § 48 Abs. 1 und 3 (ausweisrechtliche Pflichten) des Aufenthaltsgesetzes. Er habe auf die Aufforderung des Beklagten vom 9. Januar 2018 letztlich erfolgreich geeignete Bemühungen zur Passbeschaffung entfaltet und im Juli 2018 eine Tazkira und im November 2019 einen neu ausgestellten Nationalpass vorgelegt. Auch der Beklagte gehe davon aus, dass bei Identitätstäuschungen und fehlender Mitwirkung bei der Passbeschaffung eine Wiederholung des Fehlverhaltens ausgeschlossen sei, wenn zwischenzeitig Personaldokumente vorgelegt worden seien.

Danach allein verbleibende generalpräventive Gründe könnten die Ausweisung des Klägers nicht rechtfertigen. Ziel der Generalprävention sei es, andere Ausländer zu einem ordnungsgemäßen Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland zu veranlassen. Die generalpräventiv motivierte Ausweisung komme in Betracht, wenn von dem Ausländer selbst zwar keine (Wiederholungs-)Gefahr (mehr) ausgehe, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten würden, vergleichbare Delikte zu begehen. Die generalpräventive Ausweisung setze grundsätzlich voraus, dass die Straftat (bzw. die vorgeworfene Verhaltensweise) schwer, wenn auch nicht besonders schwer wiege, und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran bestehe, über eine etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten (und Verhaltensweisen) ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Generalpräventive Ausweisungen kämen danach etwa in Betracht bei der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, dem Werben um Mitglieder oder Unterstützer einer terroristischen Vereinigung in Verbindung mit Gewaltdarstellung und Billigung von Straftaten, Totschlag, Drogendelikten, Raub und räuberischer Erpressung, Körperverletzung mit Todesfolge, Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wie Vergewaltigung, insbesondere dann, wenn die Sexualstraftat Ausdruck einer durch ein frauenverachtendes Weltbild geprägten Einstellung sei, sexuellem Missbrauch von Kindern, illegalen Waffengeschäften, massenhaftem Zigarettenschmuggel, Trunkenheit am Steuer, Verkehrsunfallflucht, Fahren ohne Fahrerlaubnis, illegaler Einreise und Arbeitstätigkeit, Einreise ohne das erforderliche Visum, Falschangaben über Familienstand und Falschangaben zur Verhinderung der Abschiebung. Ungeeignet seien dagegen Leidenschafts- oder Beziehungstaten, weil bei ihnen in der Regel eine abschreckende Wirkung auf andere potenzielle ausländische Täter nicht erwartet werden könne. Straftaten, für die der Privatklageweg zur Verfügung stehe oder nach denen erfolgreich ein Täter-Opfer-Ausgleich durchgeführt worden sei, schieden ebenso aus wie allein aus einer Abhängigkeit heraus begangene Taten. Hier sei der Kläger zwar schon im Januar 2018 aufgefordert worden, seinen Nationalpass vorzulegen. Dem sei er letztlich erst im November 2019, mithin etwa 22 Monate später, nachgekommen. Ob es sich hierbei um eine hinreichend schwerwiegende Verfehlung handele, die eine generalpräventive Ausweisung rechtfertigen könne, sei aber fraglich. Denn das Verhalten des Klägers sei - anders als etwa falsche Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes) - nicht strafbewehrt. Der einer Identitätstäuschung innewohnende Vorwurf rechtsuntreuen Verhaltens wiege schwerer als derjenige mangelnder Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Allerdings könne der Kläger durch sein Verhalten den Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 98 Abs. 2 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes verwirklicht haben, wonach ordnungswidrig handele, wer entgegen § 48 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes eine dort genannte Urkunde, beispielsweise einen Pass, nicht oder nicht rechtzeitig vorlege, aushändige oder überlasse. Hier habe der Kläger zwar zögerlich gehandelt. Eine vollständige, jahrelange und hartnäckige Verweigerungshaltung sei aber nicht gegeben. Letztlich habe er einen neu ausgestellten Nationalpass freiwillig vorgelegt. Hierin unterscheide sich der Fall des Klägers erheblich von Sachverhalten, in denen jahrelang nicht bei der Passbeschaffung mitgewirkt worden sei und ein Pass oder Identitätsnachweis nur zufällig und unfreiwillig auftauche.

Selbst wenn man eine hinreichend schwerwiegende Verfehlung annähme, fehlte es jedenfalls an einer Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Für die generalpräventive Ausweisung bilde die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiere sich regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 des Strafgesetzbuchs. Innerhalb dieses Zeitrahmens sei der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bildeten die Tilgungsfristen des § 46 des Bundeszentralregistergesetzes zudem eine absolute Obergrenze. Diesen Vorschriften komme indes keine Bedeutung in Bezug auf die Aktualität nicht an eine Straftat anknüpfender Ausweisungsinteressen zu. Wie lange bei diesen das jeweilige Ausweisungsinteresse aktuell sei, bestimme sich in erster Linie nach dem Inhalt und Zweck des jeweiligen Ausweisungstatbestands und systematischen Zusammenhängen. Bei einer Identitätstäuschung (§ 54 Abs. 2 Nr. 8 a) des Aufenthaltsgesetzes) sei in den Blick zu nehmen, dass der Gesetzgeber durch § 25b Abs. 2 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes zu erkennen gegeben habe, dass er eine solche, die allein in der Vergangenheit erfolgt und mittlerweile behoben sei, nicht als ein Hindernis für die Legalisierung des Aufenthalts ansehe. Selbiges gelte für die Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung in der Vergangenheit, jedenfalls wenn der Ausländer ein früheres Fehlverhalten selbst korrigiert habe. Denn das Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes ziele darauf ab, ein Fehlverhalten im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu sanktionieren und so den Ausländer zur Mitwirkung anzuhalten. Der Kläger habe aber letztlich von einer zeitweise zögerlichen Mitwirkungshaltung Abstand genommen und die notwendigen Schritte zur Passbeschaffung erfolgreich vorgenommen und den neu ausgestellten Pass im November 2019 freiwillig dem Beklagten vorgelegt. Es widerspreche dem Zweck des Ausweisungstatbestandes nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes, einerseits den Ausländer zur Mitwirkung anzuhalten und so die Identität zu klären und Passpapiere zu erhalten, andererseits aber bei einer zeitweise dürftigen Mitwirkung und einer Passvorlage 22 Monate nach Aufforderung dem Ausländer das vergangene Fehlverhalten über 24 Monate nach Behebung des Fehlverhaltens im Rahmen einer Ausweisung weiter vorzuhalten. Im Hinblick auf die Ordnungswidrigkeit des § 98 Abs. 2 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes sei eine Verfolgung gemäß § 98 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes in Verbindung mit § 31 Abs. 2 Nr. 2 des Ordnungswidrigkeitengesetzes ausgehend von der erfolgten Passvorlage im November 2019 auch bereits im November 2021 verjährt. Offenbleiben könne danach, ob der Kläger überhaupt ordnungsgemäß über die Rechtsfolgen fehlender Mitwirkung bei der Passbeschaffung im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes belehrt worden sei. Weitere aufenthaltsrechtliche Verstöße oder Straftaten, die ein aktuelles Ausweisungsinteresse begründen könnten, habe der Beklagte nicht vorgetragen.

