Landgericht Hannover
Urt. v. 16.03.2009, Az.: 20 S 6/09

Anfechtung hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gegenüber den Sozialkassen über das Vermögen eines Arbeitgebers im Insolvenzverfahren

Bibliographie

Gericht
LG Hannover
Datum
16.03.2009
Aktenzeichen
20 S 6/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 37881
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGHANNO:2009:0316.20S6.09.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hannover - 11.12.2008 - AZ: 458 C 9881/08
nachfolgend
BGH - 11.02.2010 - AZ: IX ZR 73/09

In dem Rechtsstreit
...
hat die 20. Zivilkammer des Landgerichts Hannover
auf die mündliche Verhandlung vom 19.02.2009
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht Dr. ...,
die Richterin am Landgericht ... und
den Richter ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 11.12.2008 - 458 C 9881/08 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger ist Insolvenzverwalter, die Beklagte eine gesetzliche Krankenkasse.

2

Die Parteien streiten über die Rechtsfrage, ob §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV in der seit dem 01.01.2008 geltenden Fassung im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin die Anfechtung hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gegenüber den Sozialkassen ausschließt.

3

Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen, §540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO.

4

Das Amtsgericht hat die Klage des Insolvenzverwalters auf Rückzahlung von Arbeitnehmeranteilen abgewiesen. Hinsichtlich eingezogener Arbeitnehmeranteile sei die Anfechtung nach §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV ausgeschlossen. Die Anteile gehörten nicht zum Vermögen des Insolvenzschuldners, sondern zum Vermögen seiner Arbeitnehmer. Zudem habe der Kläger nicht nachvollziehbar dargetan, dass der Beklagten bei Abbuchung im Lastschriftverfahren am 29.10.2007 der Eröffnungsantrag bekannt war.

5

Der Kläger hat Berufung eingelegt.

6

Er meint, die Vorschrift des §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV sei nicht geeignet die gläubigerbenachteiligende Wirkung und damit die Anfechtbarkeit der Zahlung des Arbeitnehmeranteils im Falle der Insolvenz auszuschließen. Das Guthaben auf dem Konto der Schuldnerin gehöre ausschließlich zu ihrem Vermögen und nicht zum Vermögen der Arbeitnehmer. Für das Anfechtungsrecht sei eine fingierte Vermögenszuschreibung unerheblich. Faktisch sei der Arbeitnehmeranteil des Sozialversicherungsbeitrages direkt vom Vermögen des Schuldners an den Versicherungsträger geflossen. Eine Kenntnis der Beklagten vom Eröffnungsantrag läge vor, da es insoweit nicht auf die Abbuchung, sondern auf den Eintritt der Genehmigungsfiktion gemäß Nr. 7 Abs. 3 AGB Banken ankomme.

7

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des am 11.12.2008 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Hannover - 458 C 9881/08 - die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4.262,22 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.01.2008 zu zahlen.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Sie ist der Ansicht, dass nach §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV die Zahlung des vom Beschäftigten zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags als aus dem Vermögen des Beschäftigten erbracht gilt und bezieht sich zur Begründung auf eine Entscheidung des Landgerichts Göttingen, sowie auf die Drucksache 16/886 des Deutschen Bundestages.

10

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie hat indes keinen Erfolg.

11

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rückzahlung der Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 4.262,22 EUR aus §§129, 130 Abs. 1 Nr. 2, 143 Abs. 1 InsO. Es fehlt an der gemäß §129 Abs. 1 InsO für die Insolvenzanfechtung erforderlichen Gläubigerbenachteiligung.

12

1.

Eine Gläubigerbenachteiligung liegt vor, wenn sich die Befriedigungsmöglichkeit der Insolvenzgläubiger ohne die fragliche Handlung günstiger gestaltet hätte, insbesondere wenn das Schuldnervermögen verkürzt worden ist (vgl. Frankfurter Kommentar zurInsolvenzordnung-Dauernheim, 5. Aufl., §129 Rn. 36; Braun-de Bra, InsO, 3. Aufl., §129 Rn. 23). Eine Benachteiligung kommt dabei nur hinsichtlich solcher Vermögenswerte in Betracht, die bei Vornahme der beanstandeten Rechtshandlung zum Vermögen des Schuldners gehört haben (vgl. BGH, Urteil vom 12.05.1980 - VIII ZR 170/79 - Rn. 15). Nach der Neuregelung des §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV gehören die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung jedoch nicht zum Vermögen der Insolvenzschuldnerin.

13

2.

Gemäß §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV in der Fassung vom 19.12.2007 gilt die Zahlung des vom Beschäftigten zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags als aus dem Vermögen des Beschäftigten erbracht. Dadurch ist die insolvenzrechtliche Anfechtung der Überweisung der Arbeitnehmeranteile ausgeschlossen, weil diese nicht als dem Vermögen der Insolvenzschuldnerin zugehörig gelten.

14

a)

Soweit der BGH in seiner Entscheidung vom 08.12.2005 (Az. IX ZR 181/01 - Rn. 15) festgestellt hat, dass insolvenzrechtlich der Arbeitgeber die gesamten Sozialversicherungsbeiträge grundsätzlich aus seinem eigenen Vermögen bezahlt, bezieht sich diese Entscheidung auf die frühere Rechtslage. Durch die neu eingefügte Fiktion des §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV n.F. hat sich jedoch die Zuordnung der Arbeitnehmeranteile geändert.

15

b)

§28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV in der Fassung vom 19.12.2007 (gültig ab 01.01.2008) ist anwendbar, weil das Insolvenzverfahren der Schuldnerin nach dem 01.01.2008 eröffnet worden ist. Das Verbot der Rückwirkung greift im vorliegenden Fall nicht.