Erweise sich die Ausweisung danach als rechtswidrig, sei auch das daran anknüpfende Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben.

III. Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, die der Senat mit Beschluss vom 19. Mai 2022 - 13 LA 81/22 - wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung zugelassen hat.

Zur Begründung erneuert und vertieft der Beklagte sein erstinstanzliches Vorbringen.

Es treffe zwar zu, dass nach der Passvorlage im November 2019 die Identität des Klägers geklärt sei und derzeit keine erneuten Verstöße gegen Mitwirkungs- und Passbeschaffungspflichten drohten. Die Ausweisung sei aber aus generalpräventiven Gründen zum Zwecke der Abschreckung anderer Ausländer rechtmäßig. Über das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) des Aufenthaltsgesetzes solle auch verhaltenslenkend auf andere Ausländer eingewirkt und diesen aufenthaltsrechtliche Nachteile bei pflichtwidrigem Verhalten aufgezeigt werden. Dieses Ausweisungsinteresse liefe beständig ins Leere, wenn es sich schon bei Nachholung der zunächst unterlassenen Mitwirkungs- und Passbeschaffungspflichten nicht mehr ahnden ließe. Zu berücksichtigen sei, dass der Gesetzgeber das Bestehen dieses Ausweisungsinteresses von einem Hinweis auf die Rechtsfolgen unzureichender Mitwirkung abhängig gemacht habe. Den danach erforderlichen Hinweis habe er dem Kläger bereits mit der erstmaligen Aufforderung zur Passbeschaffung im bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 9. Januar 2018 in hinreichendem Umfang erteilt. Die schleppende Mitwirkung bei der Beschaffung des Nationalpasses und der Identitätsklärung möge zwar keine Straftat darstellen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die Passlosigkeit des Klägers als solche aber nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes strafbar. Auch die Wertung des Verwaltungsgerichts, eine vollständige, jahrelange und hartnäckige Verweigerungshaltung des Klägers sei nicht gegeben und dieser habe den Nationalpass letztlich freiwillig vorgelegt, entspreche nicht den Tatsachen. Nach der Aufforderung zur Passbeschaffung habe sich der Kläger zunächst gar nicht bemüht, sondern sei sechs Wochen in der Illegalität abgetaucht. Auch die danach behaupteten Bemühungen seien in aller Regel weder nachgewiesen noch in sich schlüssig, jedenfalls seien sie nur aufgrund des Drängens und der engmaschigen Kontrolle durch die Ausländerbehörde unternommen worden. Von einer Freiwilligkeit könne keine Rede sein. Auch der Nationalpass sei erst vorgelegt worden, nachdem der Kläger realisiert habe, dass er ohne diesen keine Beschäftigungserlaubnis erhalte. Angesichts der mangelnden und schleppenden Bemühungen sei die Dauer bis zur Erlangung des Passes von 22 Monaten auch nicht als gering einzuschätzen. Es sei kein Grund ersichtlich, warum dem Kläger ohne ernsthafte Mitwirkungsbemühungen mehr Zeit gegeben werden müsste, bevor er mit den Folgen seines Handelns konfrontiert werden dürfe.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei das Ausweisungsinteresse auch noch hinreichend aktuell. Ausgehend von der Strafbarkeit der Passlosigkeit gelange man unter Anwendung der Verfolgungsverjährungsvorschriften auf einen zeitlichen Rahmen für die Aktualität von mindestens drei und höchstens sechs Jahren. Nach der Vorlage des Nationalpasses erst im November 2019 sei noch nicht einmal die untere Grenze von drei Jahren erreicht. Ungeachtet dessen sei auch nach der vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen wertenden Betrachtung der Zeitabstand zwischen der Aufgabe des Fehlverhaltens und der ausländerrechtlichen Folge der Ausweisung nicht so groß, dass die Ausweisung nicht mehr als hinreichend aktuell angesehen werden könnte, sondern unverhältnismäßig erschiene.

Auch auf gesetzlich normierte Bleibeinteressen aus § 55 des Aufenthaltsgesetzes könne sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Er sei im Alter von 18 Jahren in das Bundesgebiet eingereist. In Afghanistan sei er zwölf Jahre zur Schule gegangen. Er sei mit Kultur, Sprache und Gepflogenheiten in seinem Heimatland vertraut. Im jungen Alter von 25 Jahren sei es ihm auch durchaus zuzumuten, Kenntnisse seiner Muttersprache aufzufrischen, soweit dies überhaupt notwendig sein sollte. Da seine Großfamilie noch in Afghanistan lebe, stehe ihm nach seiner Rückkehr auch familiärer Rückhalt zur Verfügung. Demgegenüber sei er im Bundesgebiet nicht verwurzelt. Er lebe hier zwar mittlerweile sieben Jahre, habe aber zu keinem Zeitpunkt einen Aufenthaltstitel besessen, sondern nur von der langen Dauer zunächst des Asylverfahrens und nun des Klageverfahrens gegen seine Ausweisung profitiert. Während des gesamten Aufenthalts habe er öffentliche Sozialleistungen bezogen und sich zunächst auch nicht einmal um die Aufnahme einer Beschäftigung bemüht. Zugunsten des Klägers spreche allenfalls die aufgenommene Berufsausbildung. Diese überwiege jedoch das Ausweisungsinteresse nicht, zumal sie erst vor wenigen Monaten aufgenommen worden sei und ein erfolgreicher Abschluss noch nicht prognostiziert werden könne.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichterin der 11. Kammer - vom 27. Januar 2022 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

und verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

I. Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid des Beklagten vom 23. April 2018 im Ergebnis zu Recht aufgehoben. Der Bescheid des Beklagten, der nach der Aufhebung der Untersagung der Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch den Beklagten mit Schriftsatz vom 18. März 2020 (Blatt 46 der Gerichtsakte) noch die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet (1.) und die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots (2.) zum Gegenstand hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die im Bescheid vom 23. April 2018 verfügte Ausweisung findet eine Rechtsgrundlage in §§ 53 ff. des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) in der zuletzt durch Art. 4a des Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 760) geänderten Fassung. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, 281 - juris Rn. 12; Senatsurt. v. 6.5.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 35).

Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

Diese Voraussetzungen sind im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht (mehr) erfüllt. Der Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet kann die öffentliche Sicherheit und Ordnung zwar auch dann gefährden, wenn von dem Verhalten des Ausländers selbst eine solche Gefahr nicht ausgeht (a.), der Kläger hat auch Ausweisungsinteressen verwirklicht, die eine allein generalpräventive Ausweisung rechtfertigen können (b.), diese Ausweisungsinteressen sind aber nicht mehr hinreichend aktuell und können deshalb eine generalpräventive Ausweisung des Klägers nicht mehr rechtfertigen (c.).

a. Der Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet kann die öffentliche Sicherheit und Ordnung auch dann im Sinne des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG gefährden, wenn von dem Verhalten des Ausländers selbst eine solche Gefahr nicht ausgeht.

(1) Der Senat teilt die Auffassung des erstinstanzlich entscheidenden Verwaltungsgerichts (Urt. v. 27.1.2022, S. 9 f.) und auch des Beklagten (Schriftsatz v. 17.3.2022, S. 1 = Blatt 115 der Gerichtsakte), dass, nachdem der Kläger im November 2019 einen afghanischen Nationalpass vorgelegt hat, die hinreichend konkrete Gefahr erneuter Verstöße des Klägers gegen die aufenthaltsrechtlichen Pflichten zur Passbeschaffung und zur Mitwirkung bei dieser derzeit nicht mehr besteht (vgl. zu den Anforderungen an das Vorliegen einer Gefahr erneuter Verfehlungen des Ausländers: Senatsurt. v. 6.5.2020
- 13 LB 190/19 -, juris Rn. 38 m.w.N.). Die Ausweisung kann daher derzeit nicht auf eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch ein zukünftiges individuelles Verhalten des Klägers, mithin spezialpräventive Gründe, gestützt werden.

(2) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 -, juris Rn. 23), des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, BVerwGE 165, 331, 335 - juris Rn. 17 m.w.N.) und auch des Senats (vgl. Senatsurt. v. 18.2.2021 - 13 LB 269/19 -, juris Rn. 41; Senatsbeschl. v. 7.12.2020 - 13 ME 384/20 -, V.n.b. Umdruck S. 6 f.; v. 21.7.2020 - 13 ME 213/20 -, V.n.b. Umdruck S. 3) ist aber geklärt, dass - abgesehen von den Fällen besonderen Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.7.2018 - BVerwG 1 C 16.17 -, BVerwGE 162, 349, 355 f. - juris Rn. 19; Senatsbeschl. v. 28.1.2021 - 13 ME 355/20 -, juris Rn. 30; vgl. zu § 53 Abs. 3a und 3b AufenthG: Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 30 (Stand: 1.7.2022)) - auch allein generalpräventive Gründe eine Ausweisung rechtfertigen können.

Denn nach § 53 Abs. 1 AufenthG muss lediglich der weitere "Aufenthalt" eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bewirken. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers kann aber auch dann eine solche Gefahr ausgehen, wenn von ihm selbst keine Gefahr erneuter individueller Verfehlungen mehr droht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein zurückliegendes Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Verfehlungen zu begehen. Diese Auslegung des Wortlauts wird binnensystematisch durch § 53 Abs. 3 AufenthG, der ausdrücklich für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangt, dass das "persönliche Verhalten des Betroffenen" eine schwerwiegende Gefahr darstellt, sowie die Gesetzgebungsgeschichte (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 49: "Die Ausweisungsentscheidung kann grundsätzlich auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden, wenn nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls das Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt.") bestätigt (vgl. zu Vorstehendem: BVerwG, Urt. v. 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, BVerwGE 165, 331, 335 - juris Rn. 17; Urt. v. 12.7.2018 - BVerwG 1 C 16.17 -, BVerwGE 162, 349, 354 f. - juris Rn. 16 f., allerdings einerseits mit dem Fokus auf strafrechtliche Verfehlungen des Ausländers, andererseits aber mit dem Hinweis auf vom Gesetzgeber in § 54 Abs. 2 Nr. 8 a) AufenthG angelegte generalpräventive Ausweisungsinteressen, die gerade keine strafrechtliche Verfehlung des Ausländers voraussetzen; kritisch bspw. Albert, Generalpräventive Ausweisung? - Zum Erfordernis der konkreten Gefahr als Tatbestandsvoraussetzung der Ausweisung nach § 53 AufenthG, in: ZAR 2021, 95 ff.).

Entgegen der Auffassung des erstinstanzlich entscheidenden Verwaltungsgerichts (Urt. v. 27.1.2022, S. 10 f.) muss die den Ausweisungsanlass bildende Verfehlung des Ausländers nicht von besonderem Gewicht sein, um eine allein generalpräventiv motivierte Ausweisung zu rechtfertigen. Der Senat stellt nicht in Abrede, dass in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.2.2012 - BVerwG 1 C 7.11 -, BVerwGE 142, 29, 35 f. - juris Rn. 17, allerdings betreffend die generalpräventive Ausweisung eines Ausländers mit besonderem Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung v. 25.2.2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz v. 20.12.2011 (BGBl. I S. 2854), der lautete: "Er (Anm.: der besonderen Ausweisungsschutz im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG a.F. genießende Ausländer) wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen.") und auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. bspw. Bayerischer VGH, Beschl. v. 18.5.2021 - 19 ZB 20.65 -, juris Rn. 41: "ist insbesondere nur zur Bekämpfung schwerwiegender Verfehlungen zulässig"; OVG Bremen Beschl. v. 22.2.2021 - 2 B 330/20 -, juris Rn. 25: "ist erforderlich, dass die den Ausweisungsanlass bildende Straftat besonders schwer wiegt … Die besondere Schwere der Straftat im Hinblick auf die verhaltenssteuernde Wirkung der Ausweisung auf andere Ausländer erfordert, dass von einer derartigen Straftat eine besonders hohe Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft ausgeht, wie dies insbesondere bei Drogendelikten oder Straftaten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität der Fall sein kann…") durchaus erhöhte Anforderungen an das Gewicht des den Ausweisungsanlass bildenden Fehlverhaltens des Ausländers gestellt worden sind. Eine sachliche Rechtfertigung hierfür vermag der Senat indes nicht zu erkennen.