16

Auch wenn der Anfechtung Forderungen aus dem Jahr 2007 zugrunde liegen, hindert dies nicht die Anwendung der Neufassung des §28 e SGB IV. Vielmehr ist auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens abzustellen. Denn das Anfechtungsrecht entsteht mit der Vollendung eines Anfechtungstatbestandes, jedoch nicht vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (BGH, Beschluss vom 27.03.2008 - IX ZR 210/07 - Rn. 10).

17

c)

Das Amtsgericht hat zu Recht die Anfechtung der eingezogenen Arbeitnehmeranteile als nach §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV ausgeschlossen angesehen.

18

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV n.F. die Insolvenzanfechtung von Arbeitnehmeranteilen ausschließt.

19

aa)

Der Bundesgerichtshof hat ausdrücklich offen gelassen, ob der Gesetzgeber mit der Neuregelung des §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV das Ziel, eine Gläubigerbenachteiligung hinsichtlich des Arbeitnehmeranteils in der Insolvenz des Arbeitgebers auszuschließen, erreicht hat (BGH, Beschluss vom 27.03.2008 - IX ZR 210/07 - Rn. 12).

20

bb)

Der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung, der zufolge die Vorschrift des §28 Abs. 1 S. 2 SGB IV n.F. eine insolvenzrechtliche Anfechtung nicht hindert (vgl. Nachweise in BGH, a.a.O., Rn. 12), folgt die Kammer nicht. Die Argumentation, dass die Fiktion des §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV nur inter partes wirke (so LG Schwerin, Urteil vom 28.11.2008 - 6 S 100/08 -), überzeugt nicht. Soweit auf den Verstoß gegen den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung abgestellt wird (LG Kiel, Urteil vom 23.12.2008 - 4 O 97/08), ist dies vom Gesetzgeber bewusst zugunsten einer Privilegierung der Sozialversicherungsträger in Kauf genommen worden.

21

cc)

Die Kammer schließt sich vielmehr der in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung an, nach der die Insolvenzanfechtung der Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherung durch §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV n.F. ausgeschlossen ist (siehe LG Göttingen, Urteil vom 03.12.2008 - 8 O 265/08; LG München I, Beschluss vom 16.10.2008 - 20 O 12272/08; LG Kiel, Urteil vom 06.11.2008 - 9 O 128/08). Hierfür sprechen insbesondere der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und der Gesetzeszweck.

22

Sinn und Zweck der Neuregelung des §28 e SGB IV ist nach dem ausdrücklichem Willen des Gesetzgebers der Ausschluss einer Anfechtung hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gegenüber den Sozialkassen im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers (BGH, Beschluss vom 27.03.2008 - IX ZR 210/07 - Rn. 9). Dem dokumentierten Gesetzgebungsverfahren ist klar zu entnehmen, dass der Gesetzgeber durch die neu in §28 e SGB IV eingefügte Fiktion bewusst die Arbeitnehmerbeiträge im Insolvenzfall durch Ausschluss der insolvenzrechtlichen Anfechtung und unter Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung der Gläubiger durch Privilegierung der Sozialkassen sichern wollte. Zweck der Neuregelung ist, die langfristige finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme zu gewährleisten, wozu mit Blick auf die Sozialversicherungsträger das Anfechtungsrecht eingeschränkt werden soll (Bundestags-Drucksache 16/886, S. 8). Auf S. 15 der vorgenannten Drucksache des Deutschen Bundestags heißt es: "Aus diesen Gründen ist in der Insolvenz des Arbeitgebers der von ihm gezahlte Gesamtsozialversicherungsbeitrag nach den §§129 ff. InsO nicht anfechtbar, soweit es den Anteil des Beschäftigten betrifft." Auf die Bitte des Bundesrates, ob den Interessen öffentlich-rechtlicher Gläubiger im Insolvenzverfahren in Anbetracht der grundsätzlichen Gleichbehandlung aller Gläubiger in schonenderer Weise Rechnung getragen werden könne und dessen Einwand, dass alleiniger Schuldner des Gesamtsozialversicherungsbeitrags gemäß §28 e Abs. 1 SGB IV der Arbeitgeber sei (siehe S. 18 der Drucksache 16/886), hat die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung auf S. 20 der Bundestagsdrucksache darauf hingewiesen, dass die Änderung des SGB IV keine Verletzung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung darstelle, sondern lediglich bestimmte Beträge einer Anfechtung entziehe, bei denen es nicht gerechtfertigt sei, dass sie der Gesamtheit der Insolvenzgläubiger zugute kämen.

23

Dieser Gesetzeszweck ist im Wortlaut der Neufassung des §28 e Abs. 1 S. 2 SGB IV in der ab dem 01.01.2008 geltenden Fassung zum Ausdruck gekommen. Das Ziel des Gesetzgebers, nämlich die Entlastung der Sozialkassen, wird durch den Ausschluss der Anfechtung der Leistung der Arbeitnehmeranteile an die Sozialversicherungsträger auch erreicht.

24

Für die von der Kammer vertretene Auffassung spricht zudem, dass nach dem Beschluss des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 07.03.2001 (BAG - GS 1/00 - Rn. 16) der Arbeitnehmer wirtschaftlich seinen Beitragsteil aus dem ihm zustehenden Bruttoentgelt trägt, ihn also aus eigenem Vermögen finanziere und der einbehaltene Beitragsteil ein dem Arbeitnehmer verschaffter Vermögenswert sei.

25

3.

Auf das Vorliegen einer Kenntnis der Beklagten vom Eröffnungsantrag kommt es aufgrund der fehlenden Gläubigerbenachteiligung nicht mehr an.

26

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus §97 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf§§708 Nr. 10, 711 ZPO.

27

IV.

Die Kammer hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, §543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.