Auch die Rechtmäßigkeit der allein generalpräventiv motivierten Ausweisung ist anhand des Regelungssystems der §§ 53 ff. AufenthG zu überprüfen. Sie erfordert mithin allein, dass im Sinne des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG der weitere "Aufenthalt" des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet und dass im Sinne des § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Die in diese Abwägung neben den in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umständen mit einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen sind in den Katalogen der §§ 54, 55 AufenthG vertypt beschrieben und gewichtet.

Dabei ist bei der Tatbestandsvoraussetzung des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG in den Blick zu nehmen, ob die Ausweisung, also die Beendigung des "Aufenthalts" des Betroffenen, andere Ausländer von einem Fehlverhalten ähnlicher Art und Schwere überhaupt abzuhalten vermag, ihr also die für eine Generalprävention erforderliche allgemeine verhaltenssteuernde Wirkung im Hinblick auf andere Ausländer zukommen kann. Dies wird ausnahmsweise bei einem allein singulären Fehlverhalten mit maßgeblich individueller Prägung zu verneinen sein (so auch Bayerischer VGH, Beschl. v. 12.11.2020 - 10 ZB 20.1852 -, juris Rn. 7; vgl. dahingehend auch Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 64 f.).

Das konkrete Gewicht des den Ausweisungsanlass bildenden Fehlverhaltens ist sodann eingangs der Abwägung nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG zu bestimmen, und zwar anhand der Kataloge des § 54 Abs. 1 und 2 AufenthG und anhand der individuellen Umstände des anlassgebenden Einzelfalls. Dass dabei bestimmten Katalogtatbeständen, bspw. den in den Nrn. 8 und 9 des § 54 Abs. 2 AufenthG, von vorneherein kein hinreichendes Gewicht zukommen sollte, um überhaupt eine generalpräventive Ausweisung zu rechtfertigen, ist nicht zu begründen. Vielmehr belegt gerade das in § 54 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG normierte Ausweisungsinteresse, dass der Gesetzgeber es bei generalpräventiv motivierten Ausweisungen berücksichtigt wissen will, um verhaltenslenkend auf andere Ausländer einzuwirken, indem ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile auch im Falle eines bloß pflichtwidrigen Verhaltens aufgezeigt werden. Denn die diesem Ausweisungsinteresse zugrundeliegenden Falschangaben oder Mitwirkungspflichtverletzungen bergen nach Aufdeckung der wahren Identität oder nachträglicher Pflichtenerfüllung keine Wiederholungsgefahr mehr (so ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 12.7.2018 - BVerwG 1 C 16.17 -, BVerwGE 162, 349, 356 - juris Rn. 20, zu § 54 Abs. 2 Nr. 8 a) AufenthG). Der Senat hat daher in der Vergangenheit wiederholt Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 oder Nr. 9 AufenthG genügen lassen, um eine generalpräventive Ausweisung zu rechtfertigen (bspw. im Senatsbeschl. v. 7.12.2020 - 13 ME 384/20 -, V.n.b. Umdruck S. 4 ff.; v. 20.4.2020 - 13 PA 51/20 -, V.n.b. Umdruck S. 3; v. 23.1.2020 - 13 PA 413/19 -, V.n.b. Umdruck S. 3 f.; vgl. so auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 7.1.2022 - 2 M 137/21 -, juris Rn. 33).

b. Der Kläger hat schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) AufenthG ((1)) und nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ((2)) verwirklicht, die eine allein generalpräventive Ausweisung rechtfertigen können ((3)).

(1) Nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer in einem Verwaltungsverfahren, das von Behörden eines Schengen-Staates durchgeführt wurde, im In- oder Ausland trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörden mitgewirkt hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde.

(a) Hier hat der Kläger im Zeitraum vom 10. Januar 2018, als ihm der Bescheid des Beklagten vom 9. Januar 2018 über die Aufforderung zur Beschaffung eines Nationalpasses bzw. Passersatzpapiers zugestellt worden war (Blatt 76 ff. und 85 f. der Beiakte 1), bis zur Beantragung des am 23. Oktober 2019 ausgestellten (Blatt 161 f. der Gerichtsakte) und dem Beklagten im November 2019 vorgelegten (vgl. Blatt 43 der Gerichtsakte) afghanischen Nationalpasses seine Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung verletzt.

Besitzt der Ausländer keinen gültigen Pass oder Passersatz, ist er gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, § 5 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 der Aufenthaltsverordnung - AufenthV - verpflichtet, an der Beschaffung eines derartigen Papiers mitzuwirken, rechtzeitig die für die Erteilung notwendigen Anträge zu stellen und alle Urkunden und sonstigen Unterlagen, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können, vorzulegen. Die - gerichtlich vollständig überprüfbare (vgl. Senatsurt. v. 8.2.2018 - 13 LB 45/17 -, juris Rn. 41 m.w.N.) - Frage, welche konkreten Initiativ- und Mitwirkungshandlungen zur Erlangung eines Passes dem Ausländer zumutbar sind, beurteilt sich unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.6.2006 - BVerwG 1 B 54.06 -, Buchholz 402.242 AufenthG § 25 Nr. 4 - juris Rn. 4). Grundsätzlich sind sämtliche Handlungen zumutbar, die zur Beschaffung eines zur Ausreise notwendigen Dokuments erforderlich sind und nur vom Ausländer persönlich vorgenommen werden können (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 9.7.2009 - 4 PA 365/08 -, juris Rn. 3 m.w.N.). Eine Unzumutbarkeit, sich zunächst um die Ausstellung eines Nationalpasses des Heimatstaates zu bemühen, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die einen Ausnahmefall begründenden Umstände sind vom Ausländer darzulegen und nachzuweisen. Dabei ist bei den Anforderungen an den Nachweis zu differenzieren. Je gewichtiger die vom Ausländer plausibel vorgebrachten Umstände sind, desto geringer sind die Anforderungen an das Vorliegen einer daraus resultierenden Unzumutbarkeit (vgl. Senatsbeschl. v. 4.4.2011 - 13 ME 205/10 -, NVwZ-RR 2011, 498, 499 - juris Rn. 6; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 17.2.2005 - 11 PA 345/04 -, juris Rn. 14 m.w.N.).

Hier ist es dem Kläger offensichtlich möglich gewesen, eine afghanische Tazkira als Identitätsnachweis und darauf aufbauend einen afghanischen Nationalpass zu erlangen. Beides hat er im Juli 2018 bzw. im November 2019 bei dem Beklagten vorgelegt. Er hat aber nicht nachvollziehbar aufzuzeigen vermocht, dass ihm die Beschaffung dieser Dokumente bei entsprechenden eigenen Anstrengungen nicht früher zumutbar oder möglich gewesen wäre. Der Senat verkennt nicht, dass die Beschaffung einer Tazkira und eines afghanischen Nationalpasses mit Schwierigkeiten verbunden sein kann und unter Umständen auch bei gehöriger Mitwirkung des Ausländers durchaus erhebliche Zeiten in Anspruch nehmen kann. Das Vorbringen des Klägers zu solchen Schwierigkeiten, etwa bei der Beauftragung eines Vertreters, der für ihn die Tazkira in Afghanistan beantragt, ist aber wenig konkret, durch nichts belegt und deshalb für den Senat nicht nachzuvollziehen. Die Möglichkeit, sein Vorbringen zu vertiefen, hat der Kläger weder in vorbereitenden Schriftsätzen noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat genutzt. Auch hat er nicht aufgezeigt, dass und in welchem konkreten Zusammenhang die von ihm vorgelegte Terminbestätigung der afghanischen Botschaft in Berlin (Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit) für den 3. Mai 2018 in persischer Sprache (Blatt 96 der Beiakte 1) und die Bescheinigung der afghanischen Botschaft in Berlin über eine Vorsprache vom 3. Mai 2018 (Blatt 206 der Beiakte 1) mit der Passbeschaffung standen.

(b) Dem Kläger ist vom Beklagten auch ein Hinweis auf die Rechtsfolgen seiner unzureichenden Mitwirkung bei der Passbeschaffung im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 8 a.E. AufenthG erteilt worden.

Nach dem Wortlaut der genannten Bestimmung muss die Ausländerbehörde den Ausländer nicht auf im Einzelnen konkretisierte Rechtsfolgen hinweisen. Sinn und Zweck des geforderten Hinweises ist es vielmehr nur, dem Ausländer die Bedeutung der Richtigkeit seiner Angaben oder seiner Mitwirkung und mögliche Konsequenzen von Falschangaben oder mangelnder Mitwirkung im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 8 a) oder b) AufenthG vor Augen zu führen (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 19.9.2013 - 3 Bs 226/13 -, juris Rn. 11 (zur Vorgängervorschrift des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG a.F.)). Vor diesem Hintergrund ist es unerheblich, wenn dem belehrten Ausländer in dem erteilten Hinweis nicht die Feinheiten des deutschen Aufenthaltsrechts vermittelt werden, sondern die bloße Vorstellung, im Falle von Falschangaben oder unzureichender Mitwirkung Deutschland wieder verlassen oder andere aufenthaltsrechtliche Nachteile hinnehmen zu müssen (vgl. Senatsbeschl. v. 7.12.2020 - 13 ME 380/20 -, V.n.b. Umdruck S. 3 f.; Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 301 und 306 (Stand: 1.7.2022) m.w.N.).

Diesen (geringen) Anforderungen genügten die vom Beklagten in seinem Bescheid vom 9. Januar 2018 (Blatt 76 ff. der Beiakte 1) gegebenen Hinweise. Denn diese belehrten den Kläger nicht nur über den Inhalt der bestehenden Mitwirkungspflichten, sondern auch über verschiedene Rechtsfolgen mangelnder oder unzureichender Mitwirkung. Neben dem Hinweis auf eine zwangsweise Durchsetzung der Pflichten wurde der Kläger darüber belehrt, dass eine strafrechtliche Ahndung möglich ist, dass eine Beschäftigungserlaubnis zu einer Duldung versagt werden kann und dass letztlich ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse verwirklicht sein kann (so der Bescheid v. 9.1.2018, S. 3 "Hinweise" = Blatt 78 der Beiakte 1).

(2) Nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländereinen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist. Diese Bestimmung ist unabhängig davon anwendbar, ob daneben die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 54 Abs. 2 Nr. 8 a) oder b) AufenthG erfüllt sind oder nicht (vgl. Senatsbeschl. v. 7.12.2020 - 13 ME 384/20 -, V.n.b. Umdruck S. 4).

§ 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.9.1996 - BVerwG 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63, 66 f. - juris Rn. 19 f.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.9.2017 - 10 C 17.1434 -, juris Rn. 6; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 1.4.2010 - 8 PA 27/10 -, juris Rn. 7 (jeweils zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F.)). Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.9.1996
 - BVerwG 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63, 66 f. - juris Rn. 20 (zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F.)).

Für den Senat besteht auch keine Veranlassung, den so - in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F. - bestimmten Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG mit Blick auf etwaige Wertungswidersprüche zu den insbesondere in § 54 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 AufenthG benannten Ausweisungsinteressen teleologisch zu reduzieren (vgl. hierzu Senatsurt. v. 14.11.2018 - 13 LB 160/17 -, juris Rn. 40 f.; Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BR-Drs. 642/14 (B), S. 25 f.; Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 18/4199, S. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 10.10.2016 - 2 O 26/16 -, juris Rn. 9 ff.; VG Göttingen, Urt. v. 28.6.2017 - 1 A 241/16 -, juris Rn. 45; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 54 AufenthG Rn. 97). Die in den Katalogen der Absätze 1 und 2 des § 54 AufenthG konkretisierten Ausweisungsinteressen sind vom Bundesgesetzgeber jeweils alle als besonders schwerwiegend (Abs. 1) bzw. schwerwiegend (Abs. 2) bewertet worden. Die zugrundeliegenden Handlungen sind aber ersichtlich nicht gleicher Art und auch nicht in gleicher Weise sanktioniert oder pönalisiert. Angesichts der teilweise erheblichen Unterschiede erscheint es kaum möglich, bereits bei der Bestimmung des tatbestandlichen Anwendungsbereiches der in den Katalogen der Absätze 1 und 2 des § 54 AufenthG konkretisierten Ausweisungsinteressen ein Gleichgewicht herzustellen (vgl. zu dieser Forderung: Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 18/4199, S. 6). Der Senat sieht hierfür auch keine Notwendigkeit. Das Anliegen, in § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG die Wörter "einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen" zu streichen, fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 18/5420, S. 13 und 15). § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist vielmehr ausdrücklich eine Auffangfunktion zur Begründung eines schwerwiegenden Ausweisungsinteresses zugedacht worden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 52). Zudem ergibt erst die nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung unter umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, ob das Interesse an der Ausreise letztendlich überwiegt. Im Rahmen dieser Abwägung ist auch einem Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG das den Umständen des Einzelfalles angemessene Gewicht zu verleihen (so auch Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 310 (Stand: 1.7.2022)).

Hieran gemessen hat der Kläger einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften dadurch begangen, dass er - mit Ausnahme des Zeitraums des Innehabens einer asylrechtlichen Aufenthaltsgestattung (vgl. hierzu Stephan, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 95 AufenthG Rn. 24 m.w.N.) zwischen dem 5. Juli 2016 (Asylantragstellung, Blatt 17 der Beiakte 1) und dem 28. Dezember 2017 (rechtskräftige Ablehnung des Asylantrags, Blatt 72 der Beiakte 1) - sich seit seiner Einreise in das Bundesgebiet im November 2015 (Blatt 40 der Beiakte 1) hier bis zur Beschaffung des am 23. Oktober 2019 ausgestellten afghanischen Nationalpasses (Blatt 161 f. der Gerichtsakte) aufgehalten hat, ohne einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz zu besitzen.

Mit diesem Verhalten hat er den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Beschl. v. 12.9.2005 - 2 BvR 1361/05 -, juris Rn. 12 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 7.1.2022 - 2 M 137/21 -, juris Rn. 26; LG Waldshut-Tiengen, Urt. v. 5.12. 2012 - 6 Ns 24 Js 4035/10 -, juris Rn. 32 ff.; Stephan, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 95 AufenthG Rn. 24 ff.). Nach dieser Bestimmung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 AufenthG sich im Bundesgebiet aufhält. Der Kläger hat sich jedenfalls mit bedingtem Vorsatz passlos im Sinne des § 3 Abs. 1 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten. Auf eine den Tatbestand ausschließende Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Passbeschaffung (vgl. § 48 Abs. 2 AufenthG) hat sich der Kläger nicht erfolgreich berufen (siehe hierzu oben I.1.b.(1)(a)). Der mit dem strafbaren Handeln verbundene Verstoß gegen Rechtsvorschriften ist wegen des bedingten Vorsatzes des Klägers, aber auch wegen der Dauer des Rechtsverstoßes nicht als geringfügig anzusehen.

Unerheblich ist, dass gegen den Kläger wegen des Fehlverhaltens kein Strafverfahren durchgeführt worden und gegen ihn keine strafgerichtliche Entscheidung ergangen ist. Die Verwaltungsgerichte sind in aufenthaltsrechtlichen Streitigkeiten befugt, den Sachverhalt selbstständig zu ermitteln, ohne an Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte gebunden zu sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.12.2012 - BVerwG 1 C 20.11 -, juris Rn. 21 ff.; Senatsurt. v. 11.7.2018 - 13 LB 44/17 -, juris Rn. 75 ff).

(3) Die vom Kläger verwirklichten Ausweisungsinteressen können nach dem dargestellten Maßstab (siehe oben I.1.a.) auch eine allein generalpräventive Ausweisung rechtfertigen.

(a) Das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) AufenthG dient - ebenso wie das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 a) AufenthG (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 12.7.2018 - BVerwG 1 C 16.17 -, BVerwGE 162, 349, 356 - juris Rn. 20) - typischerweise (auch) der Generalprävention. Der Wortlaut der Bestimmung ("wenn der Ausländer … trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen … mitgewirkt hat") erfasst abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Verfehlungen des Ausländers. Nach Vornahme der bisher unterlassenen Mitwirkungshandlungen - wie hier bei der Passbeschaffung - besteht aber regelmäßig nicht mehr die Gefahr einer inhaltsgleichen Verfehlung. Dieses Ausweisungsinteresse ist daher nach Sinn und Zweck nicht maßgeblich spezialpräventiv, sondern generalpräventiv motiviert. Es zielt gerade darauf ab, verhaltenslenkend auf andere Ausländer einzuwirken, indem ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile im Falle der Verletzung von Mitwirkungspflichten aufgezeigt werden.

(b) Für das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG kann schon aufgrund der Vielgestaltigkeit von Verstößen gegen "Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen" nicht angenommen werden, dass es typischerweise stets (auch) der Generalprävention dient. Vielmehr ist der konkrete "Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen" darauf hin zu bewerten, ob eine an diesen Anlass geknüpfte Ausweisung andere Ausländer von einem Fehlverhalten ähnlicher Art und Schwere überhaupt abzuhalten vermag, ihr also die für eine Generalprävention erforderliche allgemeine verhaltenssteuernde Wirkung im Hinblick auf andere Ausländer zukommen kann.

Für den hier gegebenen Verstoß gegen die Passpflicht nach § 3 Abs. 1 AufenthG und die daran anknüpfende Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist der Senat davon überzeugt, dass eine an diesen Anlass anknüpfende Ausweisung auch andere Ausländer zu beeindrucken und von einem gleichgelagerten Fehlverhalten abzuhalten vermag. Pass- und Passbeschaffungspflicht sind elementare aufenthaltsrechtliche Pflichten eines Ausländers (vgl. nur Kolber, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 3 AufenthG Rn. 2). "Deutsche Behörden müssen wissen, wer sich in unserem Land aufhält." (so der Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drs. 19/10047, S. 1). Der Pass dient der Feststellung von Identität, Nationalität und Rückkehrberechtigung des Ausländers in einen anderen Staat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.9.2005 - 2 BvR 1361/05 -, juris Rn. 13). Die Erfüllung der Passpflicht ist gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG allgemeine Regelvoraussetzung für jedwede Legalisierung des Aufenthalts. Selbst bei einem bloß geduldeten Aufenthalt ist die Erfüllung der Pass- oder Passbeschaffungspflicht gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis. Die mangelnde Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach § 60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG führt zur Verschlechterung des Duldungsstatus (sog. "Duldung light", vgl. hierzu im Einzelnen: Senatsbeschl. v. 9.6.2021 - 13 ME 587/20 -, juris Rn. 12: Ausschluss der Anerkennung als Vorduldungszeiten, Versagungsgrund für Beschäftigungserlaubnis, gesetzliche Wohnsitzauflage, Einschränkung von Sozialleistungen). Gleichwohl werden Pass- und Passbeschaffungspflicht in der Praxis oftmals nicht befolgt (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drs. 19/10047, S. 37; Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 105. Sitzung v. 7.6.2019, PlProt. 19/105, S. 12890; Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2021, Grundtabelle, Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG, veröffentlicht unter https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2021/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen.html?nn=194208, abgerufen am 20.9.2022), und der fehlende Pass führt, soweit nicht behördlicherseits Passersatzpapiere beschafft werden können, zu einem inlandsbezogenen Vollstreckungshindernis in Bezug auf eine Ausreisepflicht und zur Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. nur Senatsbeschl. v. 29.3.2021 - 13 ME 75/21 -, juris Rn. 9 f.). Entstehen während eines so begründeten tatsächlichen Aufenthalts im Bundesgebiet die besonderen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, vermag der Ausländer durch die schlichte Nachholung einer zunächst nicht oder nur unzureichend erfüllten Pass- oder Passbeschaffungspflicht auch die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG herbeizuführen, ohne dass ihm sein zurückliegendes, teilweise mehrjähriges Fehlverhalten auf der Grundlage des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG oder der §§ 53 ff. AufenthG durch eine spezialpräventive Ausweisung noch entgegengehalten werden könnte. In diesen Fallgestaltungen ist maßgeblich die generalpräventive Ausweisung in der Lage, eine allgemeine verhaltenssteuernde Wirkung zu bewirken und verhaltenslenkend auf andere Ausländer derart einzuwirken, dass ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile im Falle der Verletzung von Mitwirkungspflichten aufgezeigt werden.

c. Die vom Kläger verwirklichten Ausweisungsinteressen sind aber nicht mehr hinreichend aktuell und können deshalb eine generalpräventive Ausweisung des Klägers nicht mehr rechtfertigen (vgl. zum Erfordernis einer differenzierenden Bewertung der Aktualität für jedes einzelne mehrerer verwirklichter Ausweisungsinteressen: BVerwG, Urt. v. 12.7.2018 - BVerwG 1 C 16.17 -, BVerwGE 162, 349, 357 f. - juris Rn. 24 f.).

Eine generalpräventiv motivierte Ausweisung kann nur an ein Ausweisungsinteresse anknüpfen, das noch aktuell, also zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch vorhanden ist; denn jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse verliert mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung und kann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, BVerwGE 165, 331, 335 f. - juris Rn. 18; Urt. v. 22.2.2002 - BVerwG 1 C 6.01 -, BVerwGE 115, 352, 360 - juris Rn. 22.).

Ist das den Ausweisungsanlass bildende Fehlverhalten strafrechtlich sanktioniert, bildet auch für die generalpräventive Ausweisung die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die in der Regel das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden dürfen (§ 51 BZRG; vgl. BVerwG, Urt. v. 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, BVerwGE 165, 331, 336 - juris Rn. 19).

Ist das den Ausweisungsanlass bildende Fehlverhalten hingegen nicht strafrechtlich sanktioniert, ist eine Anknüpfung an die konkreten Verjährungsfristen des Strafgesetzbuchs ausgeschlossen. Zur Anwendung gelangt dann allein der aufgezeigte allgemeine Grundsatz, wonach durch wertende Betrachtung anhand aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln ist, ob das Fehlverhalten bereits derart an Bedeutung verloren hat, dass es dem Ausländer nicht mehr entgegengehalten werden kann.

(1) Hieran gemessen hat das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 b) AufenthG jedenfalls im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats derart an Bedeutung verloren, dass es dem Kläger nicht mehr entgegengehalten werden kann.

Der Senat teilt die Auffassung des erstinstanzlich entscheidenden Verwaltungsgerichts (Urt. v. 27.1.2022, S. 11 f.), dass der vorliegende Fall nicht von einer vollständigen, jahrelangen und hartnäckigen Verletzung von Mitwirkungspflichten geprägt ist. Die Verweigerung des Klägers ist aber auch nicht völlig zu vernachlässigen. Nach der Aufforderung durch den Beklagten im Bescheid vom 9. Januar 2018 hat er im Juli 2018 zunächst eine Tazkira und erst im November 2019 einen afghanischen Pass dem Beklagten vorgelegt. Auch wenn notwendigerweise eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Kläger bereits vor Ausstellung und Vorlage dieser Dokumente geendet hat, ist der konkrete Zeitpunkt, in dem der Kläger die ihm obliegende Mitwirkung vorgenommen hat, aufgrund seines dürftigen Vorbringens hierzu nicht auszumachen. Er hat auch nicht nachvollziehbar aufgezeigt, dass und warum ihm die Beschaffung des Passes und der zugrundeliegenden Tazkira bei entsprechenden eigenen Anstrengungen nicht früher zumutbar oder möglich gewesen wäre (vgl. im Einzelnen oben I.1.b.(1)(a)). Zudem folgt der Senat der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der Pass letztlich freiwillig beschafft und vorgelegt worden sei (Urt. v. 27.1.2022, S. 12), nicht. Vielmehr liegt es für den Senat nahe, dass auch die äußerst kurzfristigen Duldungserteilungen und die Versagung einer Beschäftigungserlaubnis, also das Verwaltungshandeln des Beklagten, den Kläger letztlich motiviert haben, den Pass zu beschaffen und auch vorzulegen.

Das dem Kläger vorgeworfene Fehlverhalten, das sich hiernach über einen Zeitraum von deutlich weniger als zwei Jahren hinzog, liegt im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nun aber bereits mehr als drei Jahre zurück. Auch eine daran anknüpfende strafrechtliche Verfolgung des individuellen Verhaltens ist mittlerweile ausgeschlossen (siehe unten I.1.c.(2); vgl. zu dieser Verknüpfung: OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 28.2.2022 - 2 O 164/21 -, juris Rn. 31 m.w.N.). Angesichts dieser Umstände ist das Gewicht des Fehlverhaltens im zu beurteilenden konkreten Einzelfall mittlerweile derart reduziert, dass es dem Kläger nicht mit einer generalpräventiven Ausweisung noch entgegengehalten werden dürfte.

(2) Auch das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist nicht mehr hinreichend aktuell.

Ausgehend von dem verwirklichten Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liegt gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 4 StGB die untere zeitliche Grenze, bis zu der das Ausweisungsinteresse noch als hinreichend aktuell angesehen werden kann, bei drei Jahren. Angesichts der geringen Schwere der strafrechtlichen Verfehlung, die sich aus den konkreten Umständen des vorliegenden Falls (siehe oben I.1.b.(2) und c.(1)) und der strafbaren Passlosigkeit für einen Zeitraum von jedenfalls nicht mehr als zweieinhalb Jahren (siehe oben I.1.b.(2): von November 2015 bis Juni 2016 und von Januar 2018 bis Oktober 2019) ergibt, erachtet der Senat die Anwendung dieser unteren zeitlichen Grenze für angemessen.

Danach ist - ausgehend von einer Tatbeendigung mit der Ausstellung des afghanischen Nationalpasses am 23. Oktober 2019 (Blatt 161 f. der Gerichtsakte) - die anzuwendende einfache Verjährungsfrist von drei Jahren gemäß §§ 78 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 4, 78a Satz 1 StGB am 23. Oktober 2022 abgelaufen, so dass im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats auch das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG dem Kläger nicht mehr entgegengehalten werden darf.

d. Fehlt es danach schon an einem noch hinreichend aktuellen Ausweisungsinteresse, ist die im Bescheid des Beklagten vom 23. April 2018 verfügte Ausweisung rechtswidrig und aufzuheben, ohne dass es noch entscheidungserheblich darauf ankommt, ob sich der Kläger erfolgreich auf ein Bleibeinteresse im Sinne der §§ 53 Abs. 1 und 2, 55 AufenthG berufen kann und ein Ausweisungsinteresse hinter diesem zurückzustehen hat.

2. Das im Bescheid vom 23. April 2018 angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren findet eine Rechtsgrundlage in § 11 AufenthG in der zuletzt durch Art. 4a des Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 760) geänderten Fassung.

Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung und auch der Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.2.2022 - BVerwG 1 C 6.21 -, juris Rn. 21; Senatsurt. v. 6.5.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 53). Diese Maßgeblichkeit folgt bereits aus dem Charakter des Einreise- und Aufenthaltsverbots als Dauerverwaltungsakt, dessen Rechtmäßigkeit regelmäßig anhand der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gegebenen Sach- und Rechtslage zu beurteilen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.2003 - BVerwG 3 C 47.02 -, Buchholz 418.32 AMG Nr. 39 - juris Rn. 11; Senatsurt. v. 17.12.2019 - 13 LB 135/19 -, juris Rn. 24; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 58 m.w.N.). Denn die Anordnung und auch die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots trifft nicht nur eine einmalige, stichtagsbezogene Regelung. Sie untersagt vielmehr die Einreise und den Aufenthalt sowie die Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zeitraum ihrer Wirksamkeit (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 21.1.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 19).

Nach dem danach hier heranzuziehenden § 11 AufenthG aktueller Fassung ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen (Abs. 1 Satz 1), und zwar im Falle der Ausweisung gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung (Abs. 2 Satz 1). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen (Abs. 2 Satz 3). Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden (Abs. 3 Satz 1; vgl. zu diesen Neuregelungen: Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drs. 19/10047, S. 31). Bei einer auf dieser Grundlage getroffenen Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots handelt es sich um einen einheitlichen Verwaltungsakt, der nicht zwischen der Anordnung des Verbots und dessen Befristung aufgespalten werden kann (vgl. Senatsurt. v. 6.5.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 54; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.11.2019 - 11 S 2996/19 -, juris Rn. 40).

a. Hieran gemessen ist schon die von dem Beklagten in seinem Bescheid vom 23. April 2018 getroffene Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots als gebundene Entscheidung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG dem Grunde nach zu beanstanden und als rechtswidrig aufzuheben. Denn nach Aufhebung der im Bescheid des Beklagten vom 23. April 2018 verfügten Ausweisung (siehe oben I.1.) fehlt es an einer tatbestandlichen Voraussetzung für die Anordnung eines hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots.

b. Da Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ein einheitlicher Verwaltungsakt sind (siehe oben I.2.), bedarf es nach der Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots wegen fehlender tatbestandlicher Voraussetzungen für seine Anordnung keiner Ausführungen mehr zu der durch Befristung bestimmten Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots als Ermessensentscheidung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.

Der Senat äußert daher nur im Hinblick auf weitere Verfahren seine Zweifel an dem rechtlichen Ansatz, dass die Frist zur Beurteilung der Aktualität des Ausweisungsinteresses (siehe oben I.1.c.) die Dauer des an eine Ausweisung einknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht begrenzen soll (so aber BVerwG, Beschl. v. 9.5.2019 - BVerwG 1 C 14.19 -, Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 100 - juris Rn. 28). Die Beurteilung der Aktualität eines Ausweisungsinteresses erfordert die Feststellung, dass ausgehend vom Fehlverhalten des Ausländers das öffentliche Interesse an seiner Fernhaltung vom Bundesgebiet noch aktuell, mithin vorhanden ist und dem Ausländer vorgehalten werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, BVerwGE 165, 331, 335 f. - juris Rn. 18; Urt. v. 22.2.2002 - BVerwG 1 C 6.01 -, BVerwGE 115, 352, 360 - juris Rn. 22.). Hiervon dürfte sich die zur Bemessung der Dauer eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zunächst erforderliche Feststellung, wie lange die mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgten Zwecke eine Fernhaltung des Ausländers vom Bundesgebiet erfordern ("Zweckerreichung als Fristobergrenze", vgl. zur Systematik der Fristbemessung: BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 27.16 -, BVerwGE 157, 356, 363 f. - juris Rn. 23; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 9.12.2015 - 11 S 1857/15 -, juris Rn. 33; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 14.2.2013 - 8 LC 129/12 -, juris Rn. 50 ff.), inhaltlich nicht unterscheiden. Es liegt daher nahe, dass die Frist zur Beurteilung der Aktualität des Ausweisungsinteresses durchaus die Dauer des an eine Ausweisung einknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht nur beeinflusst, sondern auch begrenzt.

II. Die Kostenentscheidung umfasst die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens (13 LA 81/22) und des Berufungsverfahrens und folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.